Brasilische Literatur

[342] Brasilische Literatur. Lange Zeit hindurch nur ein bürstiger Zweig der portugiesischen, hat sich die b. L. in der neuesten Zeit zu einer gewissen Selbständigkeit zu entwickeln begonnen. Die ersten Keime einer literarischen Kultur kamen nach Brasilien durch die jesuitischen Missionare. Besonders der Pater José de Anchieta (1553–97) bereitete den Boden durch Abfassung von religiösen Schriften, Gedichten, Briefen und dramatischen Mysterien in lateinischer, spanischer, portugiesischer und in der Tupisprache. Das erste größere weltliche Gedicht ist die »Prosopopéa« von Bento Teixeira Pinto. Zu den frühesten eigentlichen Dichtern des Landes, die aber noch bloße Nachahmer der Portugiesen und Spanier waren, gehören die Brüder Eusebio und Gregorio de Mattos (17. Jahrh.) und Manoel Botelho de Oliveira (gest. 1711). Schon mehr lokale Färbung tragen die Werke des Dichters Manoel de Santa Maria (geb. 1704) und des Historikers Rocha Pitta (gest. 1738). Nachdem 1763 die Residenz des Vizekönigs von Bahia nach Rio de Janeiro verlegt worden, ward letztere Stadt zu einem Mittelpunkte der Bildung, wo schöngeistige und höfisch gelehrte Akademien entstanden, die (wie namentlich die sogen. Arcadia ultramarina) maßgebend, aber nicht vorteilhaft auf die literarische Produktion einwirkten. Sie erhielt einen höfisch-akademischen Ton und erging sich im panegyrischen Genre. Gleichzeitig erstand in der aufblühenden und politisch regen Provinz Minas Geraës eine Dichterschule, die auch in literarischer Hinsicht eine Emanzipation vom Mutterland anstrebte, ihre Stoffe vorzugsweise aus der Natur, den Sitten und der Geschichte Brasiliens schöpfte und die Ureinwohner berücksichtigte. Zu diesen Dichtern (den sogen. poetas mineiros) gehören: I. Basilio da Gama (gest. 1795) mit seinem Epos »Uruguay« und José de Santa Rita Durão (gest. 1784) mit der Dichtung »Caramurú«; ferner der Lyriker Manoel da Costa (gest. 1790), der Mulatte Ignacio da Silva Alvarenga (gest. 1814) und der talentvolle Thomaz Ant. Gonzaga (gest. 1809), Verfasser echt volkstümlicher Lieder (»Lyras« und »Marilia de Dirceu«). Sonst sind aus jener Zeit besonders Figueiredo Aranha (gest. 1811), J. J. da Silva (geb. 1704) und Caldas Barbosa (gest. 1800) zu erwähnen. Des letztern »Viola de Lereno« enthält Vierzeiler (»Modinhas«), die noch heute im Volksmunde leben. Erst mit der Übersiedelung des portugiesischen Hofes nach Rio de Janeiro (1808), noch entschiedener aber mit der Errichtung eines selbständigen Reiches Brasilien (1822) wurde der Grund zur literarischen Selbständigkeit des Landes gelegt. Die Poesie nimmt zuerst einesteils einen spezifisch christlichen Charakter an und entlehnt ihre Stoffe und Bilder dem katholischen Glauben, statt, wie bisher, der Mythologie der Alten, eine Richtung, die wir von Ant. Pereira de Souza Caldas (gest. 1814), dann besonders von Francisco de São Carlos (gest. 1829) und José Eloy Ottoni (gest. 1851) vertreten finden. São Carlos ist Verfasser eines religiösen Epos über Mariä Himmelfahrt: »A assumpção«. Anderseits wird in patriotischen und politischen Gedichten das nationale Element nachdrücklich betont, so in den Poesien des berühmten Staatsmannes Andrada e Silva (gest. 1838) und seines Zeitgenossen Fr. Vilella Barboza (gest. 1846), dessen »Cantata à Primavera« und Elegie auf den Tod Dom Pedros I zu den Perlen der ältern brasilischen Literatur gehören. Von den übrigen Dichtern dieser Epoche leisteten Hervorragendes: Dom. Borges de Barros (gest. 1855), ein Sänger der Liebe und Schönheit; Jan. da Cunha Barboza (gest. 1846), der Schilderer reizender Naturszenerien; Alvaro Teixeira de Macedo (gest. 1849), Verfasser des satirischen Epos »A festa de Baldo«; Bernardino Ribeiro, die Brüder Queiroga und Manuel Monteiro, die als Vorläufer der Romantik anzusehen sind. Der Ruhm aber, eine wirklich nationale Dichterschule Brasiliens gegründet zu haben, gebührt José Gonçalves de Magalhães (1811–82), der mit seinen »Suspiros poeticos« und »Mysterios« auf lyrischem Gebiet, außerdem aber auch als erzählender und besonders als dramatischer Dichter bahnbrechend wirkte. Sein Epos »Die Verbündeten von Tamayo« und die Tragödien »Antonio José« und »Olgiato« brachten den brasilischen Nativismus zu vollem Ausdruck. Unter seinen Nachfolgern gehören Manoel de Araujo Porto-Alegre (1806–79) als episch beschreibender Dichter, Antonio Gonçalves Dias (1823–64) als Lyriker, J. Manoel de Macedo (geb. 1820) als Tragödiendichter und Romanschriftsteller (»Moreninha«) zu den bedeutendsten. Geschätzt wurden auch Manoel Odorico Mendes (1799–1864) als Übersetzer von Homer und Vergil, Alvares de Azevedo (1831–52), Ant. Gonçalves Teixeira e Souza (geb.[342] 1812), der Verfasser trefflicher »Canticos« und beliebter Romane, Joaquim Norberto de Souza e Silva (geb. 1820), der Fabeldichter Joaquim José Teixeira, der Komödiendichter Luis Carlos Martins Penna u. a. Unter den Prosaisten zeichneten sich aus: Pereira da Fonseca (gest. 1848, epigrammatische Maximen), Antonio de Moraes e Silva (gest. 1820) als geschmackvoller Übersetzer, die Historiker J. Manoel Pereira da Silva (geb. 1818), A. de Varnhagen (1816–78), Verfasser einer »Historia geral do Brazil«, und J. Francisco Lisboa.

