Orgel

[114] Orgel (lat. Organum, franz. Orgue), ein Blasinstrument von gewaltigen Dimensionen, sowohl hinsichtlich ihrer räumlichen Ausdehnung als auch des Tonumfanges mit keinem andern zu vergleichen. Die drei Hauptteile der O. sind: das Pfeifenwerk, der Anblasemechanismus (Bälge, Kanäle, Windkasten, Windladen) und das Regierwerk, d.h. der Mechanismus, der dem Winde den Zugang zu den einzelnen Pfeifen öffnet (Klaviere, Traktur, Registerzüge). Die Pfeifen zerfallen in eine Anzahl Gruppen, Stimmen oder Register genannt, deren jede Pfeifen verschiedener Größe, aber gleicher Konstruktion und Klangfarbe vereinigt, d.h. jedes Register stellt eigentlich ein Blasinstrument dar, da jede Pfeife nur einen Ton gibt und daher so viel Pfeifen wie Tasten erforderlich sind. Die zu derselben Stimme gehörigen Pfeifen sind auch räumlich so aufgestellt, daß sie alle zusammen in Mitwirkung gezogen oder ausgeschlossen werden können und zwar durch die sogen. Registerzüge; das Herausziehen (Anziehen) der rechts und links vom Spieler aus der O. hervorstehenden Registerstangen öffnet dem Winde den Zugang zu den Pfeifen der betreffenden Stimmen so weit, daß es nur noch der Öffnung eines kleinen Ventils durch den Niederdruck der Taste bedarf, um den betreffenden Ton zum Ansprechen zu bringen; das Hineinschieben (Abstoßen) der Registerstange (der ganze Spielraum der Bewegung beträgt etwa einen Zoll) setzt die Stimmen außer Tätigkeit (vgl. Windkasten und Windladen). An neuern Orgeln finden sich noch besondere Vorrichtungen, um eine Anzahl Stimmen gleichzeitig anzuziehen oder abzustoßen (Kollektivzüge). Nicht das ganze Pfeifenwerk einer O. wird aber durch eine Klaviatur regiert, vielmehr hat auch die kleinste O. zwei Manuale (mit den Händen gespielte Klaviaturen) und ein Pedal (Klavier für die Füße); ganz große Orgeln haben bis fünf Manuale und zwei Pedale. Für jede Klaviatur sind besondere Stimmen disponiert; diejenige, welche die meisten und am stärksten intonierten Stimmen enthält, heißt das Hauptmanual. Das Nebenmanual liegt bei zweimanualigen Orgeln über dem Hauptmanual (Oberwerk); bei mehr als zwei Manualen liegt ein Manual unter dem Hauptmanual (Unterwerk), die andern darüber (Oberwerk und darüber das Soloklavier und Echowerk oder Fernwerk). Die Verkoppelung (s. Koppel) mehrerer oder aller Manuale oder des Pedals und des Hauptmanuals ermöglicht aber die Zusammenbenutzung der zu verschiedenen Klavieren gehörigen Stimmen. Die O. ist eines ausdrucksvollen Spieles nicht fähig (vgl. jedoch Harmonium und Crescendo), sondern kann die Tonstärke nur abstufen durch Anziehen oder Abstoßen von Registern oder durch Übergang auf ein andres Manual; das Charakteristische des Orgeltons ist daher starre Ruhe.

Man unterscheidet hinsichtlich der Art der Tonerzeugung Labialstimmen (Flötenwerke) u. Zungenstimmen (Schnarrwerke; vgl. Blasinstrumente), hinsichtlich der Tonhöhe, welche die Pfeifen eines Registers geben, Grund- oder Hauptstimmen und Hilfsstimmen. Grundstimmen geben Töne, die der Taste entsprechen (Kernstimmen, Äqualstimmen, Normalstimmen, zu 8 Fuß [8´], vgl. Fußton), oder eine höhere oder tiefere Oktave derselben (Seitenstimmen, Oktavstimmen zu 4´, 2´, 16´, 32´). Die wichtigste Kernstimme ist Prinzipal (s. d.), die älteste Orgelstimme, die vor 1000 Jahren beinahe ebenso konstruiert wurde wie heute. Die Hilfsstimmen (s. d.) geben Obertöne der Kernstimmen; man unterscheidet einfache Hilfsstimmen und gemischte. Sämtliche Hilfsstimmen sind Labialstimmen und haben Prinzipalmensur. Über die Eigentümlichkeiten der Gambenstimmen, Gedackt, Gemshorn, Bordun u.a. vgl. die Sonderartikel. Halbe Stimmen nennt man solche, die nur für eine Hälfte der Klaviatur disponiert sind, wie z. B. Oboe, das nur Diskantstimme ist und durch die Baßstimme Dolcian (Fagott) ergänzt wird. Übergeführte Stimmen sind solche, die im Baß keine eignen Pfeifen haben, sondern die einer andern Stimme benutzen (ohne Zutun des Spielers). Eine O. ohne Pedal und nur mit Labialpfeifen besetzt heißt Positiv, eine nur mit Zungenstimmen Regal. Die äußere Umkleidung der O. heißt Gehäuse, die vordere Fassade, die durch die schönsten Prinzipalpfeifen als Prunkstück geziert wird, Prospekt. Bei manchen Orgeln liegen die Klaviaturen nicht in einer Nische des Orgelgehäuses, sondern ein Stück vor demselben in einem frei stehenden Kasten (Spieltisch).

