Thiers [2]

[487] Thiers (spr. tjǟr), Louis Adolphe, franz. Staatsmann und Geschichtschreiber, geb. 15. April 1797 in Marseille, gest. 3. Sept. 1877 in St.-Germain-en-Laye, ließ sich 1820 in Aix als Advokat nieder, begab sich aber schon im September 1821 mit seinem Freunde Mignet nach Paris, um dort als Journalist seine Talente geltend zu machen. Er veröffentlichte außer einer Schrift über Jean Law (»Histoire de Law«, 1826; neueste Ausg. 1878) 1823–27 seine »Histoire de la Révolution française« in 6 Bänden (15. Aufl. 1881, 10 Bde.; deutsch von Jordan, Leipz. 1854), die seinen Ruhm als Historiker begründete. Als Karl X. durch die Ernennung des Ministeriums Polignac der liberalen Partei den Krieg erklärte, gründete diese unter der Leitung von T., Armand Carrel und Barrot im Januar 1830 den »National«, der durch die Kraft und Kühnheit seiner Polemik gegen die bestehende Dynastie bald großen Einfluß gewann. Besonders elektrisierte die Massen das von T. erfundene Schlagwort: »Le roi règne et ne gouverne pas.« Als 26. Juli 1830 die berüchtigten Ordonnanzen erschienen, versammelten sich die Redakteure aller liberalen Journale im Bureau des »National« und erließen unter T.' Leitung einen Protest gegen diese Regierungsmaßregel. Nach dem Siege der Revolution führte T. die Unterhandlungen mit dem Herzog von Orléans. Nach dessen Thronbesteigung wurde T. 11. Aug. zum Staatsrat und Generalsekretär, sodann Anfang November von Laffitte zum Unterstaatssekretär der Finanzen ernannt. Zu derselben Zeit von der Stadt Aix in die Deputiertenkammer gewählt, bildete er sich rasch zu einem Redner aus, dessen Präzision und Gewandtheit bald Anerkennung fanden. So ward er nach Périers Tode 11. Okt. 1832 Minister des Innern, 25. Dez. d. J. des Handels und der öffentlichen Arbeiten. Bei der Umgestaltung des Kabinetts 4. April 1834 übernahm er wieder das Departement des Innern, die »Politik des Widerstandes« gegen die Republikaner mit Erfolg verfechtend. Im Februar 1836 erhielt er den Vorsitz im neuen Kabinett zugleich mit dem Portefeuille des Auswärtigen, mußte aber schon 26. Aug. 1836 zurücktreten, da der König dem schon beschlossenen Einschreiten in Spanien zugunsten des Liberalismus seine Zustimmung versagte, und stand nun zwei Jahre lang an der Spitze der dynastischen Opposition. Seit 13. Dez. 1834 war er auch Mitglied der Akademie. Am 1. März 1840 als Minister des Auswärtigen wieder an die Spitze des Kabinetts gestellt, bewirkte er die Zurückführung der Leiche Napoleons I. von St. Helena und die Befestigung von Paris. Sein Plan, der Quadrupelallianz vom 15. Juli entgegen den Vizekönig von Ägypten zu unterstützen und in dem allgemeinen Kriege die Rheingrenze wiederzugewinnen, scheiterte an der Weigerung des friedfertigen Königs. T. reichte daher 21. Okt. seine Entlassung ein und gesellte sich wieder zur Opposition. Nach der Februarrevolution von 1848 nahm er in der Nationalversammlung eine Mittelstellung ein. Den Plänen Napoleons wirkte er eifrig entgegen und ward daher beim Staatsstreich 2. Dez. 1851 verhaftet und dann in das Ausland entlassen. 1852 ward ihm die Rückkehr nach Frankreich gestattet, wo er sich elf Jahre lang ganz schriftstellerischer Tätigkeit widmete. Die Frucht davon war die »Histoire du Consulat et de l'Empire« (Par. 1845–62, 20 Bde.; Register 1869; deutsch von Bülau, Leipz. 1845–62, 20 Bde.; von Burckhardt und Steger, das. 1845–60, 4 Bde.). 1863 wurde T. in Paris in den Gesetzgebenden Körper gewählt und ward hier der Führer der kleinen, aber mächtigen Opposition. Er bekämpfte in glänzenden RedenDiscours prononcés au Corps législatif«, Par. 1867) besonders den falschen Konstitutionalismus und die auswärtige Politik des Kaiserreichs,[487] indem er zumal die Einigung Italiens und Deutschlands als schwere Gefahr für Frankreich bezeichnete. In derselben engherzigen Weise hielt er an hohen Schutzzöllen und dem alten Militärsystem fest. Mit größter Energie widersetzte er sich 15. Juli 1870 der übereilten Kriegserklärung. Nach dem Sturze des Kaiserreichs übernahm er im September eine Rundreise an die Höfe der Großmächte, um sie zu einer Intervention für Frankreich zu veranlassen, kehrte aber Ende Oktober unverrichteter