Niederländische Sprache und Literatur

[271] Niederländische Sprache und Literatur. Die niederländ. Sprache ist aus den Mundarten der in den Niederlanden seit dem 6. Jahrh. wohnenden german. Völkerschaften (Franken, Sachsen, Friesen) hervorgegangen. Das Altniederländische ist dem Altsächsischen (im »Heliand«) am nächsten verwandt; der Übergang ins Mittelniederländische (seit dem 12. Jahrh.) ist dem des Althochdeutschen ins Mittelhochdeutsche analog; ältestes Denkmal eine Keure (Verordnung) der Stadt Brüssel von 1229. Das Neuniederländische (Holländische), neben dem gegenwärtig im NO. das Friesische (s. Friesen), in Flandern und Südbrabant die Flämische Sprache (s.d.) als Dialekt gesprochen wird, hat sich seit Ende des 16. Jahrh. ausgebildet. Die jetzt gültige Orthographie ward nach dem System von Siegenbeek (1804), bes. durch den Unterrichtsminister van der Palm (1799-1806) festgesetzt. Grammatiken von Weiland (1805), Brill (1852 u.ö.), Kummer (1898) u.a.; des Mittelniederländischen von Frank (1883), von Helten (1887); Wörterbücher von Weiland (11. Bde., 1799-1811), de Vries und te Winkel (seit 1864), Dale-Oprel (1897 fg.), etymologische von Franck (1892) und Vercouillie (1891). – Vgl. te Winkel, »Geschichte der N.S.« (2. Aufl. 1898).

Die Nationalliteratur der Niederlande hat keine universalgeschichtliche Bedeutung erreicht. Die höfischen, dem karolingischen, brit., byzant. und klassischen Sagenkreise angehörenden Epopöen, erst aus dem Anfang des 13. Jahrh. stammend und als Übersetzungen meist von geringerm dichterischem WertRoman van Lancelot«, »Floris en Blancefloer« etc.), werden durch die der Tiersage angehörende Volksdichtung »Reinaert« (s. Reineke Vos) weit übertroffen, Ende des 13. Jahrh. aber von einer aus lat. Quellen schöpfenden didaktischen Dichtungsart (Reimchroniken, Lehrgedichte, Legenden), deren Hauptvertreter Maerlant (s.d.) und (im 14. Jahrh.) Boendale (»Der Leken spieghel«, 1325-30) sind, verdrängt. An ihre Stelle traten seit Mitte des 14. Jahrh. kürzere, von den Wanderdichtern, den sog. Sprekers (Hildegaersberch um 1350-1400), gepflegte Spruchgedichte. Dieselben fanden durch den bedeutendsten Dichter des 15. Jahrh., Dirc Potter (»Der Minnen Loep«), auch Eingang in die höfischen Kreise, welche sich damals mit dem Bürgerstande in den Kammern (poet. Vereine) der Rederijker zur Verfolgung gemeinsamer literar. Zwecke durch Übungen und Vorträge und zur Aufführung von Schauspielen verbanden. Die bedeutendste war die zu Amsterdam; ihre Mitglieder Marnix, Coornhert, Visscher, Spieghel, Vertreter des Klassizismus, um die Hebung der Schriftsprache durch grammatische Schriften und Aufstellung von prosaischen und poet. Mustern verdient, wurden noch übertroffen durch die drei originellsten niederländ. Dichter Hooft (1581-1647, Liebesgedichte, auch meisterhafte Prosa), Vondel (1587-1679, unübertroffen in Drama, Satire und Lyrik) und Huyghens (1596-1686, lyrische, didaktische, satir. Gedichte), welche den Höhepunkt der niederländ. Literatur bezeichnen. Neben ihnen gewann noch Coster mit satir. antikirchlichen Dramen, Cats (1577-1660) als populärer Schriftsteller (»Het boek van Vader Cats«) und Bredero (1585-1618) als Begründer des niederländ. Lustspiels Bedeutung. Seit Ende des 17. Jahrh. sank die Literatur, am tiefsten seit dem Überhandnehmen des franz. Einflusses, von dem sich nur wenig talentvolle Männer (Poot, Broekhuisen, Langendijk) freizuhalten suchten. Erst Ende des 18. Jahrh. trat bes. durch die Beschäftigung mit der deutschen und engl. Literatur eine Besserung ein, angebahnt durch die Schöpferin des Romans, Elisabeth Wolff und Agathe Deken, und die Dichter Alphen, Bellamy und Feith, fortgesetzt durch Bilderdijk, die Lyriker Helmers, Tollens, Loots, da Costa, Potgieter, Loosjes (auch Dramatiker), Staring (Humorist), den Didaktiker Kinker u.a. und vollendet durch van Lennep, welcher die Romantik einführte und durch seine poet. vaterländischen Sagen- und Geschichtserzählungen den falschen franz. Klassizismus zurückdrängte; ihm folgten Bogaers, ten Haar, Beets; im Roman: Oltmans (van den Hage), de Bosboom-Toussaint, Opzoomer (Wallis) u.a. Neue Bahnen wandelten etwa seit 1880 Hélène (Lapidoth)-Swarth, J. Perk, Gorter, Prins, Alb. Thijm, Couperus, Streuwels, Netscher u.a.

Weit bedeutender und von allgemeinem Einfluß war die wissenschaftliche Literatur der Niederländer, welche sich schon früh in den Kloster- und Domschulen zu Utrecht, Lüttich, Mecheln, Doornik etc. entwickelte und besonders durch die von Groote gestiftete Brüderschaft des gemeinsamen Lebens gefördert wurde; am frühesten und eifrigsten die Philologie und Altertumswissenschaft durch Agricola, Erasmus, Lipsius, Scaliger, Grotius, Vossius, die beiden Heinsius, Gronovius, Grävius, Burmann, Drakenborch, Wesseling, Hemsterhuis, Ruhnken, Valckenaar und Wyttenbach; durch die jüngern: Heusde, Lennep, Peerlkamp, Cobet, Herwerden u.a.; die Philosophie durch Descartes, Spinoza und Bayle, in neuerer Zeit durch Opzoomer. Um die Mathematik und die verwandten Wissenschaften erwarben sich hohe Verdienste: Ludolf van Keulen, Snell, Stevin, Huyghens, Jansen, Kaiser, Oudemans, Camper u.a.; um die Anatomie Vesalius, um die Medizin Boerhave; als Juristen: Grotius, der Begründer des Natur-, Staats- und Völkerrechts, in neuerer Zeit Thorbecke; als Historiker: Hooft, Grotius, Emmius, Stijl, Bakhuizen van den Brink, Fruin, de Jonge, Ypey (Kirchenhistoriker); als Geographen; Mercator, Ortelius und die Familie Blaeu. Außerdem wurde die niederländ. Wissenschaft und Literatur gefördert durch die Drucker- und Verlegerfamilien Plantin, Elzevier und Luchtmans. – Literaturgeschichten von van Kampen (1821-26), Siegenbeek (1826), Jonckbloet (4. Aufl., 6 Bde., 1896 fg.), ten Brink (1896); vgl. ferner die Werke von Schneider (1887) und Hellwald (niederländ. Theater, 1874).

Quelle:
Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 2. Leipzig 1911., S. 271.
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