In Kompositionen für O. werden die Pedalnoten mit Ped. (Pedale, pedaliter), die Manualnoten mit Man. (Manuale, manualiter) oder auch mit s. p. (senza pedale) bezeichnet. Tritt neben dem Manual das Pedal mit einer vollkommen selbständig geführten Stimme auf, so schreibt man diese in ein drittes, unter die beiden für das Klavier üblichen gestelltes System (die Pedaltöne werden eine Oktave höher notiert, als sie klingen). Die Registrierung wird vom Komponisten nur selten angegeben, weil die Orgeln hinsichtlich ihrer Register große Verschiedenheiten aufweisen. Werden die sämtlichen Register zugleich benutzt, so nennt man dies das volle Werk (organo pieno); in allen übrigen Fällen jedoch hat die Registrierkunst des Organisten (d.h. dessen Geschmack hinsichtlich des Wechsels unter der Verbindung einzelner Register) endgültig zu entscheiden.

Der Ursprung des Instruments reicht ins Altertum zurück; seine Vorfahren sind die Sackpfeife und Panpfeife. Doch finden wir schon wirkliche Orgeln mit Winderzeugung durch Luftpumpen (Bälge) und Komprimierung der Luft durch Druck (Wasser) und Spiel mittels einer Art Klaviatur im 2. Jahrh. v. Chr. Als Erfinder dieser sogen. Wasserorgel (Hydraulis) wird Ktesibios (170 v. Chr.) genannt (beschrieben durch seinen Schüler Hero von Alexandria). In der Folge baute man Orgeln mit und ohne Wasserdruck in Griechenland und Italien, wie gelegentliche Notizen der Schriftsteller seit dem 4. Jahrh. und Reliefs etc. erweisen.[114] Im 9. Jahrh. wurde die O. Schulinstrument in den Klöstern. Jene ältesten Orgeln waren sehr klein und hatten in der Regel nur 8, höchstens 15 Pfeifen (2 Oktaven diatonisch), die genau so konstruiert waren wie die heutigen Prinzipalpfeifen. Doch stand schon um 980 in Winchester eine O. mit 400 Pfeifen und 2 Klavieren, die von zwei Spielern gespielt wurde (jedes Klavier zu 20 Tasten, der Umfang des Guidonischen Monochords, mit 10 Pfeifen für jede Taste, in der Oktave und Doppeloktave mehrfach besetzt). Von Mixturen weiß aber jene Zeit noch nichts. Die Scheidung des Pfeifenwerks in Register scheint im 12. Jahrh. vor sich gegangen zu sein. Die Orgeln des 4.–11. Jahrh. hatten eine leichte Spielart; dagegen wurde nach Einführung einer komplizierten Mechanik, welche die gewaltige Vergrößerung des Instruments bedingte, die Spielart im 13.–14. Jahrh. so schwer, daß die Tasten mit den Fäusten geschlagen oder mit den Ellbogen heruntergestemmt werden mußten. Die Einführung der Zungenpfeifen (Schnarrwerk) erfolgte im 15. Jahrh., die Erfindung des Pedals zu Anfang des 14. Jahrh. Verbesserungen der Traktur durch zweckmäßige Hebelvorrichtungen erleichterten bereits im 16. Jahrh. die Spielart der Orgeln so weit, daß die Entwickelung eines kunstmäßigen virtuosen Spiels möglich wurde. Doch blieb immerhin noch ein ziemlich starker Widerstand zu überwinden, bis der englische Orgelbauer Becker 1832 den pneumatischen Hebel erfand. 1842 erfand Walcker in Ludwigsburg die Kegellade, und schließlich wurde die Spielart so leicht, daß sie mit der des Klaviers rivalisiert durch die Anordnung von Röhrenpneumatik (Henry Willis 1867) und Elektromagnetismus (Barker 1867). Beide beruhen auf derselben Idee, nämlich der Ersetzung der vielen Hebelvorrichtungen der ältern Mechanik durch eine direkte Verbindung der Taste mit den Spielventilen, die dem Winde den Zutritt zu den Pfeifen öffnen und zwar durch Auslösung von Federkräften, so daß der Spieler selbst beim Spiel mit vollem Werke für den Niederdruck der Tasten auch nicht den kleinsten Widerstand zu überwinden hat. Die für den Hausgebrauch früher gebauten kleinen Orgeln hatten entweder nur ein paar Labialstimmen (Positiv) oder ein paar Zungenstimmen (Regal); dieselben wurden im 19. Jahrh. durch das Harmonium (s. d.) ersetzt. Die sogen. amerikanischen Orgeln sind Harmoniums, die statt durch Ausstoßen verdichteter Luft vielmehr durch Einsaugen (Auspumpen) die Zungen zur Ansprache bringen, die Erfindung eines Arbeiters der Harmoniumfabrik von Alexandre in Paris um 1835, seit 1846 durch die Firma Jakob Estey u. Cie. bekannter geworden (Estey- oder Cottage-Orgeln). Über die jahrhundertelang übliche eigentümliche Notenschrift für die O. vgl. Tabulatur. Berühmte Orgelbauer älterer und neuerer Zeit sind: Esaias Compenius in Braunschweig (16. Jahrh.), Arp. Schnitker in Hamburg, Zacharias Hildebrand, die Gebrüder Trampeli in Sachsen, die Silbermann, Hering, Krismann, Gasparini, Daublaine-Callinet und Cavaillé-Coll in Paris, Schulze in Paulinzelle, Buchholz in Berlin, Merklin und Schütze in Brüssel und Paris; in Deutschland gegenwärtig: Ladegast in Weißenfels, Walcker in Ludwigsburg, Sauer in Frankfurt a. O., Weigle in Stuttgart. Zu den hervorragendsten Orgelspielern gehörten im 14. Jahrh. Fr. Landino; im 15. Bernard der Deutsche in Venedig, Paul Hofhaimer, Konrad Paumann, Arnold Schlick, Jakob Paix und A. Squarcialupo; im 16. Claud. Merulo, Andrea und Giovanni Gabrieli und Cabezon; im 17. Frescobaldi, Froberger, Sweelinck, Georg Muffat, D. Buxtehude, Pachelbel, Reinken, Schein, Scheide mann, Scheidt; im 18. die Familien Couperin u. Bach, Händel, Marchand, Schröter, Türck, Kittel, Knecht, Rinck, Vogler, Buttstedt, Homilius; endlich im 19. Jahrh. Vierling, Séjan, Serassi, Bastiaans, Adams, K. F. Becker, D. H. Engel, Herzog, Hesse, Mendelssohn, Ritter, Schellenberg, Joh. Schneider, Töpfer, der blinde K. Grothe, A. G. Fischer, G. Merkel, Best, Thiele, Faißt, Haupt, Volckmar, Guilmant u.a. Viele der Genannten zeichneten sich zugleich im Fach der Komposition für O. aus. Empfehlenswerte Orgelschulen lieferten: Knecht (Leipz. 1795), Schneider (Halberst. 1829–30), Ritter (8. Aufl., Leipz. 1877, 3 Tle.), Kothe (9. Aufl., Bresl. 1903), Volckmar, Frankenberger, Brähmig, F. Zimmer, Lemmens (für katholische Organisten), Schütze, Homeyer etc.

