Giulĭo Romāno

[872] Giulĭo Romāno (spr. dschu-), eigentlich Giulio Pippi, ital. Maler und Architekt, geb. 1492 in Rom, gest. 1. Nov. 1546 in Mantua, war der hervorragendste von Raffaels Schülern, dem jedoch die Grazie und Keuschheit seines Lehrers fehlte. Er war derber angelegt und fühlte sich deshalb später mehr zu Michelangelo hingezogen. Seine Zeichnung ist korrekt, die Komposition jedoch häufig übertrieben. Für religiöse Gegenstände mangelte es ihm an Tiefe der Empfindung; viel besser gelang ihm die Darstellung von Motiven aus der Antike. Sein Kolorit ist nicht ohne eine gewisse Härte in dem rötlichen Fleischton und in den Schatten. Giulios erste Tätigkeit in Rom fällt mit der Raffaels zusammen. So malte er in der Stanza dell' Incendio, in der Farnesina und der Sala di Costantino nach Raffaels Karton die Schlacht des Konstantin bei der Milvischen Brücke. Auch hatte er die Oberaufsicht bei der Ausführung der biblischen Szenen in den vatikanischen Loggien, wozu Raffael die Zeichnungen gefertigt hatte. Endlich führte er mehrere der bei Raffael bestellten Tafelbilder, namentlich für das Ausland, nach des Meisters Entwürfen aus und vollendete dessen Verklärung Christi. Selbständige Ölbilder aus dieser Periode sind von ihm die Madonna del divino amore und die Madonna della gatta (mit der Katze), beide im Museum zu Neapel. Nach Raffaels Tode lebte G. noch einige Jahre in Rom. In diese Zeit gehören einige Freskomalereien mythologischen und historischen Inhalts, mit denen er die von ihm erbaute Villa Laute in Viterbo und die Villa Madama bei Rom ausschmückte. Bedeutender ist ein Altargemälde, das G. für San Stefano in Genua ausführte, das Märtyrertum des heil. Stephan. In dieser ersten Zeit scheinen auch entstanden zu sein: in San Prassede zu Rom die Geißelung; in der Sakristei der Peterskirche zu Rom eine Madonna mit dem Kind; in der Kirche dell' Anima daselbst das große Altarbild und in Trinità de' Monti Christus als Gärtner; eine heilige Familie mit fünf lebensgroßen Figuren und das lebensgroße Kniestück einer Madonna mit dem Buch in der Hand im Hofmuseum zu Wien; Pan und Olympos in der Dresdener Galerie; die Anbetung der Hirten; Maria mit dem Kind und dem kleinen Johannes; der Triumph des Titus und Vespasian über Judäa; Vulkan, die Pfeile des Amor schmiedend (sämtlich im Louvre in Paris); eine kleine Charitas in der Nationalgalerie in London; die erwachte Juno, wie sie den saugenden Herkules von ihrer Brust reißt, in der Bridgewatergalerie. In den nächsten Jahren nach Raffaels Tode galt G. als der vorzüglichste italienische Künstler. Der Herzog Federigo Gonzaga von Mantua berief ihn 1524 zu sich und ernannte ihn zum Direktor der Wasserbauten und zum Oberintendanten der Gebäude. In Mantua war G. 22 Jahre lang tätig. Er erbaute ganze Quartiere und Straßen und gab der Stadt ein völlig neues Ansehen. Das herzogliche Schloß hat er fast ganz umgebaut und mit Fresken dekoriert. In einem Saal malte er die Geschichte des Trojanischen Krieges in Fresko und in einem Vorzimmer zwölf historische Bilder in Ol. Sein Hauptwerk ist der Palazzo del Te, in dessen Innerm er in mythologischen und historischen Kompositionen den ganzen Reichtum seiner Kunst aufbot. Besonders in zwei Zimmern dieses Palastes, in denen er den Sturz der Giganten und die Liebesgeschichten der Götter darstellte, ließ er seiner kühnen Phantasie den freiesten Spielraum und beging auch bisweilen geschmacklose Ausschweifungen. Diese Kompositionen übten auf spätere Künstler einen großen, oft verderblichen Einfluß aus. G. hat auch mehrere Kirchen teils hergestellt, teils verschönert, darunter die große Benediktinerkirche am Po und den Dom in Mantua. In seine letzte mantuanische Zeit scheint auch die Madonna della Catina (die Madonna mit dem Kinde, das in einem Waschbecken steht, Joseph, Elisabeth und der kleine Johannes) in der Dresdener Galerie, eine seiner anmutigsten Schöpfungen, zu gehören. Von seinen Schülern sind Primaticcio, Rinaldo Mantovano, Raffaello dal Colle und Giulio Clovio die hervorragendsten. G. verband den Idealismus Raffaels mit realistischen Tendenzen,[872] bereitete aber auch den Manierismus vor, der bald nach seinem Tode die italienische Malerei zum Verfall brachte. Vgl. C. d'Arco, Istoria della vita e delle opere di Giulio Pippi Romano (Mantua 1842); Dollmayr, Giulio R. und das klassische Altertum (Wien 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 872-873.
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