Chénier

[2] Chénier (spr. schēnjé), 1) André, franz. Dichter, geb. 30. Okt. 1762 in Konstantinopel, Sohn von Louis C., Generalkonsul daselbst, und einer schönen und geistreichen Griechin aus dem Hause Santi-l'Homaka (ihre Schwester wurde die Großmutter Thiers'), gest. 25. Juli 1794, kam 1765 nach Frankreich und trat als Kadett in das Heer, entsagte aber diesem Beruf bald aus Liebe zur Poesie, verbrachte nach einer 1783 mit Freunden unternommenen Reise nach Italien glückliche, nur dem Studium und der Poesie gewidmete Jahre. 1788 versuchte er es noch einmal mit einer Berufstätigkeit, indem er La Luzerne als Gesandtschaftssekretär nach London begleitete. Allein er fühlte sich dort nicht glücklich und kehrte 1790 in die Heimat zurück. Hier trat er in den Klub der Gemäßigten und verfaßte die berühmte Schrift »Avis aux Français sur leurs véritables ennemis«, in der sich seine leidenschaftliche Liebe zur Freiheit und zu den Prinzipien der Revolution, aber auch seine heftige Abneigung gegen ihre Exzesse aussprach. Bei seinen Angriffen auf die Jakobiner im »Journal de Paris« (1792) geriet er mit seinem Bruder (s. Chénier 2) in eine peinliche Differenz, die indessen bald beigelegt wurde. Seit 1793 war auch sein Leben in Gefahr; er verbarg sich im stillen Versailles und erholte sich durch fast tägliche Besuche im nahen Louveciennes bei Frau Pourrat, für deren Tochter, Frau v. Lecoulteux (die »Fanny« seiner Oden), er eine tiefe Neigung empfand. 1794 wagte er es, nach Paris zurückzukehren; allein ein unglücklicher Zufall führte 7. März seine Verhaftung herbei, und 25. Juli, drei Tage vor dem Sturz Robespierres, fiel sein Haupt. Chéniers Bildung beruht ganz und gar auf dem klassischen Altertum. Seine Lieblingsdichter sind die griechischen und römischen Lyriker, vor allen Theokrit, Tibull, Properz; mit seltener Reinheit und Tiefe spiegelt sich deren Harmonie und Schönheit in seinen Poesien wieder. Er beschäftigte sich viel mit geographischen, historischen und astronomischen Forschungen, die er für seine großen Lehrgedichte »Hermès«, »L'Amérique« u. a. zu verwerten gedachte. Leider sind von diesen Epen nur geringe Bruchstücke vorhanden. Seine bukolischen Gedichte sind zarte, graziöse Genremalereien, meist im Spiegel antiken Lebens; die Elegien schildern die Freuden und Leiden des Poeten, sein Bedürfnis nach Freundschaft und Liebe, seine Sehnsucht nach der Natur und seine Befriedigung im Studium; in den Episteln spricht er von dem hohen Flug, den sein Genius zunehmen gedachte. Die schönsten Blüten seiner Poesie finden sich in seinen Oden (»A Fanny«, »A Charlotte Corday«, »La jeune captive«, »Versailles«) und in den Jamben (»Comme un dernier rayon«); hier ist Harmonie und Präzision der Form mit Innigkeit und Wahrheit des Gefühls aufs glücklichste verbunden. So tritt C. in scharfen Gegensatz zu der trocknen Verstandespoesie des 18. Jahrh., wird aber doch mit Unrecht zu den Romantikern gerechnet. Mit größerm Recht nennt ihn Sainte-Beuve »notre plus grand classique en vers depuis Racine et Boileau«. Zu seinen Lebzeiten sind nur zwei seiner Gedichte gedruckt worden: das »Jeu de paume« und der ironische Hymnus in Jamben auf die revoltierenden Schweizer. Seine hinterlassenen Gedichte, meist Fragmente, wurden teilweise 1819 von Latouche veröffentlicht und mit Begeisterung aufgenommen. Jede neue Ausgabe brachte mehr Material; allein vollständig liegen die Poesien erst vor seit der Ausgabe Gabriel de Chéniers (1874), eines Neffen von André C. Am meisten zum Verständnis des Dichters beigetragen haben die geistvollen Studien Sainte-Beuves (in der »Revue des Deux Mondes«, 1839,1851) und die kritischen Ausgaben von Becq de Fouquières (1862,1872,1882; 1888 Luxusausgabe mit Radierungen Bidas). Die neueste Ausgabe (von Guillard) erschien 1899 in 2 Bänden. Vgl. Todeschini, Étude sur André C. (Mail. 1891); Rouquet, Les Chénier. Portraits, lettres et fragments inédits (Par. 1891); Haraszti, La poésie d'André C. (das. 1892); Morillot, A. C. (das. 1894); Zyromski, De A. Chenerio poeta (das. 1897); Glachant, André C. (das. 1902); Faguet, André C. (das. 1902). Auch schrieb Ed. Wacken ein Drama: »André C.« (Brüssel 1844).

