Strafrechtstheorien

[85] Strafrechtstheorien nennt man die in der Wissenschaft aufgestellten Ansichten über den Rechtsgrund, das Wesen und die Aufgabe der Strafe. So einfach die Lösung dieser Probleme auf den ersten Blick auch scheint, so hat doch ihre Erörterung von den ersten Regungen des erkenntniskritischen Geistes bis zu unsern Tagen zu dem lebhaftesten, auch heute nicht geschlichteten wissenschaftlichen Streite geführt.

I. Man pflegt die bisher aufgestellten S. in folgende Gruppen einzuteilen: 1) Relative Theorien (Nützlichkeitstheorien), welche die Strafe als ein Mittel betrachten, durch das der Staat berechtigt ist, die ihm obliegenden Wohlfahrtszwecke zu fördern. 2) Absolute Theorien (Gerechtigkeits-, Vergeltungs-, auch Vergütungstheorien, im Unterschied von Verhütungstheorien), welche die Strafe, unabhängig von gewissen Zweckbestimmungen, als schlechthin pflichtmäßige Betätigung der im Staate waltenden sittlichen Idee auffassen. 3) Gemischte Theorien (auch Vereinigungstheorien), die sowohl die absolute Notwendigkeit der Strafe als auch ihre Zweckmäßigkeit hervorheben.

Die wichtigsten relativen Theorien waren: die Abschreckungs- oder Deterritionstheorie, wonach durch den Strafvollzug andre von dem Begehen von Verbrechen abgehalten werden sollen; die Androhungstheorie (Theorie des psychologischen Zwanges), namentlich von Feuerbach vertreten, wonach die Menschen durch die Strafandrohung von verbrecherischen Handlungen abgeschreckt werden sollen, von Bauer Warnungstheorie genannt. Hierher gehören ferner die sogen. Präventionstheorie, die den einzelnen Verbrecher durch die Strafe von der Begehung weiterer Verbrechen abhalten will, also eine »Spezialprävention« im Gegensatz zu der »Generalprävention« der Androhungstheorie beabsichtigt, namentlich von Grolman aufgestellt; dann die Besserungstheorie Röders, wonach die Sicherung der Gesellschaft durch Umstimmung des verbrecherischen Willens vermöge der strafweisen Nacherziehung erreicht werden soll; endlich die Theorie des durch Strafe zu leistenden moralischen Schadenersatzes von Welcker und die Theorie der in der Strafe bewirkten gesellschaftlichen Notwehr gegen das Verbrechen, die schon von Beccaria und von Blackstone im 18. Jahrh. aufgestellt und in Deutschland von Martin verteidigt ward. – Zu den absoluten Theorien zählen vorzugsweise: die Wiedervergeltungstheorie Kants, gestützt auf den kategorischen Imperativ der Gleichheit zwischen Strafübel und Verbrechensübel (nachmals weiter entwickelt von Henke, Zachariä, Berner), und die Gerechtigkeitstheorie Hegels, wonach das Verbrechen Negation des Rechtes und die Strafe Negation der Negation, also Affirmation des Rechtes, sein soll. Auch die Theorie der religiösen Sühnung der göttlichen Weltordnung, wie solche von ultramontanen oder lutherisch-orthodoxen Rechtslehrern verfochten wird, gehört hierher. – Die Vereinigungstheorien (vertreten von Abegg, Berner, Heinze, Merkel, Allfeld u. a.) beruhen auf seiner doppelten Entwickelungsreihe. Entweder wird die Nützlichkeitsrelation als Grund der Strafe anerkannt und der Verfolgung der Nützlichkeitszwecke eine Schranke an der Gerechtigkeitsidee gegeben, oder die Gerechtigkeit soll das sittliche Fundament der Strafe abgeben, wobei aber die Zweckwidrigkeit eine Grenze für die Verwirklichung der Rechtsidee bezeichnet. Endlich hat man[85] auch (Abegg) den Identitätsbeweis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit auf dem Boden des Strafrechts zu führen unternommen.

II. In dem Widerstreit der Ansichten sind zunächst die folgenden Sätze festzuhalten: 1) der Rechtsgrund der Strafe (s. Strafrecht) liegt in ihrer Notwendigkeit für die Aufrechthaltung der Rechtsordnung (also nicht nur in ihrer Nützlichkeit). 2) Das Wesen der Strafe liegt in ihrem Begriff (s. Strafe); sie ist ein Eingriff in die Rechtssphäre des Verbrechers, der wegen des begangenen Verbrechens gegen ihn verhängt wird. 3) Die Aufgabe (der Zweck) der Strafe ist Aufrechthaltung der Rechtsordnung. In diesen Sätzen können sich die Anhänger der verschiedensten S. begegnen. Der Zweifel beginnt erst mit der nähern Untersuchung der Frage, wieso denn durch die Strafe die Aufrechthaltung der Rechtsordnung bewirkt werden kann, bez. bezweckt werden soll. Hier sind zwei extreme Standpunkte möglich: a) die Strafe erreicht ihren Zweck, indem sie, als Gleichung des Verbrechens, die im Volke herrschenden sittlichen Werturteile zum Ausdruck bringt. Das ist der Kern der heutigen Vergeltungstheorie. Ihr erscheint daher die objektive Bedeutung der Tat als das Entscheidende: Strafe und Sicherungsmaßregeln (gegen Geisteskranke etc.) sind ihr begriffliche Gegensätze; mit dem Strafvollzug vermag sie nichts anzufangen. b) Die Strafe erreicht ihren Zweck durch Bekämpfung des Verbrechens in der Person des Verbrechers, zum Schutze der Rechtsordnung (Schutzstrafe). Je nachdem es sich dabei um Gelegenheits- (Augenblicks-) oder Gewohnheits- (Zustands-) Verbrecher handelt, ist der Zweck der Strafe ein andrer. Der Gelegenheitsverbrecher soll durch die Strafe abgeschreckt, der besserungsfähige Gewohnheitsverbrecher gebessert, der unverbesserliche Gewohnheitsverbrecher unschädlich gemacht werden. Ihr erscheint die subjektive Bedeutung des Täters als das Entscheidende; die Strafe ist eine Unterart der Sicherungsmittel; im Strafvollzug liegt nach ihr das Schwergewicht. c) Vermittelnde Ansichten ergeben sich in doppelter Gestalt. Einerseits, indem die Vergeltungstheorie den Strafvollzug für die persönlichen Strafzwecke zur Verfügung stellt; anderseits, indem die Vertreter der Zweckstrafe den überlieferten sittlichen Werturteilen einen gewissen Einfluß auf Art und Maß der Strafe einräumt. Letzteres ist im allgemeinen auch der Standpunkt der internationalen Kriminalistischen Vereinigung (s. d.) und ihrer hervorragendsten Vertreter. Vgl. die Darstellungen des Strafrechts (s. d.); v. Liszt, Der Zweckgedanke im Strafrecht (in der »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft«, Bd. 3, Berl. 1883); Kohler, Das Wesen der Strafe (Würzb. 1888); R. Löning, Über die Begründung des Strafrechts (Jena 1889); A. Merkel, Vergeltungsidee und Zweckgedanke im Strafrecht (Straßb. 1892); R. Schmidt, Die Aufgaben der Strafrechtspflege (Leipz. 1895); H. Sen sse rt, Was will, was wirkt, was soll die staatliche Strafe? (Bonn 1897); »Vergeltungsstrafe, Rechtsstrafe, Schutzstrafe«. Vier Vorträge von v. Liszt, Birkmeyer, Lipps und Kraepelin (Heidelb. 1906).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 85-86.
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