Rationalismus

[836] Rationalismus (vom lat. Ratio, die Vernunft), 1) im Allgemeinen die Maxime des Denkens, nur das für wahr zu halten, was man entweder aus nothwendigen od. aus überwiegend wahrscheinlichen Gründen für gültig halten muß, also die Denkart, welche sich überall das Recht der Prüfung u. Entscheidung nach vernünftigen Gründen vorbehält u. ihr Fürwahrhalten sammt dem davon abhängigen Handeln von der Beschaffenheit u. dem Gewichte dieser Gründe abhängig macht. Der R. kann sich daher in den verschiedensten Richtungen zu erkennen geben; in diesem allgemeinen Sinne des Wortes spricht man eben so von einem rationellen Landbau u. rationeller Medicin, als von rationeller Gesetzgebung u. Theologie. Der R. schließt zuvörderst. die gedankenlose Aufnahme der von der Erfahrung dargebotenen Thatsachen aus u. ist in dieser Beziehung dem Empirismus (s.d.) entgegengesetzt; daher R. als Bezeichnung einer philosophischen Denkweise die Ansicht bezeichnet, daß das menschliche Wissen nicht blos an die Erfahrung gebunden, sondern daß das vernünftige Denken eine wesentliche Quelle desselben ist; sodann aber schließt er auch die Unterwerfung des prüfenden Denkens unter eine äußere Autorität, sei es eine politische od. kirchliche, aus. In dieser letzteren theologischen Beziehung bedeutet 2) R. die Denkweise, welche in Sachen des religiösen Glaubens dem Inhalte der Offenbarung gegenüber für das menschliche Denken das Recht der freien Untersuchung u. Prüfung in Anspruch nimmt. Der Gegensatz zwischen R. u. Supernaturalismus (s.d.), welcher sich somit auf das Verhältniß der Vernunft zu der Offenbarung überhaupt od. zu dem in einem bestimmten kirchlichen Lehrbegriff als geoffenbarte Lehre Festgestellten bezieht, kann da gar nicht entstehen, wo der Inhalt des religiösen Glaubens nicht mit dem Anspruch auf die Dignität eines geoffenbarten auftritt u. als solcher von einem mehr[836] od. weniger geschlossenem Prkesterstand geltend gemacht wird; er findet sich daher in vielen heidnischen Religionen nicht, od. wenn in ihnen, wie z.B. beiden alten Griechen, die Vorstellungen der Volksreligion durch ein prüfendes Denken zersetzt werden, so tritt die darin liegende rationalistische Denkweise wenigstens nicht in der Form einer kirchlichen Opposition auf. Innerhalb der Christlichen Kirche dagegen ist der R. naturgemäß in der Regel als Gegensatz zu den kirchlich sanctionirten Dogmen angesehen worden; die Katholische Kirche hat Regungen dieser Art häufig unter dem Namen der Ketzereien verdammt u. oft genug verfolgt. Als wissenschaftlich anerkannte, innerhalb der Kirche geduldeten Denkweise hat sich der theologische R. nur innerhalb des Protestantismus ausbilden können. Die Anfänge desselben zeigen sich im 17. Jahrh. bei Spinoza u. Herbert von Cherbury, welcher der Vernunft das Recht zur Prüfung jeder als geoffenbart auftretenden Religion zusprach. Mit großer Ruhe u. Entschiedenheit vertrat dieselbe Richtung Locke (s.d.), nicht in sofern, als ob er die Thatsache der Offenbarung selbst bezweifelt od. den Satz bestritten hätte, daß Alles, was Gott wirklich geoffenbart habe, wahr u. gewiß sei, sondern dadurch, daß er geltend machte, daß jede unmittelbare od. mittelbare Offenbarung dem Menschen nur durch ihre Angemessenheit an die Gesetze seines natürlichen Denkens verständlich werden könne, u. daß daher kein sich als geoffenbart ankündigender Satz für wahr gehalten werden könne, welcher übrigens evidenten Sätzen zuwiderlaufe. In allen Dingen, welche schlechthin wider die Vernunft seien, sei diese der Richter; es könne eben etwas Widervernünftiges nicht für geoffenbart gehalten werden; für die Offenbarung bleibe nur das übrig, was über die Vernunft gehe, u. ohne diese Unterscheidung des dem vernünftigen Denken Zuwiderlaufenden u. des die mögliche Einsicht derselben Übersteigenden fehle jedes Mittel, die ausschweifendsten Meinungen u. Lehren, welche sich als geoffenbart ankündigen, zurückzuweisen, u. jeder Grund, unter den verschiedenen Religionen, welche sich als geoffenbart ankündigen, einer bestimmten den Vorzug zu geben. Unter dem Einflusse Locke's entwickelte sich in England der R. durch eine Reihe von Theologen u. Philosophen, welche man unter dem Namen der Freidenker (s.d.) zusammenfaßt u. welche, zum Theil ohne die aufrichtige Frömmigkeit Lockes, nicht nur die einzelnen kirchlichen Dogmen angriffen, sondern auch den Begriff der Offenbarung selbst verwarfen, während die sogenannten Esprits forts (Freigeister) in Frankreich unter dem Einfluß der französischen Philosophie des 18. Jahrh. den R. in einen platten Naturalismus, Deismus, ja selbst Atheismus versinken ließen. Der Entwickelungsgang des deutschen theologischen R. war ein anderer. Der ursprüngliche Supernaturalismus der protestantischen Theologie stützte sich auf die Bibel als ein durchaus inspirirtes Buch u. gestattete den kirchlichen Symbolen gegenüber nur einen formalen, d.h. einen nicht auf den Inhalt, sondern lediglich auf die systematische Darstellung u. Verknüpfung der Dogmen gerichteten Vernunftgebrauch; aber im Geiste