Artĕmis

[772] Artĕmis (Diana), gemeiniglich als Göttin der Jagd angenommen, eigentlich aber die dem Apollo entsprechende weibliche Gottheit, also zunächst die Mondgöttin; sie war die Tochter des Zeus u. der Leto, geboren auf Ortygia (d.i. Ephesos od. Delos), od. in Ätolien od. auf Sicilien, u. neben ihrem Zwillingsbruder Apollo, dem Licht- (Sonnen-) Gott, auf Delos u. zu Delphi verehrt als Phöbe (die Reine, Glänzende), Arge (die Schimmernde), Loxo (die Krumme, von den krummen Bahnen des Mondlaufes), Opis (vielleicht das Auge der Nacht); sie trägt als solche eine Fackel, daher Phosphoros (die Lichtbringerin). Als Mondgöttin wurde sie später mit Hekate (s.d.) identificirt. Wie Apollo trägt sie auch Bogen u. Pfeile u. theilt dessen Kämpfe; sie ist auch Todesgöttin u. tödtet mit Apollo die Kinder der Niobe; bes. der schnelle Tod der Mädchen u. Frauen ward ihr zugeschrieben, z.B. der Ariadne (s.d.) auf Naxos. Dagegen ist sie auch eine Lebensgöttin, u. während dem Apollo mehr die geistige Seite des Menschen zur Weckung u. Pflege zukam, war A, bes. als Kurotrophos die Hüterin der Kinder u. des weiblichen Geschlechtes; so wurde ihr in Sparta als A. Korythalia das Ammenfest Tithenidia gefeiert; die Mädchen verehrten sie, die keusche, jungfräuliche Göttin (daher Parthenia) als die Schützerin ihrer Jugend u. brachten ihr vor der Vermählung Weihgeschenke; daher war sie auch eine der Hochzeitsgöttinnen u. trug als solche eine Spindel, bes. aber Göttin der Entbindung der Frauen (daher Lysizonos, die Gürtellösende, Locheia, Helferin der Kreisenden) u. wurde später ganz mit Ilithyia (s.d.) identificirt, wie sie denn auch gleich nach ihrer Geburt der Mutter bei der Geburt ihres Bruders Apollo beistand. Daher wurde sie auch mehrfach als Soteira (die Rettende, Helfende, Heilende) verehrt. So rettete sie Iphigenien (s.d.) von dem Opfermesser ihres Vaters zu Aulis; auch keusche Jünglinge stehen unter ihrem Schutz, wie Hippolytos (s.d.), den sie vom Tode erweckt u. zu göttlicher Ehre bringt, wogegen Frevler an ihrer od. anderer Jungfrauen Keuschheit gestraft werden, so Aktäon (s.d.), den sie in einen Hirsch verwandelt, daß ihn seine Hunde fressen, u. Aristoklides, welcher die keusche Stymphalis an ihren Altar verfolgt u. vom Volke erschlagen wird. Wie Apollo Städte gründet, so erhält sie dieselben durch die Zucht in den Häusern, daher sie als Eukleia, als Göttin des guten Russ, in den Städten u. auf den Märkten verehrt wird u. als Aristobule (die beste Ratherin) alles wilde, zuchtlose Wesen aus den Städten mit ihren Pfeilen verfolgt. Vorzüglich aber tritt A. auf als waltend im Reiche der Natur, wo sie durch Wälder u. über Fluren wandelt u. hochgeschürzt, umgeben von Berg- u. Waldnymphen, begleitet von Hunden, mit dem Jagdspieß bewehrt, das Waidwerk treibt (daher Agrotera, die Jägerin, Jocheära, die Pfeillustige, Hekaerge, die Ferntreffende, Elaphebolos, die Hirschtödterin), Blumen pflückt, in schattigen Quellen sich badet etc. Daher war Arkadien mit seinen Bergen, Thälern, Wäldern u. Flüssen ihr liebster Aufenthalt,[772] hier wurde sie überall verehrt, ja sie galt sogar für die Stammmutter der Arkader; von hier aus drang ihr Dienst in die benachbarten Länder, Lakonika, Messenien, Elis u. durch den von da aus unter dem Meere bis nach Sicilien strömenden Alpheos (s.d. u. Arethusa) nach Sicilien. Ferner wurde sie verehrt in Ätolien als Laphria (wahrscheinlich die Rasche, Behende), wo sie aber, einst von Öneus beim Opfer vergessen, den verheerenden Kalydonischen Eber sendete; ferner auf Euböa bei Amarynthos, wo ihr die Amarynthia gefeiert wurden, u. in Attika, wo die Elaphebolla, ein Jagdfest, die Munychia, die Brauronia u. Helenophoria (s.d. a.) ihre Feste waren. In Sparta u. anderen Orten wurde sie auch als Orthia u. Orthosia (die Aufrechtstehende, Steife) verehrt, wahrscheinlich von den alten steifen, säulenartigen Abbildungen; als solcher brachte man ihr vordem Menschenopfer, nachmals wurden Knaben an ihrem Altar gepeitscht, bis Blut nachfloß u. den Altar netzte (s. Diamastigosis). Außerhalb Griechenlands wurde sie verehrt auf der Chersonesos Taurika (Krim, daher die Taurische genannt) mit Menschenopfern; dorthin hatte sie die Iphigenie gerettet u. von dort brachte Orestes mit seiner Schwester das Bild der A. nach Hellas. In Kreta, wo sie von Minos geliebt u. verfolgt wurde u. sich, um sich dessen Anmuthungen zu entziehen, in das Meer gestürzt hatte, wurde sie als Britomartis (die süße Jungfrau) od. Diktynna (die Netzgöttin, weil sie von Fischernetzen bei ihrem Meersprung aufgefangen worden war) verehrt; ähnlich auf Samos u. Ägina als Aphäa. Einen ausgebreiteten, prächtigen, von zahlreichen Priestern (Verschnittenen) besorgten Dienst mit Frühlingsfesten hatte sie in Ephesos (daher die Ephesische A.), abgebildet mit vielen Brüsten (daher Polymastos, die Vielbrüstige) u. erlegtes Wild in den Händen, als Geberin u. Nährerin des Lebens; dort sollten die männerhassenden Amazonen ihren Dienst begründet u. dann weiter verbreitet haben. Als Leukrophryne war sie die Hauptgöttin zu Magnesia in Phrygien, auch hier wie die Ephesische gebildet u. verehrt; so auch, nur roher dargestellt, zu Perga in Pamphylien, daher die Pergäische A. Die römische Diana (Diva Jana, Di-Jana) war nach griechischer Auffassung ebenfalls Leben u. Licht bringend, Göttin des Mondes, der Jagd u. der Geburten (als solche Lucina). Ihr Dienst war durch Plebejer aus Latium nach Rom gebracht, daher galt sie hier bes. als Schutzgöttin der Plebejer u. zugleich der Sklaven, u. ihr war auf dem Aventinus ein Tempel erbaut (daher Aventina). Bei Aricia wurde sie mit blutigem Dienst verehrt (s. u. Arezzo); hierher sollte ihren Dienst Orestes aus Tauris gebracht haben, od. Hippolytos, den sie nach seiner Wiedererweckung hierher geführt habe. Im deutschen Heidenthume wurde später Diana als nächtliche Göttin, Mondgöttin u. Jägerin, an der Stelle der Berchta u. Frau Holde an die Spitze des Wüthenden Heeres (s.d.) gestellt. Von der asiatischen götzenhaften Bildung u. Darstellung der A. erhielt sich die griechische stets frei; sie erscheint in Griechenland immer in der dichterischen u. künstlerischen Auffassung u. Darstellung als die stattliche, keusche Jungfrau, im Geleit von Nymphen, mit Bogen u. Köcher od. mit der Fackel; ihr Attribut ist die Hirschkuh, welche sie entweder zur Seite hat od. auf welcher sie reitet od. von welcher ihr Wagen gezogen wird, begleitet von Jagdhunden; Bilder zeigen sie entweder in bewegter Stellung, wie sie eben den Pfeil abgeschossen hat; od. in ruhiger Stellung, wo sie den Bogen auf den Rücken zurückgeworfen u. den Köcher geschlossen hat. Ältere Darstellungen bilden sie voll u. kräftig, mit langem Gewand bekleidet; spätere schlank, anmuthig, leichtfüßig, das Haar oben aufgebunden, das Gewand hoch geschürzt, an den Füßen die Kretischen Jägerschuhe. Die Taurische A. steht auf einem Stier. Von Bildsäulen der Götter sind bes. schön erhalten die Diana von Herculanum (in archaistischem Style u. bemalt) u. die Diana zu Versailles, ein Gegenstück zu dem Apollo von Belvedere, viele Vasengemälde, Reliefs etc. mit der Geschichte des Aktäon, des Meleager etc.; Münzen von Arkadien, Ätolien, Kreta, Sicilien etc. mit dem Kopfe der A.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 1. Altenburg 1857, S. 772-773.
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