Unfallversicherung

[893] Unfallversicherung (hierzu Beilage: »Unfallversicherung in Deutschland und den wichtigsten übrigen Ländern«), die Versicherung gegen die wirtschaftlich nachteiligen Folgen von Unfällen. Unfall ist ein Ereignis, das infolge einer plötzlichen, vom Betroffenen nicht gewollten äußerlichen Einwirkung Körperverletzung oder Tötung eines Menschen herbeiführt (Näheres s. Unfall). Körperschädigung, die durch allmähliche Einwirkung schädlicher Verhältnisse eintritt, ist nicht Unfall, sondern Krankheit. Die U. wird entweder gegen Unfälle überhaupt (allgemeine U.) oder gegen Betriebsunfälle (Betriebs-U.) oder gegen Reiseunfälle (Reise-U.) geschlossen. Eine besondere Bedeutung hat seit dem Aufkommen der Maschinenindustrie und der modernen Transportmittel die Unfallgefahr und deshalb auch die U. für die Lohnarbeiter. Allein wirtschaftliche Lage, Lebensgewohnheit und Bildungsgrad der Arbeiter verhindern es, daß diese sich insgesamt selbst und auf eigne Kosten im Wege des privatrechtlichen Versicherungsvertrages (reine Privatunfallversicherung) gegen Betriebsunfälle versichern. Und doch erfordert Staats- und Gesellschaftsinteresse eine solche Versicherung, denn die Klasse der Handarbeiter repräsentiert den zahlreichsten Bevölkerungsteil, und[893] die Zahl der Betriebsunfälle ist groß (bei 19,876,027 im J. 1904 in unfallversicherungspflichtigen Betrieben versicherten Personen wurden 834,815 Personen wegen Unfällen entschädigt), groß also auch die durch Unfälle verursachte wirtschaftliche Not und nicht unbedenklich die aus dieser Not hervorgehende Unzufriedenheit dieser Arbeiterklasse, weshalb die U. zur Lösung der Arbeiterfrage beiträgt. Drei Wege schlägt der moderne Staat zur Hebung genannten Übelstandes ein: 1) Erweiterung der privatrechtlichen Haftpflicht des Unternehmers. Früher regelmäßig nur bei eignem Verschulden schadenersatzpflichtig, sollte er später auch ohne eignes Verschulden haften, und zwar sogar bei Zufall, außer wenn höhere Gewalt vorliegt, zum mindesten aber bei Verschulden seiner Angestellten; jene erstere, stärkere Art insbes. bei Eisenbahnen (vgl. Haftpflicht, S. 610); 2) staatliche Subvention und event. auch Leitung privatrechtlicher, auf freiwilligem Beitritt beruhender Versicherungsanstalten; 3) zwangsweise Errichtung öffentlich-rechtlicher Unternehmerverbände mit öffentlich-rechtlicher Haftpflicht gegenüber den Arbeitern bei jedem Unfall, also für jedes fremde Verschulden und jeden Zufall, auch höhere Gewalt, jedoch nicht bei Vorsatz des Verletzten (öffentlich-rechtliche Arbeiterunfallversicherung mit Versicherungszwang). Die erste und dritte Form beruhen auf dem gemeinsamen Gedanken, daß die Unfallfürsorge wirtschaftlich als ein Teil der Produktionskosten anzusehen sei. Wie der Unternehmer Schäden an den Arbeitsgeräten zu tragen habe, so müßten ihm auch Schäden an den Arbeitskräften zur Last fallen; er könne diese in dem Verkaufspreis der Ware wieder einziehen. Wo die erste Form zur Anwendung kam, führte sie zu einer großen Ausdehnung privatrechtlicher Unfallhaftpflicht (Kollektivversicherung), indem sich die Unternehmer gegen die ihnen aus der gesetzlichen Haftpflicht für Betriebsunfälle aller ihrer Arbeiter obliegenden Leistungen bei Privatversicherungsanstalten versicherten. In Deutschland gab das Haftpflichtgesetz von 1871 den Anstoß zur Errichtung von Unfallversicherungsgesellschaften, die sich ausschließlich mit der U. als Kollektivversicherung befaßten oder sie neben andern Versicherungszweigen betrieben. Die U. war sonach eine Haftpflichtversicherung, indem sie nur solche Schäden