Voltaire

Voltaire

[624] Voltaire (Franç. Marie Arouet de), der einflußreichste franz. Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, der 50 Jahre an der Spitze der franz. Literatur seinen Platz behauptete und besonders auf die Bildung der höhern Kreise der Mit- und Nachwelt außerordentlich eingewirkt, verdammt von den Einen und namentlich von Pfaffen und Frömmlern, aber auch gefeiert von seinen berühmtesten und hochgestelltesten Zeitgenossen, z.B. von Friedrich dem Großen und Katharina II., von Goethe als der höchste nationalfranz. Schriftsteller charakterisirt, dem er kaum eine der Eigenschaften des vollendeten Autors abzusprechen wagt, der dritte tragische Dichter der Franzosen, außerdem Dichter in verschiedenen Gattungen, auch im Roman, Philosoph, Satiriker, Geschichtschreiber, war am 20. Febr. 1694 zu Châtenay bei Sceaux geboren.

Sein Vater war sehr vermögend, erst Notar und zuletzt Schatzmeister bei der Rechnungskammer und hieß nur Arouet, und erst als Jüngling legte sein Sohn den Namen de V. sich selber bei. So schwächlich bei der Geburt, daß er erst neun Monate später getauft werden konnte, entwickelten sich doch sehr früh die ungewöhnlichen [624] Geisteistesgaben V.'s, der im Jesuitencollegium Ludwig's des Großen zu Paris seine erste gelehrte Bildung erhielt. Allein die geistlichen Väter vermochten seinen aufstrebenden Geist nicht in die gewöhnlichen Formen zu zwängen und erzogen sich an ihm einen ihrer furchtbarsten Gegner; denn ihr geisttödtender Religionsunterricht hat gewiß nicht weniger als der frühe Einfluß persönlicher Berührung mit geistreichen Lebemännern aus den vornehmsten Kreisen dazu beigetragen, V. zum entschiedensten Widersacher des geistlichen Despotismus und des demselben günstigen röm. Katholicismus, sowie überhaupt aller positiven Religion zu machen. Deshalb war er aber keineswegs Atheist und würde als begeisterter Vorkämpfer für die Rechte der Menschheit und geistigen Freiheit noch weit heilsamer gewirkt haben, hätten ihn Launenhaftigkeit und Leichtsinn weniger oft das wahrhaft Religiöse und den Aberglauben verwechseln, darum das Eine wie das Andere die Zielscheibe seines ausgelassenen Spottes werden lassen. Sein Vater hatte ihn zum Studium der Rechte bestimmt, das er aber bald aufgab und sich der Dichtkunst, dem Studium der Philosophie und der Geschichte widmete. Nach Ludwig XIV. Tode brachte ihn der Verdacht, Verfasser eines Spottgedichts auf die Regierung zu sein, für beinahe ein Jahr in die Bastille, wo er seine erste Tragödie »Ödipus« verfaßte, die 1718 mit großem Beifall in Paris aufgeführt ward. Dieser Erfolg versöhnte ihn mit seinem Vater und stimmte den damaligen Regenten, Herzog von Orleans, günstig für ihn. Während einer Reise nach Holland lernte V. den verbannten Rousseau kennen, zerfiel aber bald gänzlich mit ihm. Nach seiner Rückkehr brachten ihn 1725 allerlei verdrießliche Händel wieder in die Bastille, und bei seiner Freilassung ward er aus Frankreich verbannt. Er ging jetzt auf mehre Jahre nach England, wo bei dem Studium der engl. Philosophen. und der Landesverfassung seine Ansichten von den politischen, kirchlichen und gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit sehr an Tiefe gewannen. Dort ließ er auch seine »Henriade« (ein Gedicht, welches die Geschichte König Heinrich IV. schildert), mit ansehnlichem Gewinn drucken, schrieb sein »Leben Karl XII. von Schweden« und außer mehren Anderm, »Philosophische Briefe«, die wegen der darin enthaltenen Ausfälle auf die Hierarchie und den Katholicismus, in Paris auf Befehl des Parlaments vom Henker verbrannt wurden. Indessen kam er doch 1730 nach Paris zurück, wo er sich mit glücklichen Handelsunternehmungen schnell ein ansehnliches Vermögen erwarb, sodaß er nach Beerbung seines Vaters und seines Bruders gänzlich unabhängig leben und manches unbemittelte Talent großmüthig unterstützen konnte. Er ließ seine in England verfaßte Tragödie »Brutus« aufführen, auch »Zaire« machte Glück, sein »Cäsar« aber wurde