Um 1870 vollzog sich auch in Brasilien, das den europäischen Strömungen noch immer folgt, der Umschwung vom Romantischen zum Realistischen, Wissenschaftlichen und Kritischen. Hauptverfechter der neuen Richtung war Sylvio Romero, sowohl in seinen Originaldichtungen: »Cantos do fim do seculo« (1878) und »Ultimos harpejos« (1883), als auch in folkloristischen Sammlungen (s. unten) sowie in Arbeiten auf dem Gebiete der Philosophie, Ethnographie und Literaturgeschichte: »Philosophia no Brazil«, »Ethnologia selvagem« (1878), »A litteratura brazileira e a critica moderna« (1880) und »Ensaios de critica parlamentar« (1883). Unterstützt wurde er von den Positivisten Teixeira Mendes und Annibal Falcão; von den Romanschriftstellern José de Alencar (s.d.), Bernardo GuimarãesO Garimpeiro«), Sylvio Dinarte (»Innocencia«), J. Verissimo (»Amazonas«); den Lyrikern Olavo Bilac, Alvares de Azevedo, Castro Alves, Casimiro d'Abrun, Fagundes Varella; den Kritikern João Ribeiro (der sprachwissenschaftlich arbeitet), Teixeira de Mello, Guilherme Bellegarde, Machado de Assis, Franklin Tavora, Quintino Bocayuva, Tobias Barreto, Aluizio Azevedo, die auch ausgezeichnete Novellen und Geschichten verfaßt haben. Ihre Werke sind zum größten Teil in Zeitschriften zerstreut, wie »Revista Brazileira« (seit 1894, 25 Bde.), »Ephemerides Nacionaes«, »lllustração Brazileira« und »Brazil-Portugal«, und in Tagesblättern (deren es etwa 500 gibt, worunter 12 deutsche in den südlichen Provinzen und einige englische, französische und italienische). Nur wenige davon, wie das seit 1821 erscheinende ausgezeichnete »Jornal do Commercio«, das »Diario official« (beide in Rio de Janeiro), die »Gazeta de Noticias«, das »Diario de Pernambuco« etc., erheben sich über Tagesneuigkeiten und Parteigezänk. Hauptwerke über b. L. sind Sylvio Romeros »Historia da litteratura brazileira« (Rio 1888, 2 Bde.) u. Oliveira Limas »Aspectos da Literatura Colonial Brazileira« (Leipz 1896); nächstdem kommt noch immer in Betracht das freilich veraltete Werk F. Wolfs: »Le Brésil littéraire« (Berl. 1863). Mit der Zeit von 1870–95 beschäftigt sich Valentin Magalhães' »A litteratura brasileira« (mit Anthologie, Lissab. 1897), mit dem gesamten Geistesleben Brunos, »O Brazil Mental« (Porto 1898). Brauchbare Nachschlagewerke sind: Pereira da Silva, Plutarco Brazileiro (Rio 1847, 2 Bde.); J. Manoel de Macedo, Brazilian biographical Annual (das. 1876, 4 Bde.); Sacramento-Blake, Diccionario bibliographico Brazileiro (1883); A. J. de Mello, Biographias de alguns poetas e homens illustres de Pernambuco (188–1); Pinheiro Chagas, Brazileiros illustres (Rio 1881). Ein gutes Handbuch ist Fernandes Pinheiros »Curso de litteratura nacional« (Rio 1878). Blütenlesen liegen vor im »Parnaso Brazileiro« und in Varnhagens »Florilegio« (1851 u. 1853). Gute Textausgaben brasilischer Dichter enthält Garniers »Bibliotheca Nacional«, über Volkskunde handelt Sylvio Romero: Cantos populares do Brazil (Lissab. 1886), Cantos populares do Brazil (das. 1883) und Estudos sobre a poesia popular do Brazil (Rio 1888). Vgl. auch Santa Anna-Nery, Folklore brasilien (Par. 1891).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 342-343.
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