Geheime Gesellschaften

[59] Geheime Gesellschaften, Verbindungen mehrer Personen zu einem gemeinsamen Zwecke, wobei entweder der Zweck selbst geheimgehalten wird, od. die Mittel zur Ausführung desselben nur den Eingeweihten, welche gemeiniglich ihre besonderen Erkennungszeichen haben, bekannt sind. Als die ältesten Geheimbünde, welche die Geschichte kennt, sind die Priesterkasten der orientalischen Culturvölker anzusehen. Sie standen als Herrschende der profanen Menge gegenüber u. ihre Macht beruhte zum großen Theile auf dem Glauben des Volkes, daß sie im Besitze geheimer Kenntnisse u. Kräfte seien. Bei den späteren Culturvölkern, den Griechen u. Römern, behaupteten zwar manche religiöse Genossenschaften durch den Reiz des Geheimnisses, mit welchem sie sich umgaben, in den Augen des Volkes ein gewisses Ansehen, aber das öffentliche Leben im Staate blieb davon unberührt; vgl. Mysterien. Anders war es mit den religiös-philosophischen Secten, deren Genossen fürchten mußten, durch Aufdeckung ihrer Lehren sich den Verfolgungen der politischen Machthaber od. dem Fanatismus der ungebildeten Menge auszusetzen. Die Macht der überkommenen Weltanschauung, welcher das Volk im großen Ganzen anhing, war zu groß, als daß eine an sich berechtigte u. geläuterte Auffassung des Lebens es wagen durfte, sich offen gegenüber dem traditionellen Wesen geltend zu machen. Ihre Anhänger mußten also im Geheimen sich zu kräftigen u. einander zu unterstützen suchen u. bereiteten im Verborgenen den Kampf vor, welcher ein neues sittlichreligiöses Princip in das Volksleben einführen sollte. In diesem Sinne wirkten die Pythagoreer in Griechenland u. die Essäer in Judäa als geheime Genossenschaft. Sonst war das griechische u. römische. Staatswesen, ehe es in Verfall gerieth, der Geheimbündelei nicht günstig, da die Macht des Staates auf der Gesammtheit seiner Bürger ruhte u. der öffentlichen Meinung äußerlich kein Zwang angethan wurde. Fruchtbar war hingegen das Mittelalter an geheimen Verbindungen, welche theils religiöser Eifer (Tempelherren), theils die Bestrebungen der Besseren, die Schwachen vor der Willkür der Mächtigen zu schützen (Heilige Fehme, Heilige Hermandad), od. überhaupt die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft zu befestigen (Freimaurerei), ins Leben rief. Nur die Freimaurerei (s.d.) hat sich bis auf die neueste Zeit erhalten, da sie auf ein rein menschliches, also nie veraltendes Princip basirt ist. Außerdem erzeugte das Mittelalter viele geheime Religionsgenossenschaften, welche, die Reformation vorbereitend, sich der Macht der Hierarchie nicht offen widersetzen konnten. Als diese im 16. Jahrh. durch den Sieg des Protestantismus gebrochen wurde, traten die Bestrebungen auf geistigem Gebiete wieder an die Öffentlichkeit u. die G-n G. verschwanden fast ganz. Dann aber erschienen sie auf der entgegengesetzten Seite, um den Kampf gegen das Princip der religiösen Duldung im Verborgenen wieder aufzunehmen. Der Orden der Gesellschaft Jesu, obwohl im Äußeren keineswegs als G. G. erscheinend u. von den Staatsregierungen theils geduldet, theils begünstigt, begann unter religiösem Deckmantel seine Agitationen zur Begründung einer modernen Priesterschaft Ihnen entgegengesetzt wirkte im 17. u. 18. Jahrh. die Gesellschaft der Illuminaten, deren Bestrebungen indeß in sofern mit denen der Jesuiten übereinstimmten, als beide darnach trachteten, die einflußreichsten Staatsämter mit Angehörigen ihres Bundes zu besetzen. Im Laufe des 17. u. 18. Jahrh. tauchten außerdem eine Menge G. G. auf, welche nicht sowohl auf ein Princip basirt waren, als vielmehr in einer hervorragenden Persönlichkeit ihren Einigungspunkt fanden. Schlaue Betrüger benutzten den Reiz, welchen das Geheimnißvolle u. Räthselhafte auf Menschen, namentlich niederer Bildung, ausübt, um sich mit dem Nimbus höherer Weisheit zu umgeben Sie setzten sich in den Ruf geheimer Kenntnisse u. Zauberkünste, unter denen das Goldmachen u. das Geisterbannen eine Hauptrolle spielte, u. beuteten die Leichtgläubigen aus, welche sich von ihnen täuschen ließen. Oft kam auch religiöse Überspanntheit dabei ins Spiel, wie namentlich bei der Gesellschaft der Rosenkreuzer zu Anfang des 17. u. bei den Betrügereien des Cagliostro zu Ende des 18. Jahrh. Die Französische Revolution rief die Geister abermals zu offenem Kampfe auf, so daß die Bestrebungen, auf geheimen Wegen der Wahrheit u. Freiheit zu Hülfe zu kommen, völlig aufhörten. Die G-n G. der späteren Zeit trugen fast alle einen politischen Charakter. Die auf offenem Felde besiegten Parteien nahmen ihre Zuflucht zur Conspiration, weshalb man diese Verbindungen, die keine dauernden Zwecke verfolgten, sondern in dem Sturze des Bestehenden ihr Ziel hatten, nicht eigentlich zu den G-n G. rechnen kann. Der Druck, mit welchem die Napoleonische Militärherrschaft auf einem großen Theile Europas lastete, rief eine Menge Geheimbünde, theils von demokratischer (Philadelphen), theils von patriotischer Tendenz (Carbonari, Tugendbund) ins Leben. Ebenso wie in Deutschland u. Italien der Sinn für nationale Unabhängigkeit Frankreich gegenüber in G-n G. gepflegt wurde, geschah dies in Griechenland der Pforte u. in Polen Rußland gegenüber (Hetairia, Philareten, Bund der Sensenmänner, Verein der Strahlenden). Mit Beginn der Restauration bildeten sich neue G. G., zum Theil auch änderten die bestehenden ihre Tendenz, welche, nachdem die Fremdherrschaft vernichtet war, auf politische Reformen im liberalen Sinne ausging. In Deutschland[59] waren der letzteren Art namentlich die burschenschaftlichen Verbindungen, in Italien die der Carbonari, deren Gesellschaft sich jetzt in Frankreich verzweigte u. die dort bestehenden revolutionären Verbindungen (Verein der schwarzen Nadel, der Sonnenritter, der europäisch reformirten Patrioten etc.) in sich aufnahmen. Nach der Julirevolution entstanden abermals neue G. G. von demokratischrevolutionärer Färbung. Die Bildung derselben ging namentlich von der studirenden Jugend aus, u. nach dem Vorgange des von Mazzini in Italien gestifteten Geheimbundes, des Jungen Italien, bezeichnete man die Mitglieder derartiger Vereine in den verschiedenen Ländern als Junges Frankreich, Junges Deutschland, Junges Polen, Junges Spanien, u. sprach auch von einem Jungen Europa, als einer Vereinigung der verschiedenen Nationalitäten angehörigen G-n G. demokratischer Tendenz. Der Versuch der Chartisten, auch in England ähnliche Verbindungen ins Leben zu rufen, hatte nur geringe Erfolge, da die Freiheit der Presse u. der Rede derartige Bestrebungen von vorn herein abschwächte. Auch in Deutschland erkaltete nach u. nach der Sinn für die Geheimbündelei; da die Regierungen weniger Besorgniß vor den Bestrebungen jugendlicher Phantasten zeigten, als Anfangs, so verlor die Sache an Reiz u. Interesse. Dagegen blieb Frankreich die Pflanzschule der G-n G., welche sich noch vermehrten, als der Socialismus u. Communismus die unteren Schichten der Gesellschaft zum Kampfe gegen die bestehenden Zustände aufreizte. Die Revolution von 1848 wandelte abermals die geheimen politischen Bestrebungen in öffentliche um, bis die Reaction zunächst die extremen Richtungen nöthigte, wieder die verborgenen Gänge aufzusuchen, aus denen sie sich hervorgewagt hatten. Während in Deutschland der praktisch-nüchterne Sinn des Volkes den geheimen Verbindungen sich um so mehr abhold erwies, als den vorwärts strebenden Geistern im öffentlichen Leben Spielraum genug blieb, um für neue Ideen in den Kampf zu treten, flüchtete sich in Frankreich u. Italien die Opposition gegen die bestehenden Zustände ins Verborgene u. vorzugsweise unter den unteren Klassen der Städtebewohner verzweigten sich geheime Vereine von social-republikanischer Farbe, unter denen die Marianne viel von sich reden machte.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 7. Altenburg 1859, S. 59-60.
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