Vgl. Bedos de Celles, L'art du facteur d'orgues (1766–78, 4 Bde.; Bd. 4, eine Geschichte der O. enthaltend, deutsch von Vollbeding, Berl. 1793; neu bearbeitet von Hamel 1849, mit Ergänzungen von J. Guédon, Par. 1903); Töpfer, Theorie und Praxis des Orgelbaues (2. Aufl. von Allihn, Weim. 1888); Hopkins, The organ, its history and construction (Lond. 1855); Seidel, Die O. und ihr Bau (4. Aufl., Leipz. 1887); Wangemann, Die O., ihre Geschichte und ihr Bau (3. Aufl., das. 1887); Locher, Die Orgelregister (3. Aufl., Bern 1904); Rietschel, Die Aufgabe der O. im Gottesdienste geschichtlich dargelegt (Leipz. 1892); Kothe und Forchhammer, Führer durch die gesamte Orgelliteratur (das. 1890–95, 2 Tle.); Ritter, Zur Geschichte des Orgelspiels im 14.–18. Jahrhundert (das. 1884, 2 Bde.); C. F. A. Williams, Story of the organ (Lond. 1903); Degering, Die O., ihre Erfindung und ihre Geschichte bis zur Karolingerzeit (Münst. 1905). Gemeinverständliche kürzere Schriften von E. F. Richter (4. Aufl., Leipz. 1896), F. L. Schubert (3. Aufl., das. 1898), Kothe (6. Aufl., Leobschütz 1904), Zimmer (2. Aufl., Quedlinb. 1896), H. Riemann (2. Aufl., Leipz. 1901), Dienel (Berl. 1891), L. Hartmann (2. Aufl., Leipz. 1904), H. Schmidt (Münch. 1904); »Urania«, Zeitschrift für Orgelbau und Orgelspiel (Erfurt, seit 1844, hrsg. von Gottschalg); »Zeitschrift für Orgel- und Harmoniumbau« (Graz, seit 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 114-115.
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