Romanische Sprachen

[91] Romanische Sprachen, alle die Sprachen, die sich in ben der Herrschaft Roms unterworfenen Ländern im S. und W. Europas im Munde des Volkes aus dem gesprochenen Latein herausgebildet haben (s. die »Völker- und Sprachenkarte von Europa«, Bd. 6, S. 181). Die römische Volkssprache hatte sich in den letzten Jahrhunderten des römischen Reichs mehr und mehr von der Sprache der Gebildeten entfernt und kennzeichnete sich besonders durch allerlei Eigenheiten in der Aussprache, durch Vernachlässigung oder gänzliches Aufgeben der Nominalflexion, deren Ersatz durch Präpositionen, durch das Fallenlassen mehrerer Verbalformen und Umschreibung vermittelst Hilfszeitwörter, endlich durch den Gebrauch einer großen Anzahl ihr eigentümlicher Ausdrücke, anstatt der von der gebildeten Sprache angewandten (vgl. Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins, Leipz. 1866–68, 3 Bde.). Hieraus erwuchsen allmählich unter Einwirkung der zurückgedrängten einheimischen Idiome in den verschiedenen Ländern die sieben romanischen Sprachen: die italienische, rätoromanische, spanische, portugiesische, provenzalische (nebst der ihr eng verwandten katalanischen), französische und rumänische (walachische); doch ist die provenzalische seit dem 15. Jahrh. als Schriftsprache erloschen und zu einer bloßen Mundart herabgesunken. In jeder dieser Sprachen lassen sich wieder mehr oder minder zahlreiche Mundarten unterscheiden. In ihrem Bau zeigen sich die Sprachen als natürliche Fortbildungen des Lateinischen; zu ihrem Wortschatz aber haben auch andre Sprachen, so beiden sechs westlichen in besonders reichem Maße das Germanische, beim Rumänischen das Slawische, beigetragen; im Spanischen und Portugiesischen finden sich auch nicht unbedeutende arabische Bestandteile. Der Bildungsprozeß der romanischen Sprachen, der erst durch die geschichtlich-vergleichende Sprachforschung des 19. Jahrh. aufgehellt worden, fällt seinen ersten Anfängen nach in die Römerzeit. Erst im 8. Jahrh. geschieht ihrer als besonderer, vom gelehrten Latein verschiedener Sprachen mehrfach Erwähnung; um diese Zeit erscheint der Name Lingua Romana zur Bezeichnung der Volkssprache im Gegensatz zur Lingua Latina. Als Literatursprachen treten sie in dem einen Lande früher, in dem andern später auf, am frühesten das Französische und Provenzalische, am spätesten das Rumänische. Dem Gesamtcharakter nach ist unter allen romanischen Sprachen die italienische der lateinischen Mutter am nächsten geblieben, die französische hat sich von dieser am weitesten entfernt. Um die wissenschaftliche Erforschung der romanischen Sprachen bezüglich ihres Ursprungs und ihres Verhältnisses zum Lateinischen hat sich zuerst Raynouard (s. d.) Verdienste erworben. Epochemachend aber wurden erst Fr. Diez' »Grammatik der romanischen Sprachen« (5. Aufl., Bonn 1882; franz., Par. 1872 bis 1876, 3 Bde.) und dessen »Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen« (5. Aufl., besorgt von Scheler, Bonn 1887), durch welche beiden Werke das Studium dieser Sprachen zu einer wirklichen Wissenschaft, der romanischen Philologie, erhoben wurde. Verdienstlich auf diesem Gebiete waren noch die Arbeiten von Aug. Fuchs: »Über die unregelmäßigen Zeitwörter in den romanischen Sprachen« (Berl. 1840) und »Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnis zum Lateinischen« (Halle 1849). Eine neue Darstellung der Grammatik mit Verwertung der methodischen Fortschritte und der ausgedehnten mundartlichen Forschung hat Meyer-Lübke geliefert in seiner »Grammatik der romanischen Sprachen« (Bd. 1: Lautlehre, Leipz. 1890; Bd. 2: Formenlehre, 1894; Bd. 3: Syntax, 1899). Die etymologische Forschung hat Körting in seinem »Lateinisch-romanischen Wörterbuch« (2. Aufl., Paderb. 1901) zusammengefaßt. In neuerer Zeit haben besonders Pott, Mussafia, Tobler, Schuchardt, Förster, Böhmer (Herausgeber der Zeitschrift »Romanische Studien«, Straßb. 1871 ff.), Gröber (Herausgeber der »Zeitschrift für romanische Philologie«, seit 1877, mit jährlich erscheinender Bibliographie), Wölfflin (in seinem »Archiv für lateinische Lexikographie«, seit 1884) u.a., in Frankreich Paul Meyer, Gaston Paris, A. Thomas (die Herausgeber der Zeitschrift »Romania«, seit 1872; »Table des trente premiers volumes«, 1906), die »Revue des langues romanes« (seit 1870), A. Darmesteter u.a., in Italien Biondelli, Ascoli, Salvioni (die Herausgeber des »Archivio glottologico«, seit 1873) u.a. schätzbare Beiträge zur Geschichte und vergleichenden Grammatik dieser Sprachen geliefert. Vgl. Körting, Handbuch der romanischen Philologie (Leipz. 1896); Gröber u.a., Grundriß der romanischen Philologie (Straßb. 1886–1902, 3 Bde.; Bd. 1 in 2. Aufl. 1904 bis 1906); F. Neumann, Die romanische Philologie, ein Grundriß (Leipz. 1886); Meyer-Lübke, Einführung[91] in das Studium der romanischen Sprachwissenschaft (Heidelb. 1901); Zauner, Romanische Sprachwissenschaft (Leipz. 1900, Sammlung Göschen); Vollmöller, Kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der romanischen Philologie (Münch. 1894 ff.); Gorra, Lingue neolatine (Mail. 1894).