Sache zurück. Bei den Wahlen für die Nationalversammlung ward er in 20 Departements zum Deputierten und, da alle Parteien ihr Vertrauen auf ihn setzten, schon 17. Febr. 1871 von der Versammlung zum Chef der Exekutivgewalt gewählt. Seine erste Aufgabe war, den Frieden mit Deutschland zustande zu bringen; er führte selbst die Verhandlungen mit Bismarck und rettete wenigstens Belfort. Am 1. März setzte er die Annahme des Friedens in der Nationalversammlung durch und bewog 10. März diese, ihren Sitz nach Versailles zu verlegen. Der Kommuneaufstand in Paris 18. März brachte T. in die höchste Bedrängnis; er faßte den richtigen Gedanken, den Aufstand nicht in den schwer zu behauptenden Straßen, sondern durch Angriff von außen zu unterdrücken. Gleichzeitig wurde 10. Mai der definitive Friede mit Deutschland abgeschlossen. Daran schlossen sich die erfolgreichen Maßregeln zur Beschaffung der nötigen Milliarden. Am 31. Aug. 1871 ward er auf drei Jahre zum Präsidenten der Republik ernannt. Die monarchistischen Parteien aber sahen sich in ihren Hoffnungen auf T.' energische Unterstützung getäuscht und rächten sich durch gehässige Angriffe und Ränke. Endlich, nachdem die Zahlung der Kriegsentschädigung an Deutschland und die Räumung des Gebietes durch den Vertrag vom 15. März 1873 gesichert waren, beschloß die klerikal-monarchistische Mehrheit, T. zu stürzen. Nach heftiger Debatte ward 23. Mai ein Tadelsvotum gegen das Ministerium mit 360 gegen 344 Stimmen angenommen, und als T. darauf seine Entlassung gab, diese mit 368 gegen 338 Stimmen genehmigt. T. zog sich darauf wieder vom öffentlichen Leben zurück und nahm nur an wichtigen Abstimmungen in der Deputiertenkammer teil. Nach dem Staatsstreich vom 16. März 1877 richteten sich die Hoffnungen aller Republikaner wieder auf T. als das Haupt einer gemäßigten Republik, aber er starb infolge eines Schlaganfalls und wurde 8. Sept. in Paris feierlich bestattet. 1879 wurde ihm ein Standbild in Nancy, 1880 ein solches in St.-Germain errichtet. T., von kleiner Gestalt, aber scharf geschnittenen Zügen, war einer der bedeutendsten Staatsmänner Frankreichs im 19. Jahrh. und jedenfalls der populärste. Seine Doktrin war die des konstitutionellen Systems, in dem der aufgeklärte, wohlhabende Bürgerstand die beste Sicherung seiner geistigen und materiellen Güter erblickte; allen ökonomischen und sozialen Neuerungen war er durchaus abhold. Aber über allen Doktrinen stand bei T. seine Nation, Frankreich. Er besaß eine unermüdliche Arbeitskraft, seine, edle Bildung, Scharfblick, eine sanguinische Elastizität des Geistes und echten Patriotismus, dabei aber naive Selbstsucht und Eitelkeit. Als Geschichtschreiber verherrlichte er die Freiheitsideen der französischen Revolution und den Kriegsruhm Napoleons I. in schwungvoller Sprache und glänzender Darstellung, jedoch keineswegs stets wahrheitsgetreu und unparteiisch. So ward er der hauptsächlichste Förderer des Chauvinismus und besonders der Napoleonischen Legende. Er hinterließ Geldmittel zur Begründung eines Instituts zur Lehre der sozialen Wissenschaften und des Völkerrechts (1891 eröffnet). Thiers' »Discours parlementaires« wurden von Calmon (Par. 1879–83, 15 Bde.; Registerband 1889) herausgegeben, auch ein Teil seiner KorrespondenzLa libération du territoire«, das. 1903, 2 Bde.) veröffentlicht. »Notes et Souvenirs de A. T., 1870–1873« erschienen 1903. Vgl. Laya, Études historiques sur la vie privée, politique et littéraire de M. T. 1830–1846 (Par. 1846, 2 Bde.) und Histoire populaire de M. T. (das. 1872); Richardet, Histoire de la présidence de M. T. (das. 1875); Eggenschwyler, T.' Leben nad Werke (Bern 1877); Jules Simon, Le gouvernement de M. T. (Par. 1878, 2 Bde.) und T., Guizot, Rémusat (das. 1885); Mazade, M. T., cinquante années d'histoire contemporaine (das. 1884); P. de Rémusat, A. T. (das. 1889); Zevort, T. (das. 1892) und La présidence de M. T. (das. 1896); Hanotaux, Le gouvernement de M. T. (das. 1903); de Marcère, L'Assemblée nationale de 1871. Gouvernement de M. T. (das. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 487-488.
Lizenz:
Faksimiles:
487 | 488
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon