Sibirien [2]

[951] Sibirien (Gesch.). Bis zur Eroberung durch die Russen war S. der civilisirten Welt unbekannt, u. nur wenige dürftige Nachrichten sind aus der ältesten Zeit aufbewahrt worden. Im 1. Jahrh. n.Chr. erscheinen die Hiongnu im Süden, bildeten im 4. Jahrh. das Reich Yüepo u. rückten im 5. Jahrh. ihre Zelte vor, um Europa zu überschwemmen. Nach Ein. eroberte sodann ein Tatarenkhan, nogaischer Abkunft, On, einen Theil von S., wurde aber von einem Empörer, Tschingi, wieder vertrieben, welchem wieder Taibuga, der Sohn des On, folgte; dieser gründete Tschingidin, das nachmalige Tumen, u. stiftete einen Regentenstamm, welchem die sibirischen Tataren nebst den Wogulen, Ostiaken u. andere Volksstämme gehorchten. Einer dieser Khane soll Sibir geheißen u. dem Lande den Namen gegeben haben. Nach And. regierte Khan Osom zu Küsil-Tura am Ischim. Auf ihn folgte Irtijschak, welchen ein Khan Dschingis von Tumen überwand, von dessen Nachfolger Sargatschik noch ein Volksstamm den Namen führt. Noch And. berichten, daß Taibuga von Dschingis-Khan die Gebiete am Irtisch, Ischim u. Tobol erhielt u. als erster erblicher Fürst von S. regierte, od. daß Scheibani-Khan, Sohn Tuschi's, Enkel Dschingis-Khans, 1242 mit einer Schaar Mongolen nach S. bis an das Eismeer vorgedrungen sei, das Reich S. gegründet u. von Tobolsk aus beherrscht habe. Auf ihn folgte Chodschah, auf diesen Mar; Letztern aber entthronte sein Schwager, der Khan Upak von Kasan, u. verlegte seinen Wohnsitz nach Tschingidin. Bei dieser Umwälzung wurden zwei Enkel Mars, Mahmet u. Angisch, heimlich gerettet, u. als sie erwachsen waren, vertrieb Mahmet den Upas, zerstörte Tschingidin u. gründete Sibir, nach welchem später das Land seinen Namen erhielt. Auf ihn folgte Angisch, auf diesen Mahmets Sohn Kasim, welcher zwei Söhne, Jediger u. Begbulat, hinterließ. Zu ihrer Zeit kam Kutschum, Sohn des Murtascha, aus der Kasalschia-Ordra nach S., tödtete die beiden Brüder u. unterwarf sich das Land. Wie weit seine Herrschaft sich erstreckte, ist nicht zu bestimmen; die Rußland zunächst gelegenen Völker waren ihm alle zinsbar, doch soll in Tumen ein von ihm unabhängiger Fürst regiert haben. Als Kutschum bei seinem Versuch den Islam in S. einzuführen vielen Widerstand fand, so rief er seinen Vetter Martasch zu Hülfe, welcher ihm seinen ältesten Sohn Ahmet-Girei mit vielen Priestern u. einer Kriegsschaar sandte. Durch die gewaltsame Bekehrungsweise machte Kutschum mehre Volksstämme von sich abwendig, u. diese versagten ihm, als er von Rußland angegriffen wurde, den Beistand. Nämlich unter Iwan III. Wasiljewitsch, Czaren von Rußland, wurden 1499 die ersten Schritte zur Entdeckung S-s durch Anika Stroganow, welcher sich in Permien niedergelassen u. daselbst bedeutende Salzwerke angelegt hatte, gethan. Er theilte seine Entdeckungen dem Czar mit, welcher ihm dafür das noch unbewohnte Land zwischen der Kama u. Tschussowaia u. später das ganze Gebiet am Flusse Tobol zum vererblichen Besitz verlieh. Als Iwan II. 1577 ein Heer gegen die Donischen Kosacken vorrücken ließ, um deren Räubereien Einhalt zu thun,[951] wurde eine Schaar von 6000 Kosacken mit ihrem Hetmann, Jermak Timofejew, von ihrer Heimath abgeschnitten u. genöthigt in ferne Gegenden zu entfliehen. Die Flüchtlinge gelangten bis an die Kama auf die Besitzungen Maximin Stroganows, eines Enkels Anikas, welcher sie aufnahm u. einen Winter hindurch ernährte. Da beschloß Jermak einen Streifzug nach S. zu thun, um die wilden Völkerschaften zu züchtigen, welche durch ihre Raubzüge die russischen Unterthanen belästigten. Diese waren die Wogulen, Ostiaken, Baschkiren u. Tscheremissen, welche aber unter dem Tatarenkhan Kutschum standen, der ihre Einfälle in Rußland unterstützte. Jermak, von Stroganow unterstützt, begann 1581 den Streifzug auf Flüssen aufwärts gehend. Zuerst schiffte er in den Tura, aus ihm in den Tobol u. aus diesem in den Irtisch. Aber noch ehe er dahin gelangte, war seine Mannschaft durch Gefechte, Krankheit u. Desertion bis auf 1636 M. vermindert. Beim weitern Vordringen verlor er noch über ein Drittel, u. nur mit etwa 1000 M. schlug er den mächtigen Kutschum 1582, eroberte dessen Wohnsitz Sibir u. unterwarf sich dessen ganzes Gebiet. Um sich in seiner Eroberung behaupten zu können, bat er den Czar Iwan IV. den Schrecklichen von Rußland um Beistand u. erklärte sich ihm für zinspflichtig. Der Czar sandte 1583 einige Hundert Mann, doch die Soldaten starben vor Hunger, u. da Jermak bei einem Streifzuge am Irtisch umkam, hatte die Eroberung schnell ein Ende. Allein schon 1586 wurde sie von Czar Fedor I. aufs Neue unternommen u. seitdem die Unterwerfung der Landesbewohner fortgesetzt. Die Hirtenvölker wurden nach einander überwältigt u. zum Tribut gezwungen. Schon 1639 gelangte Dimitri Kopilow bis zur östlichen Küste Asiens, u. innerhalb 59 Jahren waren alle sibirischen Völker, mit Ausnahme der Tschuktschen, unterworfen. Die Sieger bemühten sich einige Civilisation bei ihnen einzuführen, viele Russen ließen sich in S. nieder u. erbauten an passenden Orten Blockhäuser, um sich gegen die benachbarten Tataren zu vertheidigen, u. daraus entstanden allmälig Städte. Die Einfälle der Kalmücken u. Kirgisen hinderten die Fortschritte der Cultur, da diese Völker die Dörfer u. einzelnen Wohnungen zerstörten u. Einwohner u. Vieh mit sich forttrieben. Nur die Städte mit ihren Palisadirungen gewährten Schutz gegen ihre Räubereien. Seitdem S. unter russischer Herrschaft steht, wurde seine Bevölkerung durch eine Menge Verbannter vermehrt, welche von Rußland aus oft in großer Anzahl dahin transportirt wurden (s. oben S. 950). Auch Kriegsgefangene wurden gewöhnlich dahin gesandt, u. in ihnen erhielt das Land seine betriebsamsten Einwohner, bes. seitdem Peter der Große nach dem Siege bei Pultawa die schwedischen Gefangenen, unter welchen sich viele Handwerker befanden, dahin verwies. Die Halbinsel Kamtschatka, welche auch zu S. gehört, wurde den Russen erst 1690 bekannt, u. einige Jahre darauf erhielt Wladimir Atlassow den Befehl sie zu erobern. Die Kamtschadalen leisteten zwar nur schwachen Widerstand, doch wurde die Eroberung erst 1706 vollendet. Die russischen Befehlshaber verübten gegen die Kamtschadalen große Grausamkeiten u. reizten sie dadurch zu mehrmaligen Empörungen, welche jedesmal mit Strömen von Blut gebüßt wurden. Die schon schwache Bevölkerung wurde dadurch u. durch die Lustseuche u. das Pockengift, welche Krankheiten ihnen die Eroberer zubrachten, zum größten Theil aufgerieben. Nach Kamtschatkas Eroberung begannen die Entdeckungsreisen der Russen auf dem westlichen Ocean, wobei 1741 von Beering die Aleutischen Inseln, 1750 von Andr. Tolstoi die Andreasinseln, darauf noch die Fuchsinseln u. die Kurilen entdeckt u. in Besitz genommen wurden. Über die neueste Geschichte S-s u. namentlich über die Machtentwickelung Rußlands im Amurgebiet s.u. Russisches Reich S. 556 f. Vgl. J. E. Fischer, Sibirische Geschichte von der Entdeckung etc. bis auf die Eroberung S-s durch die russischen Waffen, Petersb. 1768, 2 Bde.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 15. Altenburg 1862, S. 951-952.
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