Romanisch im engern Sinne (Rätoromanisch) heißt die romanische Mundart, die in einem Teile der Ostschweiz, im Kanton Graubünden, gesprochen wird. Die Einheimischen nennen es Rumonsch (Romauntsch), auch bezeichnet man es häufig als Churwelsch, d.h. das Welsch des Gebietes von Chur, der Hauptstadt Graubündens. Während es aber früher in ganz Graubünden herrschte, wird es jetzt nur noch im Engadin und im Quellgebiet des Rheins von etwa 40,000 Menschen gesprochen. Nach Ascoli ist das Rätoromanische als der westliche Ausläufer der sogen. ladinischen Dialekte anzusehen, die er in drei Gruppen einteilt: 1) östliche Gruppe im Gebiete von Friaul; 2) mittlere Gruppe, von Belluno ab, mit den Mundarten des Gebietes von Trient; 3) westliche Gruppe in Graubünden (s. die »Ethnographische Karte von Österreich-Ungarn« und das Nebenkärtchen »Sprachgebiete« auf der Karte der Schweiz). Der geographische Zusammenhang zwischen den drei Gruppen ist heutzutage gestört, selbst die östlichen und westlichen Mundarten der Trientiner Gruppe hängen nicht mehr zusammen, während früher das Sprachgebiet des Ladinischen, auf die alten römischen Ansiedelungen zurückgehend, vom Adriatischen Meer ohne Unterbrechung bis an den Oberrhein reichte. Die ladinischen Mundarten insgesamt umfassen nach Ascoli eine Bevölkerungsziffer von 580,000, wovon allein 450,000 auf Friaul kommen. Im linguistischen Sinn eine selbständige romanische Sprache ebensogut wie Italienisch oder Französisch, werden sie doch nach dem Vorgange von Diez gewöhnlich den andern romanischen Sprachen nicht als ebenbürtig an die Seite gestellt, weil sie einer allgemeinen Schriftsprache entbehren. Was das Rätoromanische speziell betrifft, so zerfällt es in die beiden Hauptmundarten: Oberländisch oder Rumonsch im engern Sinn am Oberrhein und Ladin oder Engadinisch am Inn. Ersteres kann man wieder in die Unterdialekte Romanisch ob und unter dem Wald, letzteres in Ober- und Unterengadinisch einteilen; zwischen beiden Hauptmundarten steht das Oberhalbsteinische. Diese Dialekte differieren unter sich sehr bedeutend; als der gebildetste gilt der unterengadinische, in dem sich auch eine feststehende Schriftsprache entwickelt hat. Der echt romanische Charakter all dieser Dialekte zeigt sich darin, daß 75–80 Proz. des Wortschatzes lateinischen Ursprungs sind; das übrige stammt aus dem Deutschen, Alträtischen etc. Die Aussprache ist im ganzen der oberitalienischen ähnlich. Die ältesten Drucke stammen aus dem 16. Jahrh. und sind religiösen Inhalts, wie auch die neuere rätoromanische Literatur einen vorherrschend religiösen Charakter hat. Interessante Volkslieder (Straßb. 1874) und ein religiöses Drama aus dem 16. Jahrh.: »Die Geschichte von dem tapfern und frommen Tobias«, sind von A. v. Flugi nach alten Handschriften herausgegeben worden. Nationale Bestrebungen zur Pflege der rätoromanischen Sprache und Literatur haben sich neuerdings mit Erfolg geltend gemacht, namentlich hat sich eine unterengadinische Zeitungsliteratur entwickelt. Der hervorragendste Dichter der neuern Zeit ist der Oberengadiner Cadéras (gest. 1891). Grammatiken lieferten Conradi (Zürich 1820), Carisch (Chur 7852), Z. Pallioppi (das. 1857) und besonders Gartner (2. Aufl., Straßb. 1905), eine Elementargrammatik Andeer (2. Aufl., Zürich 1906); Wörterbücher Conradi (Chur 1823), Carisch (neue Ausg., das. 1887), Carigiet (Bonn 1882) und besonders Zacc. und Emil Pallioppi (Vater und Sohn, »Dizionari dels idioms romauntschs«, Samaden 1895) und Emil Pallioppi, Wörterbuch der romanischen Mundarten etc. (Samaden u. Basel 1902); Chrestomathien Ulrich (Halle 1882–83, 2 Tle.), der auch »Rätoromanische Texte« (das. 1883) herausgab, d'Alton (Innsbr. 1895) und Decurtins (Erlangen 1888 bis 1907, 8 Bde.). Vgl. Andeer, Über Ursprung und Geschichte der rätoromanischen Sprache (Chur 1862); Ascoli, Saggi ladini (im 1. Bande des »Archivio glottologico italiano«, Turin 1873, mit einer Sprachenkarte); Schneller, Die romanischen Volksmundarten in Südtirol (Gera 1870); Alton, Die ladinischen Idiome (Innsbr. 1879); Gartner, Die Gredner Mundart (Linz 1879); Rausch, Geschichte der Literatur des rätoromanischen Volkes (Frankf. 1870); »Annalas della Società retoromantscha« (Chur 1886 ff.). Rätoromanische Texte sind mehrfach in Böhmers »Romanischen Studien« veröffentlicht worden, ebenso auch ein Literaturverzeichnis (Bd. 6, Straßb. 1885).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 91-92.
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