berücksichtigte, für welche die Unternehmer kraft Gesetzes ihren Arbeitern gegenüber haftbar waren, meist aber wurde im Interesse der Vereinfachung und der Meidung von Prozessen die Ausdehnung auch auf die nicht haftpflichtigen Unfälle vorgezogen. Da kein Zwang zur Versicherung bestand und die U. eine ungleichmäßige war, so wurde das Haftpflichtgesetz, das überdies nur für einen beschränkten Kreis von Arbeitern galt und sonst mit Mängeln behaftet war, bald als ungenügend empfunden. Daher wurde zunächst die U. der Arbeiter durch Reichsgesetze einer öffentlich-rechtlichen Regelung unterzogen, nachdem die Reichsregierung vorher, um brauchbare statistische Unterlagen zu schaffen, vom August bis November 1881, also in einer teils in die Sommer-, teils in die Winterperiode fallenden Erhebungszeit aus 93,554 gewerblichen Betrieben mit 1,615,253 männlichen und 342,295 weiblichen Arbeitern statistische Erhebungen veranstaltet hatte (Unfallstatistik, 1887 und 1897 wiederholt für die gewerblichen Berugsgenossenschaften, 1891 und 1901 für die Landwirtschaft). Weiteres über die (öffentlich-rechtliche) Arbeiterunfallversicherung in Deutschland und im Ausland sowie über die Privatunfallversicherung s. in der Textbeilage.

[Literatur.] Lewis, Lehrbuch des Versicherungsrechts (Stuttg. 1889); die Artikel »Arbeiter-« und »Unfallversicherung« im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«, 2. Aufl., Bd. 1 u. 7 (Jena 1898 u. 1901); Piloty, Reichsunfallversicherungsrecht (Würzb. 1890–93, 3 Bde.); »Handbuch der U.«, bearbeitet von Mitgliedern des Reichsversicherungsamtes (neue Ausg., Leipz. 1901); Riesenfeld, Das besondere Haftpflichtrecht der deutschen Arbeiterversicherungsgesetze (Berl. 1894); Weyl, Lehrbuch des Reichsversicherungsrechts (Leipz. 1894); Bödiker, Die Unfallgesetzgebung der europäischen Staaten (das. 1884) und Die Arbeiterversicherung in den europäischen Staaten (das. 1895); Zacher, Die Arbeiterversicherung im Ausland (Berl. 1900 ff., bisher 17 Hefte); Laß und Zahn, Einrichtung und Wirkung der deutschen Arbeiterversicherung (3. Ausg., das. 1904); die Kommentare zu den deutschen Gesetzen von Eger (Bresl. 1886), Landmann (Nördling. 1886), Woedtke (5. Aufl. von Caspar, Berl. 1901; Textausgabe mit Anmerkungen, 8. Aufl., das. 1904; »U. in land- und forstwirtschaftlichen Betrieben«, 2. Aufl., das. 1888), Hoffmann (3. Aufl., das. 1906), Gräf (4. Aufl., das. 1904; »Gewerbeunfall-Versicherungsgesetz«, 3. Aufl. von Keidel, Ansb. 1901), W. Hahn (Leipz. 1901), Piloty (2. Aufl., Münch. 1902), Fuld (für das Bauunfallversicherungsgesetz, Berl. 1887). Ärztliche Kommentare etc. s. Artikel »Unfallheilkunde«; Wengler, Katechismus der U. (Leipz. 1898); Hiestand, Schadensersatzanspruch des Versicherers gegen den Urheber der Körperverletzung etc. (Stuttg. 1896) und Grundzüge der privaten U. (das. 1900); Heimann, Ergebnisse der berufsgenossenschaftlichen U. (Berl. 1897); Menzel, Arbeiterversicherung nach österreichischem Recht (Leipz. 1893); Artikel »U.« im »Österreichischen Staatswörterbuch« (2. Aufl., Wien 1904 ff.); Ehrenzweigs »Assekuranz-Jahrbuch« (Wien); Manes, Die Haftpflichtversicherung (Leipz. 1902); »Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes« (Berl., seit 1885); »Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik« (hrsg. von Sombart, Weber und Jaffé, Tübing. 1904 ff., neue Folge von Brauns »Archiv für soziale Gesetzgebung«); »Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft« (Berl. 1901 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 893-894.
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