des Protestantismus lag theils das Streben einer Zurückführung des kirchlichen Lehrbegriffes auf seinen ursprünglichen, in der Bibel wirklich gegründeten Inhalt, theils ebendeshalb die Anerkennung einer freien Schriftforschung u. Schriftauslegung. War nun das sogenannte Zeitalter der Aufklärung (von der Mitte des 18. Jahrh. an) überhaupt geneigt, das Ansehen althergebrachter Überlieferungen einer Prüfung zu unterwerfen, so mußten historische u. dogmengeschichtliche Studien, wie sie Semler, exegetische Untersuchungen, wie sie I. Aug. Ernesti in Gang brachten, philosophische u. allgemein culturhistorische Anregungen, wie sie von Lessing u. Herder ausgingen, zu einer freieren Auffassung der kirchlichen Symbole u. zu einer Vergleichung der Bibel theils mit den kirchlichen Dogmen, theils mit den Gesammtergebnissen der modernen Cultur führen. Man fing an zwischen dem zu unterscheiden, was in der Bibel für geoffenbart zu halten sei u. was nicht; zu dem Letzteren rechnete man das, was in der Bibel entweder zu den erkannten Naturgesetzen od. zu anderweit feststehenden historischen Thatsachen nicht paßte; u. so vollzog sich von verschiedenen Seiten her ein Proceß der Ausscheidung dessen, was in der Bibel nur Form der Einkleidung sei u. eine nur bildliche Bedeutung habe, von dem, was in ihr den Kern der geoffenbarten Lehre bilde. Einen wichtigen u. weitgreifenden Einfluß übte in dieser Beziehung die Kantsche Philosophie aus, indem Kant in seiner Schrift »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, den Schwerpunkt des religiösen Interesse in das sittliche Moment gelegt u. nur diejenigen Glaubenssätze für wesentlich u. unentbehrlich erklärt hatte, deren Fürwahrhalten eine Bedingung u. ein Haltepunkt der sittlichen Veredelung des Menschen sei; u. der theologische R., welcher sich unter dem Einfluß seiner Lehre weiter entwickelte, suchte in dieser Beziehung der Religion auf die Sittlichkeit zwar keinen Grund den Begriff der Offenbarung selbst aufzuheben, aber er behielt der Vernunft das Recht vor, das, was für geoffenbart solle gehalten werden können, nach diesem Maßstabe zu beurtheilen. Der Gegensatz zu dem Supernaturalismus trat bes. seit 1817 bei Gelegenheit des Reformationsjubiläums u. der dabei von Cl. Harms (s.d.) im Sinne des Supernaturalismus veröffentlichen Thesen hervor u. wurde Veranlassung zu einem lebhaften Schriftenwechsel, in welchem sich sowohl die extremen Ansichten, als mannichfaltige Vermittelungsversuche geltend zu machen suchten. Die wichtigsten Vertreter des R. in dieser Periode waren Röhr, Paulus, Wegscheider, während Bretschneider, Ammon, Schott, Tzschirner etc. eine mehr vermittelnde Stellung einnahmen; daher man wohl auch oft von einem rationalen Supernaturalismus u. supernaturalen R. gesprochen hat. Einige Jahrzehnte später sind die Worte R. u. Supernaturalismus, wenigstens als Parteinamen, in den Hintergrund getreten. Schleiermachers »Reden über die Religion« u. »Christlicher Glaube« hatten der Religion u. dem christlichen Glauben eine die Grenzen des Kantschen praktischen Vernunftglaubens überschreitende Bedeutung vindicirt; u. obwohl die aus der Schellingschen u. Hegelschen Philosophie hervorgegangenen Versuche, die Mysterien der christlichen Dogmatik auf speculativem Wege zu construiren (s. Daub, Marheinecke), eigentlich einen philosophischen u. somit rationalistischen Charakter hatten, so waren sie doch von der Absicht geleitet, das Positive u. kirchlich Fixirte zugleich als das Wahre u. Unumstößliche zu rechtfertigen. Überdies hatte der aus der Kantschen Periode herstammende R. religiös aufgeregte Gemüther durch eine gewisse Trockenheit u. Nüchternheit[837] niemals ganz befriedigt; auch hatte er in seiner Auffassung der in der Bibel erzählten Facta, z.B. in seinen Versuchen die in der Bibel erzählten Wunder zu erklären, mancherlei Blößen gegeben, u. so mußte er die Herrschaft, welche er eine Zeit lang ausgeübt hatte, durch die Bezeichnung des abgestandenen ordinären R. (Rationalismus vulgaris) büßen. Wie schon früher, so ist namentlich seit 1849, wo die politische Reaction mit der kirchlichen Hand in Hand zu gehen für zweckdienlich hielt, die Empfehlung u. Forderung eines einfachen Buchstabenglaubens u. des Festhaltens an den Formeln einer starren Orthodoxie in weiten Kreisen hervorgetreten; auf der anderen Seite hat das in der rationalistischen Denkart liegende kritische u. negative Element in Dav. Strauß' Leben Jesu (1835) u. Christliche Glaubenslehre (1841) einen scharfen u. präcisen Ausdruck gefunden u. die Untersuchungen Ferd. Christ. Baur's u. seiner Anhänger (der sogenannten Tübinger Schule) über die Verfasser, die Entstehungszeit u. den Ursprung der neutestamentlichen Bücher u. überhaupt über die Anfänge der Christlichen Kirche den Kampf zwischen R. u. Autoritätsglauben von dem philosophischen auf das historische Gebiet versetzt. Vgl. Stäudlin, Geschichte des R., Göttingen 1826.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 13. Altenburg 1861, S. 836-838.
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