Supernaturalismus

[336] Supernaturalismus heißt auf dem Gebiete des religiösen Glaubens diejenige Denkart, nach welcher die Religion als aus der Quelle unmittelbarer göttlicher Offenbarung hergeflossen angenommen wird. Nach ihr erscheint die christliche Religion als eine solche, die nicht durch das natürliche Erkenntnißvermögen, die Vernunft, aufgefunden, sondern die den Menschen auf dem Wege eines besondern göttlichen Unterrichts mitgetheilt worden ist, durch das geheimnißvolle Einwirken des göttlichen Geistes auf den Menschengeist, durch den Mund gottgesandter Boten, ja die Gott selbst durch Christus, dem als Mensch erschienenen Gottessohne, zur Erfüllung des ewigen und unerkannten Rathschlusses seiner Liebe den Menschen verkündigt hat. Der Rationalismus (s. Rational) unterscheidet sich daher von dem Supernaturalismus besonders durch seine Annahme über die Art, wie sich Gott dem Menschen offenbart haben soll. Dem Supernaturalismus ist der gesammte Inhalt des Christenthums ein übervernünftiger, der Vernunft unerfindbarer, welcher selbst da, wo er den Denkgesetzen widerspricht, vermöge seines auf den göttlichen Ursprung gegründeten Ansehens, den vollsten Glauben verdient. Aber nicht allein daran ist dem Supernaturalismus genug, daß er die Heilsanstalt des Christenthums als durch Wunderkraft ins Leben getreten betrachtet, er läßt sie auch durch Wunderkraft vermittelst Wiedergeburt durch den h. Geist zum Ziele gelangen; eine Heilsanstalt, die also sowol im Ganzen als im Einzelnen durch Übervernünftigkeit wirkt. Diese Übervernünftigkeit wird dann durch den Sündenfall (s. Erbsünde) bedingt, in dessen Folge die natürliche Kraft des Menschen zum Guten geschwächt und unzureichend geworden ist, sodaß nicht mehr die gemeine, sondern nur die göttlich erleuchtete Menschenvernunft die göttliche Wahrheit im Glauben und Handeln zu erreichen vermag. Sucht der Supernaturalismus, wie er den unbedingten Glauben an das Übervernünftige im Christenthum setzt, die Wahrheit desselben mit der Vernunft zu erkennen und derselben anzueignen, so heißt er rationaler Supernaturalismus, doch kann er sich bei dieser Rationalität oder Vernünftigkeit natürlich nur auf die Möglichkeit und Nothwendigkeit des Verstandesgebrauchs beziehen, indem eigentlicher Vernunftgebrauch bei einer nach allen Seiten stattfindenden Übervernünftigkeit nicht blos unnöthig, sondern selbst Misbrauch ist. Auch sind bei der vorausgesetzten gänzlichen Untüchtigkeit der gemeinen Vernunft und des gemeinen Gewissens, wie die strengen Supernaturalisten Harms, Sartorius und Hengstenberg rühmend bekennen, Vernünftigkeit und Gewissenhaftigkeit keineswegs die nothwendigen und sichern Erfodernisse und Kennzeichen der religiösen Wahrheit. Heben wir nun die den Supernaturalismus als einer besondern Denkweise über das Christenthum eigenthümlichen Sätze hervor, so ist es das Bekenntniß des dem Menschen tief inwohnenden sittlichen und geistigen Verderbens, der Glaube an Christus, den zum Heile und zur Rettung der Menschheit erschienenen Gottessohn, die feste Zuversicht der Seligkeit, bedingt durch den aus gänzlicher Verleugnung seiner selbst hervorgegangenen Glauben an Christus und sein beseligendes Wort, ein Glaube, der zwar den Menschen durchgehends der eignen Selbständigkeit und Würde beraubt und ihn vor dem Kreuze Christi zur tiefsten Demuth führt, statt des eignen Geistes ihm aber auch den Geist Christi gewinnen läßt, das fröhliche Gottvertrauen, den freien Gehorsam der Liebe, Langmuth, Demuth, Freundlichkeit, Gütigkeit, das Leben und die herrliche Freiheit der Kinder Gottes. So wahrhaft der Supernaturalist in dem Christenthum eine höhere, der menschlichen Vernunft unerreichbare Heilsanstalt erkennt, von so tiefer Ehrfurcht ist er gegen die h. Schrift durchdrungen, nicht als eines ausgezeichnet menschlichen, sondern als