Freiwillige Gerichtsbarkeit

[80] Freiwillige Gerichtsbarkeit (Jurisdictio voluntaria), die Mitwirkung von Gerichten und diesen gleichgestellten Behörden oder Beamten in solchen rechtlichen Angelegenheiten, bei denen zwischen den beteiligten Personen kein Streit besteht, im Gegensatz zur streitigen Rechtspflege (Jurisdictio contentiosa), der Tätigkeit der Gerichte bei streitigen Rechtsangelegenheiten. Bis zum Inkrafttreten des Reichsgesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17. Mai 1898 (Abkürzung: RFG) am 1. Jan. 1900, war für Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit in Deutschland das Landesrecht maßgebend. Eine eingehende Regelung hatte diese Materie bis dahin jedoch nur im altpreußischen Rechtsgebiet, in Württemberg, Sachsen, Baden und Hessen gefunden, die übrigen Bundesstaaten hatten sich mit gelegentlichen Einzelvorschriften beholfen. Infolgedessen wich denn auch das Verfahren in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit in den einzelnen Bundesstaaten erheblich voneinander ab. Durch die Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches wäre allerdings für Deutschland die Möglichkeit gegeben gewesen, auch die in Frage stehende Materie einheitlich zu regeln, da aber das langersehnte Ideal einer deutschen Rechtseinheit sich leider unerreichbar zeigte, zudem die Behördenorganisation in den einzelnen Bundesstaaten erheblich voneinander abwich, so konnte das neue Reichsgesetz nicht in allen Punkten eine einheitliche Regelung vornehmen und überließ insonderheit die Organisation der Behörden, die zur Mitwirkung bei Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit berufen sind, den Landesregierungen. So kam es, daß sämtliche Landesregierungen mit Ausnahme von Bayern und Württemberg, welche die einschlägigen Bestimmungen in den Ausführungsgesetzen zum Bürgerlichen Gesetzbuch niederlegten, eingehende Ausführungsbestimmungen zum RFG erließen, die in besondern Ausführungsgesetzen zum RFG zusammengefaßt sind; Preußen hat diese Ausführungsbestimmungen in einem preußischen Gesetz über die s. G. vom 21. Sept. 1899 zusammengefaßt. Einheitlich für das ganze Deutsche Reich sind durch das RFG insonderheit geregelt: 1) die Vormundschafts- und Pflegschaftssachen; 2) die Annahme an Kindes Statt; 3) die Personenstandssachen; 4) die Nachlaßsachen, insbes. die Auseinandersetzung in Ansehung eines Nachlasses; 5) die Auseinandersetzung in Ansehung eines gütergemeinschaftlichen Gesamtguts; 6) die Führung des Schiffs-, Handels-, Genossenschafts-, des Güterrechts- und Vereinsregisters, des Muster- und Börsenregisters, daher die Bezeichnung Registergericht (s.d.); 7) Leistung des Offenbarungseides; 8) die Untersuchung und Verwahrung von Sachen; 9) Bestimmungen über die Art des Pfandverkaufes; 10) Beurkundung von Rechtsgeschäften; 11) Beglaubigung von Unterschriften oder Handzeichen; 12) Aufnahme von Wechselprotesten; 13) Bewilligung der öffentlichen Zustellung einer Willenserklärung oder der öffentlichen Bekanntmachung der Kraftloserklärung einer Vollmacht; 14) Bestellung eines Vertreters des Eigentümers zur Entgegennahme der Kündigung einer Hypothek, Grundschuld, Rentenschuld; 15) die Herstellung von Teil-Hypotheken,-Grundschuld,-Rentenschuldbriefen etc. An und für sich sind die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit für die erste Instanz grundsätzlich den Amtsgerichten übertragen, doch kann das Landrecht für einzelne (wie Anerkennung der Vaterschaft, Vormundschaftssachen, Auseinandersetzungssachen etc.) andre Behörden, wie Gemeindebehörden oder Notare, für zuständig erklären. Der Beschwerdeweg in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit geht nach dem Reichsgesetz vom 20. Mai 1898, § 19ff., vom Amtsgericht an das Landgericht, von hier die weitere Beschwerde an das Oberlandesgericht, in Preußen an das Kammergericht in Berlin, in Bayern an das Oberste Landesgericht in München, da ein Bundesstaat, in dem mehrere Oberlandesgerichte vorhanden sind, ein Oberlandesgericht ausschließlich als oberste Beschwerdeinstanz bestimmen kann. Will das Oberlandesgericht von der Entscheidung eines andern Oberlandesgerichts oder des Reichsgerichts abweichen, so hat es die weitere Beschwerde dem Reichsgericht vorzulegen (RFG § 199, 28, bez. Grundbuchordnung § 102). Außerdem enthält auch noch das Bürgerliche Gesetzbuch, das Handelsgesetzbuch, das Binnenschiffahrts-, das Börsen-, das Personenstandsgesetz etc. eine Reihe von Bestimmungen, die zur freiwilligen Gerichtsbarkeit gehören.

Literatur: 1) Kommentare zum Reichsgesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit von Birkenbihl (Berl. 1900), Dorner (2. Aufl., Karlsr. 1902), Rausnitz (Berl. 1900), Schultze Görlitz (das. 1900); 2) Handausgaben von Jastrow (3. Aufl., das. 1902), Schneider (2. Aufl., Münch. 1901); 3) Systematische Darstellung: Josef, Lehrbuch des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit im Deutschen Reich und Preußen (Berl. 1902); 4) Entscheidungssammlung: Entscheidungen in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und des Grundbuchrechts, zusammengestellt vom Reichsjustizamt (das. 1900ff.); 5) Formularbücher von Jastrow (14. Aufl., das. 1903), Weizsäcker-Lorenz (nur für Preußen, das. 1900); »Formularbuch für s. G.«, auf Veranlassung des Berliner Anwaltsvereins verfaßt (bisher erschienen 1. Teil: Handelsrecht, 2. Teil: Bürgerliches Recht das. 1901ff.); 6) Kommentare zum preußischen Gesetz von Schultze-Görlitz u. Oberneck (das. 1900) und Wellstein (das. 1903); 7) Zeitschriften: »Zentralblatt für s. G. und Notariat sowie Zwangsvollstreckung«, hrsg. von Lode (Leipz. 1900ff.), sowie sämtliche Notariatszeitschriften.[80]

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 80-81.
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