verboten, und da V. sogar seine Freiheit wieder bedroht sah, ging er zunächst unter fremdem Namen nach Rouen und lebte dann bis 1739 bei seiner gelehrten Geliebten, der Marquise du Châtelet zu Cirey, in Lothringen, wo er einige philosophische Schriften und mehre Tragödien vollendete. Friedrich der Große hatte als Kronprinz schon mit V. in Briefwechsel gestanden, daher dieser bei dessen Thronbesteigung nach Berlin geschickt wurde, um den jungen König auch politisch für Frankreich zu gewinnen und auch eine, obwol nur vorübergehende, Allianz mit Preußen bewirkte. Dies und vielleicht mehr noch ein dem Hofe schmeichelndes Gelegenheitsstück zur Vermählung des Dauphin, sowie die Gunst der Maitresse Pompadour, erwarben endlich dem längst durch ganz Europa berühmten Dichter und Schriftsteller 1746 eine Stelle in der franz. Akademie, das Amt eines Hofhistoriographen und die Ernennung zum Kammerherrn. Erst 1750 gab er den wiederholten Einladungen Friedrich's des Großen an seinen Hof nach, erhielt Wohnung und Tafel im königl. Schlosse, den Kammerherrnschlüssel, einen Orden, ein Jahrgeld von Könige blos bei seinen geschichtlichen, dichterischen und philosophischen Arbeiten zur Hand gehen sollte, oder mit V.'s eignen Worten, des Königs literarische Wäsche zu besorgen hatte. Indeß hatte dieses Verhältniß keinen Bestand, da beide Männer für eine solche Vertraulichkeit zu groß waren und Zwischenträgerei sowie literarische Streitigkeiten V.'s dasselbe störten, daher dieser 1753 Berlin verließ. Die Rückkehr nach Frankreich ward ihm jedoch wegen des inzwischen bekannt gewordenen Gedichts »Das Mädchen von Orleans« verwehrt, und nachdem er sich an mehren Orten, zuletzt auf dem Lande bei Genf aufgehalten hatte, kaufte er das durch ihn weltberühmt gewordene Landgut Ferney im Ländchen Gex, nach dem er auch »Philosoph von Ferney« genannt wird. Dort verlebte er die letzten 20 Jahre in würdiger Muße, erbaute ein stattliches Schloß, gründete eine kleine Stadt, baute eine Kirche, unterstützte seine Unterthanen und viele Unglückliche, und war als Schriftsteller unermüdlich thätig. Von allen Seiten erhielt er Ehrenbezeigungen, kostbare Geschenke und die Besuche der ausgezeichnetsten Reisenden, welche in seine Nähe kamen; um so tiefer schmerzte es ihm, daß Kaiser Joseph II. ihn vorbeiging. Dabei führte er einen ausgedehnten [625] Briefwechsel, seit 1757 auch wieder mit Friedrich II. Im J. 1778 ging der greise Dichter endlich wieder nach Paris, wo die öffentliche Meinung und was auf Wissenschaft und aufgeklärte Bildung Anspruch machte, ihm die ungemessensten Huldigungen darbrachte. Im Théâtre français wurde seine Büste und er selbst gekrönt; allein der 84jährige Greis ward von allen diesen Festlichkeiten und der veränderten Lebensweise so angegriffen, daß er erkrankte, eines Tages schwermüthig ausrief: »er sei blos nach Paris gekommen, um Ehre und Grab zu finden«, und im Mai 1778 starb. Da er nicht wie ein katholischer Christ verschieden war, verweigerte der Erzbischof ihm in Paris ein ehrliches Begräbniß und seine Leiche ward deshalb im Stillen nach der Abtei Scellières (zwischen Troyes und Noyent) gebracht und bestattet. Im J. 1791 ließ aber die Nationalversammlung V.'s Asche nach Paris holen und feierlich im Pantheon (s.d.) beisetzen. Von seinen Werken sind im Ganzen (in 100, in 75, 70, auch in 8 und in 2 Bänden), sowie von einzelnen derselben, im wörtlichen Sinne zahllose Ausgaben verbreitet. Seine berühmtesten Trauerspiele sind außer den schon genannten: »Catilina«, »Orest« »Merope«, »Alzire«, »Mohammed« und »Tankred«, welche letztere Goethe verdeutscht hat. Ganz besonders glänzt V.'s Genie in den komischen Romanen: »Candide« (der die Leibnitz'sche Lehre von der besten Welt lächerlich machen soll), »Mikromegas« und »Zadig«; der Mangel an Tiefe macht sich für unsere Zeit besonders in seinen philosophischen und historischen Schriften fühlbar.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 624-626.
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