eines im eigentlichen Sinne göttlichen Buches, aus welchem allein er redlich und wahr, unverfälscht und unverkümmert, ohne Beimischung und Zuthun der eignen Weisheit, die lautere christliche Wahrheit finden will. Aber gerade die große Verehrung gegen die h. Schrift, sowie das im Einzelnen Geheimnißvolle und der Vernunft Unbegreifliche ihrer Lehren, das ist es, wovon dem Supernaturalismus Gefahr droht und was ihn den Angriffen und der Verachtung seiner Gegner ausgesetzt hat. Der auf fremdes Ansehen, das göttliche Ansehen der h. Schrift gegründete Glaube ist, wenn ihn nicht die innerste Überzeugung der Frömmigkeit gewann, ein bloßes Fürwahrhalten, das besonders an die von der Vernunft als Geheimnisse bezeichneten Lehren des Christenthums sich anschließend, für das Leben ohne Erfolg ist und den schreiendsten Widerspruch in demselben zurückläßt, und was im Christenthume Geist und Leben, Freiheit und Wahrheit sein soll, das droht in seinem Misbrauche Knechtschaft des todten Buchstabens zu werden. Ebenso wenig vermag sich der Supernaturalismus, da ihm einzig daran liegt, ob etwas in der h. Schrift enthalten sei oder nicht, nicht aber ob es vernunftangemessen und in Übereinstimmung stehend mit ihrem übrigen Inhalte, zur Wissenschaft zu erheben, und strenge Supernaturalisten erklären die Wissenschaftlichkeit für etwas nicht durchaus Nothwendiges, berechnet theils für die dem Gnadengeiste stets widerstrebende Sinnlichkeit des eignen Verstandes, theils für die geistige Unempfänglichkeit Derer, die draußen sind, da im wahrhaft Gläubigen Das, was Glaube sei, unmittelbar gewiß sei und nicht erst der Entwickelung zur Einheit und Consequenz der Wissenschaft bedürfe. Es ist aber auch Verstandesfolgerichtigkeit eher ein Mangel als ein Vorzug einer Religionsform, nicht sowol weil die Religion als Sache des Herzens und des Gemüths mehr dem Gefühle als dem forschenden Verstande begreiflich ist, im Bereiche des Gefühls aber schon menschlicherweise Räthsel und Dunkelheiten vorherrschend sind, sondern auch weil eine ihres geschichtlichen und nationalen Gewandes entkleidete Religion den Anknüpfungspunkt für das Volk verliert. Es hat aber auch der Rationalismus in seinem Kampfe gegen den Supernaturalismus sich grober Verstöße schuldig gemacht. Denn, wiewol der gesunden Vernunft allein vertrauend, hat es ihm dennoch wenig Überwindung gekostet, die außerchristlichen Offenbarungen zu einem Gewebe menschlicher Klugheit herabzusetzen, seinem angeblich christlichen Vernunftthum aber das Ansehen einer von der Vorsehung besonders geleiteten und entwickelten, also doch gewissermaßen geoffenbarten Religion zu geben. Mag nun aber auch der Supernaturalismus in seinem Grunde durch die h. Schrift vollkommen gerechtfertigt sein, mag er durch alle Jahrhunderte in der Kirche die Herrschaft geführt und in der Reformation das göttliche Ansehen des Christenthums siegreich gegen Menschensatzung vertheidigt haben, immer war es ein Fortschritt, daß im vorigen Jahrhundert durch den Einfluß der Philosophie in der Kirche eine Richtung vorbereitet wurde, [336] aus welcher der Rationalismus als Feind des Herkömmlichen, des positiv Christlichen hervorging. Der zwischen Rationalismus und Supernaturalismus mit der größten Erbitterung geführte Streit, in welchem sich selbst Stimmen zur Verweisung der rationalistischen Gegenpart aus der Kirche unter dem Einschreiten der weltlichen Behörden erhoben, hat im Einzelnen vieles Nachtheilige gewirkt, aber im Ganzen ist er für die Kirche ein wohlthätiger Fortschritt gewesen, indem er sie von den Fesseln einer starren Orthodoxie, von der Knechtschaft eines drückenden Buchstabenjoches erlöste und zur Anbetung Gottes in Geist und Wahrheit weiter hinleitete.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 336-337.
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