Mīmik

[852] Mīmik (griech.), das Vermögen, durch Mienen und Gebärden Empfindungen, Gedanken und Willen auszudrücken. Bildet sich diese allen Menschen mehr oder weniger zukommende Fähigkeit zu der Geschicklichkeit aus, gewisse Individualitäten nach ihrer äußern Erscheinung nachzubilden, so ist sie porträtierende M., die lediglich in Nachahmung besteht und, je nachdem sie körperliche oder psychische Eigentümlichkeiten andrer Personen zur Anschauung bringt, entweder somatologische oder psychologische M. sein kann. Zu jener gehört z. B. die Nachahmung körperlicher Mängel, des Hinkens, Schielens etc., zu dieser die Darstellung gewisser Charaktereigentümlichkeiten, z. B.[852] von Stolz, Furchtsamkeit, Habsucht u. Geht die M. aber darauf aus, innere Seelenzustände zum deutlichsten Ausdruck zu bringen, so ist sie als selbstschaffende, idealisierende M. eine Kunstleistung und ein Hauptmittel dramatischer Darstellung. In ihrer Verbindung mit der Redekunst ist sie entweder theatralische (dra matische) oder oratorische M. (s. Deklamation), in ihrer Verbindung mit der Musik orchestische M. oder belebte Rhythmik. Die Schönheit der mimischen Darstellung an sich, abgesehen von der damit zu erzielenden Wirkung der Rede oder der Musik, beruht zum guten Teil auf natürlicher Anlage und völliger Herrschaft über das Spiel der Gesichtsmuskeln und die Körperbewegungen, obwohl Übung und Studium viel zur Ausbildung vorhandener Anlagen beitragen können. Für die Schönheit der M. gilt als Hauptsatz: alle Gebärden müssen mit dem Charakter der zu belebenden Rede oder Musik auf das genaueste übereinstimmen und ihre Gedanken gleichsam verkörpern. Spuren mimischer Darstellungsweise lassen sich bei den meisten kultivierten Völkern des Altertums nachweisen. Bei den Griechen bildet sie einen wesentlichen Bestandteil der Orchestik und gewann bei den Römern in der Pantomimik (s. Pantomime) ihre höchste Ausbildung. Die M. der Alten war im eigentlichen Sinne plastisch, d. h. sie wirkte durch die gesamte Gestalt, während Individualität und Gesichtsmimik des Darstellers durch den Gebrauch dee Theatermasken stark eingeschränkt wurde. In der neuern Zeit war das Ziel der M., die sich als Kunst größtenteils auf die Bühne beschränkte, die möglichst ausgeführte subjektive Charakteristik. Vgl. Engel, Ideen zu einer M. (Berl. 1785, 2 Bde.); Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (Hamb. 1792); Agnese Schebest, Rede und Gebärde (Leipz. 1861); K. Michel, Die Gebärdensprache, dargestellt für Schauspieler (Köln 1886, 2 Tle.); Skraup, Katechismus der M. und Gebärdensprache (Leipz. 1892); Sittl, Die Gebärden der Griechen u. Römer (das. 1890).

Die Kunst der darstellenden M. beruht hauptsächlich auf der Nachahmung der unwillkürlichen mimischen Bewegungen, die, als Ausdruck gewisser Leidenschaften und Stimmungen, besonders in den Gesichtsmuskeln zum Vorschein kommen. Diese jedem verständliche und, wie Darwin konstatiert hat, bei allen Völkern merkwürdig gleichartige Mienensprache physiologisch zu erklären, ist erst neuerdings einigermaßen gelungen. Joh. Müller und Herm. Lotze waren noch der Ansicht, daß sich für die Veränderung der Gesichtszüge durch Affekte »weder Grund noch Zweck angeben lasse«, obwohl schon Erasmus Darwin versucht hatte, das Gebärdenspiel von natürlichen Ursachen abzuleiten. DuchenneMécanisme de la physionomie humaine«, 1862) suchte durch elektrische Reizung die Bedeutung der einzelnen Gesichtsmuskeln für das Mienenspiel festzustellen, huldigte aber, ebenso wie Ch. BellAnatomy of expression«, 1806), der teleologischen Anschauung, daß die mimischen Gesichtsmuskeln uns von der Natur als »Werkzeuge des Ausdrucks« zu dem Zweck verliehen seien, unsre Gemütsbewegungen in der dem Menschen angebornen, nicht weiter erklärbaren Weise zu äußern. Th. Piderit, dessen Arbeiten als bahnbrechend anerkannt sind, hat die physiologischen und psychologischen Gesetze des Mienenspiels eingehend abzuleiten und die komplizierten Erscheinungen desselben auf einfache Prinzipien zurückzuführen gesucht (»Grundsätze der M. und Physiognomik«, Braunschw. 1858; »M. und Physiognomik«, 2. Aufl., Detmold 1886). Da alle Vorstellungen aus Sinnesempfindungen abstrahiert sind und in ihnen wurzeln, so werden lebhafte Vorstellungserregungen (Affekte) von reflektorischen, nicht zum klaren Bewußtsein kommenden, sinnlichen Mitempfindungen begleitet, die sich durch unwillkürliche Bewegungen der zu den Sinnesorganen in Beziehung stehenden Muskeln, also hauptsächlich der Gesichtsmuskeln, zu erkennen geben. Alle mimischen Bewegungen beziehen sich entweder auf imaginäre Sinnesempfindungen oder auf imaginäre Objekte. Die durch angenehme Vorstellungen veranlaßten Gesichtsmuskelbewegungen sind derart, als sollte durch sie die Aufnahme sympathischer (angenehmer) Sinneseindrücke erleichtert und unterstützt werden; die durch unangenehme Vorstellungen verursachten sind derart, als sollte dadurch die Aufnahme disharmonischer (unangenehmer) Sinneseindrücke abgewiesen oder erschwert werden. Beispielsweise wird durch Abwärtsziehen der Augenbrauen die Stirnhaut in senkrechte Falten gelegt (eine Bewegung, die dazu dient, die Augen zu beschatten und das Schließen derselben vorzubereiten) nicht nur bei unangenehmen Lichtempfindungen, sondern auch bei unangenehmen Vorstellungen als Ausdruck des Zornes, der Verstimmung etc. (Fig. 1).

