Kirchenmusik

[48] Kirchenmusik, die in den christlichen Kirchen zur Verschönerung des Kultus eingeführte Musik, besonders die religiösen Gesänge mit oder ohne Instrumentalbegleitung. Die älteste K. war durchaus nur Gesangsmusik, doch scheint es, daß schon im frühen Mittelalter Blas- und Saiteninstrumente zur Begleitung im Einklang angewendet wurden; wenigstens berichtet ein Schriftsteller des 13. Jahrh. (Engelbert von Admont), daß alle Instrumente außer der Orgel aus der Kirche gewiesen wurden, weil sie an das weltliche Musizieren erinnerten. Im Laufe des 16. Jahrh. wurde die Verstärkung der Singstimmen durch Blasinstrumente oder auch Saiteninstrumente (Violen, Lauten) wieder allgemein, und mit der Einführung des Basso continuo um 1600 war der erste Schritt zu einer eigentlichen begleiteten K. geschehen, die sich nun schnell entwickelte (Viadana, Carissimi, Schütz, J. S. Bach). Auch die reine Instrumentalmusik wurde zu Ende des 16. Jahrh. in die Kirche eingeführt und zwar wohl zuerst in Venedig durch die Organisten der Markuskirche Claudio Merulo und die beiden Gabrieli, deren »Intonationen« in ähnlicher Weise den Chorgesang vorbereiteten (wenn auch nur der Tonarl nach) wie die von den deutschen Meistern zur höchsten Vollendung gebrachten Choralvorspiele. Die Geschichte der K. ist fast das ganze Mittelalter hindurch die Geschichte der Musik überhaupt, und wir können daher auf diese verweisen (s. Musik). Hier nur wenige Bemerkungen über die Entstehung der Formen der K. Bis etwa um das Jahr 900 war die K. durchaus nur einstimmig; der für die einzelnen Festzeiten genau bestimmte Choralgesang (vgl. Choral) enthielt wohl teils von den Juden übernommene Psalmen, teils heidnische Kultusgesänge (Hymnen), doch waren natürlich auch viele Gesänge neu hinzugekommen, die aber gleichfalls in ähnlichem Sinn erfunden waren, und vor allem hatte man fast alle die alten Melodien allmählich durch immer reichern Aufputz bereichert. Mit der Zeit ging das Verständnis der sich in reichen Verzierungen bewegenden alten Melodien verloren und griff eine starke Verschleppung derselben Platz. Die dadurch entstehende Monotonie führte auf neue Wege der Bereicherung des Kirchengesanges, nämlich ungefähr gleichzeitig auf die Dichtung der Sequenzen (s. d.) und die mehrstimmige Ausführung des Choralgesanges zunächst in der Form des zweistimmigen Organums, dann in der des ebenfalls zweistimmigen Diskantus und der dreistimmigen Faux-bourdon. Schon im 12. Jahrh. bildeten sich aber neben diesen eine Auszeichnung nicht bedürfenden improvisierten Ausschmückungen des Chorals freiere Formen der mehrstimmigen Bearbeitung, die einer schriftlichen Auszeichnung nicht entbehren konnten So entstanden allmählich die rudimentären Anfänge der Motettenkomposition, ja auch schon Ansätze zu künstlicher Imitation.