2) Marie Joseph, der Hauptdramatiker der französischen Revolution, geb. 11. Febr. 1764 in Konstantinopel, gest. 10. Jan. 1811 in Paris, kam mit seinem Bruder André sehr jung nach Paris. Mit seinen ersten [2] Tragödien fiel er durch; dagegen fand »Charles IX« (1789) rauschenden Beifall, mehr wegen des revolutionären Inhalts und des Appells an die Leidenschaften des Volkes als wegen seines poetischen Wertes. Mit der Titelrolle begründete Talma seinen Ruhm. Es folgten 1791–94 die Tragödien: »Henri VIII«, »Calas«, »Cajus Gracchus«, »Fénelon«, »Timoléon«, die indessen weniger Beifall fanden; ja »Gracchus« und »Timoléon« wurden streng unterdrückt, weil man in ihnen mißbilligende Anspielungen auf Robespierre argwöhnte. Nachdem C. schon Mitglied des Konvents gewesen, trat er auch in den Rat der Fünfhundert und in das Tribunal; auf seinen Antrag wurde 1792 die Einrichtung der Primärschulen beschlossen. Er war eins der ersten Mitglieder des Instituts, das er hatte errichten helfen, und übernahm 1803 das Amt eines Generalinspektors des Unterrichts. Sein zur Krönung Napoleons ausgeführtes Drama »Cyrus« gefiel weder dem Publikum noch dem Kaiser und erlebte nur eine Ausführung; gar nicht ausgeführt wurden die Tragödien: »Philippe II«, »Brutus et Cassius«, »Tibère«, »Oedipe« etc. Durch den »Tibère« und vollends durch die »Epître à Voltaire« machte C. sich den Kaiser zum Feind; er mußte sein Amt als Generalinspektor niederlegen und hielt 1806 bis 1807 am Athenäum Vorlesungen über französische Literatur. Seine Tragödien enthalten mehr hohle Phrasen als Handlung, die Charaktere sind mehr skizziert als ausgeführt. Derselben Art sind seine Oden und Gesänge zur Verherrlichung der Revolution, wie »Hymne à la Raison«, »Hymne à l'Être suprême« etc.; dagegen ist der »Chant du départ« zum Volkslied geworden. Am glänzendsten zeigt sich Chéniers Talent in den Episteln und satirischen Gedichten; seine »Epître sur la calomnie« (1795), die Antwort auf den Vorwurf seiner Gegner, er habe die Hinrichtung seines Bruders mit herbeiführen helfen, ist unbestritten sein bestes Werk. Unter seinen prosaischen Werken ist das wichtigste das »Tableau de la littérature française depuis 1789« (1816), eine ziemlich oberflächliche Zusammenstellung, die jedoch neben manchen Ungerechtigkeiten (z. B. gegen Chateaubriand) auch viele treffende Urteile enthält. Seine »Œuvres complètes« sind von Arnault (1824–26, 8 Bde.), mit Einleitung und Untersuchungen von Daunou und Lemercier, herausgegeben. Vgl. W. Küchler, M. I. Chéniers dramatische und lyrische Dichtung (Leipz. 1900); Lieby, Étude sur le théâtre de Marie Joseph C. (Par. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 2-3.
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