Fig. 1. Fig. 2. Beispiele der Mimik.
Fig. 1. Fig. 2. Beispiele der Mimik.

Die Augen werden aufgerissen und infolgedessen die Augenbrauen nebst der horizontal gefalteten Stirnhaut in die Höhe gezogen, nicht allein, wenn die Aufmerksamkeit durch sichtbare Gegenstände, sondern auch, wenn sie durch Vorstellungen (imaginäre Objekte) lebhaft erregt ist: Ausdruck der Überraschung und Verwunderung oder auch, in abgeschwächter Form, angestrengter und anhaltender Aufmerksamkeit (Fig. 2). Um bei unangenehmen (bittern) Geschmacksempfindungen eine Berührung der schmeckenden Zungenoberfläche mit dem Gaumengewölbe zu vermeiden, wird der Mund aufgesperrt und zugleich, durch Aufwärtsziehen der Oberlippe, diese von der Unterlippe möglichst entfernt. Sehr unangenehme (bittere) Vorstellungen geben sich deshalb durch eine Spannung des Oberlippenhebers zu erkennen. Auf solche einfache Grundzüge, die sich in mannigfachster Weise zusammenstellen und gegenseitig modifizieren können, lassen sich die meisten mimischen Ausdrucksweisen zurückführen. Die Resultate seiner Untersuchungen hat Piderit auch zur Begründung einer wissenschaftlichen Physiognomik (s. d.) benutzt. Damit war aber die Entstehung und Gleichmäßigkeit aller mimischen Bewegungen noch keineswegs erklärt. Denn wenn sich auch begreifen läßt, daß das süße und saure Gesicht seit früher Kindheit gleichmäßig zum Ausdruck der betreffenden Geschmacksempfindungen wie der entsprechenden angenehmen[853] und unangenehmen seelischen Empfindungen diente, so sind damit andre mimische Formen nicht zu erklären. Es ist das Verdienst Ch. Darwins, bewiesen zu haben, daß gewisse Grundlagen der M. (vermutlich aus ähnlichen Muskelassoziationen entwickelt) schon bei den höhern Tieren vorkommen, wie wir z. B. bei Hunden sehr wohl imstande sind, ein vergnügtes und mürrisches Gesicht zu unterscheiden. Viele Tiere drücken z. B. Wut und Haß durch Entblößen der Zähne, sei es in ganzer Reihe (Grinsen) oder durch bloßes Entblößen der Eckzähne infolge seitlichen Emporziehens der Oberlippe, aus. Da der Mensch seine Zähne doch nur noch höchst selten als Waffen im Kampfe benutzt, so muß dieses »Zähneweisen« in der Wut, das er mit dem Tier gemein hat, wohl aus Zuständen früherer Wildheit und Abstammung hergeleitet werden, und ebenso verhält es sich mit manchen andern mimischen Äußerungen, die ohne diese Annahme völlig sinnlos erscheinen. Während aber viele Äußerungen der M. auf so natürlichen Muskelassoziationen beruhen, daß sie sogar vererbt werden, scheinen andre, wie das verächtliche Hervorstrecken der Zunge, Kopfnicken und Kopfschütteln, nur konventionelle Äußerungen und Abkürzungen naheliegender Gebärden zu sein, z. B. das Kopfnicken eine Abkürzung der Verneigung, die ihrerseits eine Abkürzung des Niederwerfens ist. Der Nachahmungstrieb tut dann das Seinige, solche Gebärden festzuhalten, denn jede M. wirkt, wie vom Lachen bekannt, »ansteckend«. Vgl. Darwin, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (4. Aufl., Stuttg. 1884); Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie (5. Aufl., Leipz. 1902–03, 3 Bde.) und Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele (3. Aufl., Hamb. 1897); Henke, Vorlesungen über Plastik, M. und Drama (Rostock 1891); Mantegazza, Physiognomik und M. (deutsch, Leipz. 1900); Giraudet, Mimique, physionomie et gestes (Par. 1895); Hughes, Die M. des Menschen auf Grund voluntarischer Psychologie (Frankf. 1900); Heller, Grundformen der M. des Antlitzes (im Anschlß an Piderit, Wien 1902, mit 53 Tafeln); Rudolph, Der Ausdruck der Gemütsbewegungen des Menschen (Dresd. 1903, mit Atlas), und Literatur bei Artikel »Physiognomik«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 852-854.
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