Felix [2]

[179] Felix, Elisabeth Rachel, gewöhnlich mit Hinweglassung ihres Vaternamens Mlle. Rachel genannt, geb. am 24. März 1820 zu Mumpf im Schweizercanton Aargau von armen israelitischen Hausirern, verlebte ihre erste Jugend in der äußersten Armuth in der Schweiz u. dem südlichen Deutschland, später in Lyon, wo ihr Vater deutschen Sprachunterricht ertheilte u. sie selbst mit ihrer älteren Schwester Sarah auf den Straßen u. in den Kaffeehäusern sang, was sie auch später in Paris, wohin die Familie 1830 zog, fortsetzte. Hier wurde Charon, Director der Schule für Kirchenmusik, auf sie aufmerksam u. nahm sie in diese Anstalt auf. Da sie jedoch weniger Anlage zur Sängerin, als zur Schauspielerin zeigte, so verwandte sich Charon für ihre Aufnahme in die Declamationsschule von Pagnon St. Aulaire, Mitglied des Théâtre Français. 1836 trat sie zum ersten Male als Hermione in Racines Andromaque u. als Soubrette in Molières Phi losophe marié auf einem kleinen Theater auf. Zu ihrer weiteren Ausbildung besuchte sie dann das Conservatorium u. erhielt 1837 ein Engagement am Théâtre du Gymnase. Auf Verwendung des Schauspielers Samson, der ihr Talent zu würdigen wußte, kam sie 1838 an das Théâtre Français, wo sie mit ihrem Debut als Camille in Corneilles Les Horaces einen ungewöhnlichen Triumph feierte. Ihrer äußeren Erscheinung nach keineswegs schön, war sie auf der Bühne eine durch Würde u. Hoheit imponirende Figur. Ihr gewaltiges Sprachorgan, welches sie mit einer großen Leichtigkeit handhabte u. mit seiner Berechnung von der Ruhe des Gemüths bis zur höchsten Leidenschaftlichkeit zu steigern vermochte, am liebsten aber durch grelle Übergänge zu überraschenden Effecten verwandte, verbunden mit einer Lebhaftigkeit der Darstellung im Mienen- u. Geberdenspiel, welche die Grenze des bisher für erlaubt Gehaltenen weit überschritt, riß das an starke Nervenreize gewöhnte französische Publicum zu einem Enthusiasmus hin, welcher bald auch in die Nachbarländer verpflanzt wurde. Anmuth u. echte Weiblichkeit lag nicht in ihrer Natur, weshalb ihr Spiel auch nur solchen Rollen angemessen war, in denen das Weib, losgerissen von ihrer ursprünglichen Bestimmung, männliches Wesen annimmt u. entweder auf dämonische od. auf heldenmäßige Weise ihre Persönlichkeit zur Geltung bringt. Der Richtung der Zeit entsprach diese Weise ihres durchaus naturalistischen Spiels, welches, jede akademische Regel verschmähend, der Subjectivität freien Lauf ließ. Sie verfiel dadurch in das der Convenienz entgegengesetzte Extrem, indem sie ihre Rolle aus dem Gewebe der Dichtung losriß u. diese zu dem bedeutungslosen Rahmen ihres eigenen Spiels machte. Ihre bedeutendsten Rollen waren die antiken Heldinnen der französischen Klassiker: Corneille, Racine u. Voltaire. Die Wiederbelebung dieser Figuren der klassischen Zeit, welche Rachel F. auf eine geniale Weise zu Stande brachte, indem sie denselben eine romantische Natürlichkeit verlieh, war für die dramatische Dichtkunst in Frankreich von ersichtlichen Folgen, insofern die klassische Richtung über die romantische das Übergewicht gewann u. viele junge Theaterdichter, unter anderen Ponsard, dadurch angeregt wur[179] den, die Weise Corneilles u. Racines nachzuahmen. Manche dieser Stücke wurden nur in der Absicht geschrieben, daß die Rachel darin auftreten möchte, eine Gunst, die sie den Romantikern im Anfange ihres Ruhms entschieden verweigerte. Das erfolgreichste Stück, welches Scribe speciell für die Künstlerin schrieb, war Adrienne Lecouvreur. In diesem sowohl, wie in ihren anderen Hauptrollen, trat sie auch auf den bedeutendsten Bühnen Deutschlands, Englands, Rußlands u. Nordamerikas mit großem Beifall auf. 1840 wurde sie vom Théâtre Français definitiv engagirt, mit einem Gehalt von 60,000 Fr., u. blieb in dieser Stellung bis 1856. Von einer Kunstreise aus Nordamerika 1856 nach Paris zurückkehrend, erkrankt u. verstimmt über die Triumphe, welche Adelaide Ristori auf dem Theater erntete, ging sie zur Herstellung ihrer Gesundheit nach Ägypten; kränker als je, kehrte sie im Herbst 1857 nach Frankreich zurück, bezog eine Villa in Cannet bei Toulon, um in dem milden Klima der Mittelmeerküste den Winter zuzubringen, starb aber daselbst am 4. Jan. 1858 u. wurde auf dem Kirchhof Père Lachaise zu Paris begraben. Vgl. Janin, Rachel et la tragédie. Par. 1858.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 6. Altenburg 1858, S. 179-180.
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