Bedeutende Theoretiker (Franco, Marchettus von Padua, Johannes de Muris) entwickeln allmählich bindende Gesetze für die Führung der Stimmen, und bereits zu Anfang des 14. Jahrh. wird auch das noch heute gültige Verbot paralleler Oktaven und Quinten aufgestellt. Um die Mitte des 15. Jahrh. ist bei den Niederländern der Kontrapunkt zu hoher Vollkommenheit entwickelt. Eine große Anzahl hochbedeutender Namen charakterisiert eine langdauernde Periode der Blüte des kunstreich imitierenden mehrstimmigen Satzes für Singstimmen ohne Begleitung (Busnois, Dufay, Ockenheim, Hobrecht, Josquin des Prés, Pierre de la Rue, Brumel, Clemens non Papa, Mouton, Fevin, Pipelare, de Orto, Willaert, de Rore, Goudimel, Orlando Lasso; dazu die Deutschen: Paul Hofhaimer, Heinrich Isaak, Ludwig Senfl, Hans Leo Haßler, Gallus, der Spanier Morales etc.). Aus den kurzen Motettensätzen der vorausgehenden Epoche haben sich mehrteilige große Werke entwickelt (Magnifikat, Tedeum), und auch die vollständige mehrstimmige Bearbeitung der Messen steht seit Dufay im Vordergrunde des Interesses der Tonsetzer. Minder künstlich, aber desto inniger im Ausdruck ist die gleichzeitige mehrstimmige Liedkomposition (Hymnen und weltliche Lieder), auf welche die sich von der alten Kirche abzweigende protestantische Kirche zur Verherrlichung des Gottesdienstes sich stützt; sehr viele Choräle sind durch Unterlegung kirchlicher Texte aus weltlichen Liedern entstanden. Auch die katholische Kirche nahm nun Veranlassung, auf einfachere Gestaltung der K. zu dringen. So wurde durch äußere Anregung der würdevolle einfache Palestrinastil geschaffen, dessen Vertreter außer Palestrina (gest. 1594) besonders Nanini, Ludovico da Vittoria und die beiden Anerio sind. Mit der Palestrina-Epoche verschwindet allmählich die Blüte kirchlicher Musik in Italien, und dieses verfällt in musikalischer Beziehung mehr und mehr der Oper, während in Deutschland sich die protestantische K. zu hoher und höchster Blüte entwickelt. Nur sofern die aus dem soeben (um 1600) aufkommenden musikalischen Drama und Oratorium mittelbar hervorgegangenen Formen des begleiteten Kirchengesanges (Kirchenkonzert, Kantate) von den in Italien gebildeten Deutschen (Heinrich Schütz) in ihr Vaterland verpflanzt wurden, haben die Italiener indirekten Anteil an der weitern großartigen Entwickelung der K., die in den Kantaten und Passionsmusiken J. S. Bachs gipfelte. Was seit Bach an K. noch geschrieben worden ist, atmet den Geist der neuern Zeit, ist im Aufwand der instrumentalen Mittel hier und da glänzender, im Melodischen weicher, sentimentaler, im Harmonischen pikanter, dissonanzenseliger, reicht aber in bezug auf die Größe der Totalanlage und den sittlichen Ernst der Auffassung nur in wenigen Fällen an Bach heran. Die größten Vertreter der neuern K. sind: Beethoven (Missa solemnis), Mozart (Requiem), Cherubini, Liszt und Bruckner. Das 19. Jahrh. findet eine Regeneration der K. durch Wiedererschließung der Schätze des 16. Jahrh. vor; von den Männern, die sich zu Trägern dieser Bewegung machten, seien hervorgehoben: K. Proske (gest. 1861), J. G. Mettenleiter (gest. 1858), Joseph Schrems (gest. 1872), Franz Xaver Haberl (geb. 1840), insbes. aber Franz Witt (gest. 1888), Begründer des Cäcilienvereins (s. Cäcilienvereine). Vgl. R. Schlecht, Geschichte der K. (Regensb. 1871); Kornmüller, Lexikon der kirchlichen Tonkunst (2. Aufl., das. 1891–95, 2 Tle.); Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied (Freiburg 1883–91, 3 Bde.); K. v. Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang (Leipz. 1843–47, 3 Bde.); Koch, Geschichte des Kirchenliedes u. Kirchengesanges[48] (3. Aufl., Stuttg. 1866–76, 8 Bde.); J. Zahn, Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder (Gütersloh 1888–93, 6 Bde.); Kümmerle, Enzyklopädie der evangelischen K. (das. 1884–95, 4 Bde.); Bachmann, Grundlagen und Grundfragen zur evangelischen K. (das. 1899), sowie die allgemeinen Musikgeschichtswerke. Zeitschriften: »Fliegende Blätter für katholische K.« (Regensb., seit 1866, seit 1900 u. d. T.: »Cäcilienvereinsorgan«, redigiert von Haberl); »Musica sacra« (von Fr. Xav. Haberl, das., seit 1868); »Der Chorwächter« (von Schilt, Solothurn, seit 1876); »Kirchenmusikalisches Jahrbuch« (von Haberl, Regensb., seit 1885); »Kirchenmusikalische Vierteljahrsschrift« (hrsg. von Feuerfinger, Salzb., seit 1886); »Gregorius-Blatt« (Düsseld., seit 1876) und »Gregorius-Bote« (das., seit 1884); »Der Kirchenchor« (Bregenz, seit 1871); »Lyra ecclesiastica« (Dublin, seit 1878); »Cäcilia« (Bresl., seit 1893); »Cäcilia« (Regensb., seit 1874; New York, seit 1877); »Musica sacra« (von G. Amelli, Mail., seit 1877); »Musica sacra« (Gent, seit 1882); protestantische: »Siona« (Gütersloh, seit 1876); »Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst« (Straßb., seit 1896); »Korrespondenzblatt des evangelischen Kirchengesangvereins« (Leipz., seit 1886).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 48-49.
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