Ninĭve

[962] Ninĭve, die alte, der Sage nach von Ninos gegründete, ungeheuer große Hauptstadt des Assyrischen Reiches; sie lag am Ostufer des Tigris, dem heutigen Mosul gegenüber u. war durchflossen von dem hier mündenden Flüßchen Khôser, welches der Stadt das Trinkwasser lieferte. N. war schon seit Sardanapals Zeiten theilweise zerstört u. fand ihren völligen Untergang durch Kyaxares, den Vater des Astyages; gleichwohl scheint es auch später noch (ob aber an derselben Stelle, ist unentschieden) eine Stadt dieses Namens gegeben zu haben, denn Ptolemäos setzt sie an das Ostufer des Tigris einige Meilen nördlich von der Mündung des Lykos, u. Tacitus u. Ammianus sprechen von ihr als von einem zu ihrer[962] Zeit noch vorhandenen Orte. Wahrscheinlich wurde diese spätere Stadt von den Fürsten von Adiabene unter der parthischen Herrschaft als ihre Residenz erbaut u. der Namen der alten Hauptstadt auf sie übertragen. Die Nachrichten der Alten über die Größe N-s sind, auch wenn man die weitläufige Bauart der orientalischen Städte in Anschlag bringt, doch wohl übertrieben. Nach dem Propheten Jonas soll ihr Umfang drei Tagereisen betragen haben; Diodoros Sik. gibt ihr sogar einen Umfang von 480 Stadien (= 12 deutschen Meilen) u. läßt ihre Mauern 100 Fuß hoch u. so dick gewesen sein, daß drei Wagen neben einander darauf fahren konnten; Strabo sagt nur, daß N. selbst noch größer als Babylon gewesen sei. In späteren Zeiten war N. vollständig in Vergessenheit gerathen, man kannte nicht einmalden Ort, wo die Stadt gestanden hatte, mit Bestimmtheit. Das Verdienst, die Blicke des Abendlandes der halbvergessenen, doch unter Jahrtausende langer Zerstörung nicht völlig vernichteten Herrlichkeit von N. wieder zugewendet zu haben, gebührt dem Franzosen Botta, Consul zu Mosul, welcher die ersten Ausgrabungen veranstaltete, bei denen er von dem Architekten Flandin unterstützt wurde. Der so gegebenen Anregung folgten dann Place, Bayard, Rawlinson, vor Allen Mich, britischer Consul zu Mosul, sodann Lynch u. Ainsworth, Badgar, Fletcher, Grant, Perkins, Smith, Shiel u.a. Die erste genaue topographische Aufnahme des Ruinenfeldes.u. zwar im Auftrage der Ostindischen Compagnie, lieferte der britische Marineoffizier Felix Jones, welcher mit Hyslop, Arzte des britischen Consulats in Bagdad, auf Grund trigonometrischer Aufnahmen die Ruinenstätten von Tigris zuerst kartographisch niedergelegt hat. Die Genauigkeit der hierdurch festgestellten Maße erlaubt es um so bestimmter die Übertreibungen in den Angaben der alten Schriftsteller über die Größenverhältnisse der alten Königsstadt zu erkennen. Die Höhe der Stadtmauer gegen den durchschnittlich 200 Fuß breiten, in Sandstein gehauenen Graben beträgt, wo sie am vollständigsten erhalten ist, 46 Fuß, ihr Gesammtumfang 39,600 englische Fuß (also etwa 16,000 Schritte od. 1(Meile), der Flächeninhalt des so umschlossenen Raumes 1800 englische Acres (also etwa genau eben so viel als der von Kairo mit seinen 300,000 Ew.). Trotzdem kann vielleicht die Bewohnerzahl der alten Stadt auf 6–800,000 Ew. angenommen werden, da sich außerhalb der Stadtmauer noch weitläufige Vorstädte sowohl am Tigris als im Thale des Khôser erstreckt haben werden. Im Innern der Stadtmauern befinden sich zwei, der Annahme nach künstlich errichtete Hügel, von denen der größere, Koyundjyk, 96 Fuß hoch ist u. außer anderen Ruinen den Palast Sanherib's trägt, während der kleinere, Nebi-Iûnus, wenig niedriger ist u. in einer Moschee das sogen. Grab des Propheten Jonas enthält. Die Mauerbauten der Stadt sind aus Luftziegeln, die Paläste mit Marmorplatten bekleidet; die Thüren der Gebäude liegen sich stets genau gegenüber, die hinteren Zimmer haben keine besonderen Eingänge, von Feustern u. Decken hat man keine Spuren gefunden, weshalb man glaubt, daß das Licht von oben eingefallen ist. Die Sculpturen an den Wänden stellen im Innern Kämpfe, Jagden, Lustschießen, Feste, Aufzüge, Gastmäler u. dergleichen dar, an den äußeren Façaden erscheinen Figuren von seltsamen Zusammenstellungen menschlicher u. thierischer Formen. Auch Malereien hat man entdeckt u. viele Geräthschaften von Metall, Elfenbein, Marmor u. Glas gefunden. Die Inschriften sind in Keilschrift (s.d.) ausgeführt. Viele der aufgefundenen Gegenstände sind in das Museum zu Paris, noch weit mehr aber in das B ritische Museum zu London gebracht worden, s.u. Assyrien (Ant.) u. vgl. Tuch, De Nino urbe, Lpz. 1845; B otta u. Flandin, Monument de Ninive, Par. 1846–50, 5 Bde.; A. Layard, The monuments of Nineveh, Lond. 1849; Derselbe, Nineveh and its remains, ebd. 1849, 2 Bde. (deutsch von Meißner, Lpz. 1850); Derselbe, A popular account ot discoveries at Nineveh (deutsch von Meißner, Lpz. 1852); Bonomi, N. and its palaces, Lond. 1852; A. Layard, Discoveries in the ruins of Nineveh and Babylon, Lond. 1853 (deutsch von Zenker, Lpz. 1856); Derselbe, A second series of the monuments of N.; Weißenborn, Ninive u. sein Gebiet, Erf. 1851; Vaux, Nineveh and Persepolis, 3. A., Lond. 1851 (deutsch von Zenker, Lpz. 1852, 2. A. 1856).

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 962-963.
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