Tintenschnecken

[562] Tintenschnecken (Kopffüßer, Cephalopoda, fälschlich Tintenfische; hierzu Tafel »Tintenschnecken«), die am höchsten entwickelte Klasse der Weichtiere, verdanken ihren deutschen Namen der Eigenschaft, unter Umständen eine dunkle Flüssigkeit auszuspritzen, die das Wasser trübt und die Tiere den Blicken ihrer Feinde entzieht; wissenschaftlich heißen sie Kopffüßer, weil man die Arme, die rund um den Kopf angebracht sind (Tafel, Fig. 5), zu dem Fuß der Weichtiere in Beziehung brachte oder sie wegen ihrer Bedeutung für die Fortbewegung gewissermaßen als Füße ansah. Zum Verständnis des Baues der T. kann man sich das Tier als eine Schnecke vorstellen, die im Verhältnis zur Länge außerordentlich hoch und in normaler Lage mit dem Kopf nach unten gerichtet ist. Infolge davon ist die Bauchseite sehr kurz und schwal, der Rücken hingegen sehr umfangreich; von letzterm ist aber bei manchen Formen der hintere Teil heller als der vordere und erscheint so, zumal wenn das Tier auf ihm ruht, leicht als Bauchseite, was er in Wirklichkeit nicht ist. Der Kopf mit den Armen ist vom Rumpfe mehr oder weniger deutlich abgesetzt; bei den Achtarmern ist er wegen der mächtigen Arme so groß, daß der Rumpf, der alle Eingeweide birgt, mehr als Anhängsel erscheint. Die Arme stehen im Kranz um den Mund, sind außerordentlich muskulös und tragen zahlreiche Saugnäpfe oder auch Haken. Sie dienen zum Kriechen und Schwimmen sowie zum Ergreifen der Beute. Bisweilen ist zwischen ihrer Basis eine Haut ausgespannt; im übrigen haben viele T. zum Schwimmen noch zwei Flossen an den Seiten des Körpers. Auf der hintern, in der natürlichen Lage des Tieres untern Fläche befindet sich als eine Hautfalte der sogen. Mantel, der eine geräumige Höhle abschließt; in diese münden Darm, Niere und Geschlechtsorgane aus, auch liegen in ihr die Kiemen. Das Atemwasser wird in die Mantelhöhle durch einen weiten Spalt aufgenommen, dagegen nach dessen Verschluß durch eine enge Röhre wieder ausgestoßen. Diese (der Trichter) entspricht dem vordern Teile des Fußes der Schnecken und treibt, wenn das Wasser plötzlich durch sie entleert wird, mittels des Rückstoßes das Tier mit dem Hinterende voran durch das Wasser. Viele T. sind vollkommen nackt, andre haben in einer Tasche des Mantels eine flache, feder- oder lanzettförmige PlatteSchale«) aus Chitin, die bei der Sepie ziemlich umfangreich und durch Kalkablagerungen hart ist (daher im gewöhnlichen Leben »Sepienknochen«, auch Schulp, Os sepiae genannt). Alles dies sind mehr oder weniger erhaltene Rudimente der äußern Schale, die bei den Oktopoden gänzlich zurücktritt und nur noch in Andeutungen nachweisbar ist. Bei wenigen lebenden Cephalopoden ist eine äußere Schale vorhanden, die nur ausnahmsweise dünn und einfach kahnförmig (Argonauta, Tafel, Fig. 3), in der Regel spiralig gewunden und durch Querscheidewände in eine Anzahl Kammern geteilt ist, so bei Nautilius und Spirula (Tafel, Fig. 6 u. 7). Das Tier bewohnt nur die vordere größte Kammer (Fig. 7); die übrigen sind mit Luft gefüllt, werden aber von einem Fortsatz des Tierkörpers durchzogen (s. Ammoniten). Bei Spirula wird diese kleine gewundene und gekammerte Schale, das sogen. Posthörnchen, bereits zu einer innern Schale, da sie der Mantel umwächst (Fig. 6). Die Schale der Argonauta ist mit derjenigen der übrigen Cephalopoden nicht vergleichbar, da sie nicht wie diese vom Mantel, sondern von den Armen ausgeschieden wird. In der glatten, schlüpfrigen Haut liegen kontraktile Farbstoffzellen (Chromatophoren), die, von dem Nervensystem und dem Willen der Tiere abhängig, der Haut eine rasch wechselnde Färbung verleihen. Einige Arten, besonders die in der Tiefsee lebenden, haben in der Haut Leuchtorgane. Zum Schutz des Gehirns und der Sinnesorgane dient ein inneres Knorpelskelett im Kopfe. Dieser trägt auch die großen Augen, die fast so kompliziert gebaut sind wie die der Wirbeltiere. Hör- und Riechwerkzeuge sind gleichfalls vorhanden. – Der Mund hat einen hornigen Ober- und Unterkiefer in Gestalt eines Papageienschnabels und eine Zunge (radula) mit zahnartigen Platten und Haken. Der Darm ist ziemlich kurz, Speicheldrüsen und Leber sind sehr groß. Die Atmung besorgen ein oder zwei Paare federförmiger Kiemen (daher die Einteilung in Di- und Tetrabranchiaten). Das Gefäßsystem ist sehr entwickelt und besteht aus einem muskulösen Herzen nebst Arterien, [562] Venen und Kapillaren. Die Gefäße, die das Blut zu den Kiemen führen, sind gewöhnlich ebenfalls kontraktil (sogen. Kiemenherzen). Das Blut enthält kristallisierbares Hämocyanin, das gleich dem Hämoglobin der Wirbeltiere die Aufnahme des Sauerstoffs besorgt, aber nicht wie dieses Eisen, sondern Kupfer enthält, das auch die bläuliche Farbe des Blutes veranlaßt. Die geräumigen Nieren (1 oder 2 Paar) münden in die Mantelhöhle aus. Eigentümlich ist der obenerwähnte Tintenbeutel, der in den Darm ganz dicht am After mündet; bei der Sepie dient sein Produkt als Malerfarbe. Er fehlt nur wenigen T. völlig. Die Geschlechter sind bei den T. getrennt. Männchen und Weibchen unterscheiden sich zuweilen in ihrer Gestalt wesentlich (Tafel I, Fig. 1–3). Ersteres erzeugt für seine Samenfäden in einem besondern Abschnitte der Geschlechtsorgane komplizierte, über 1 cm lange, schlauchförmige Samenpatronen (Needhamsche Maschinen), die im Wasser eigentümliche Bewegungen ausführen und eine Zeitlang für parasitische Würmer gehalten wurden; sie öffnen sich später und ergießen den Samen in die weiblichen Leitungswege. Die Eier bilden sich in einem unpaaren Ovarium und werden dann nach Umhüllung mit Eiweiß und einer Kapsel entweder einzeln oder in Trauben und Schläuchen an allerlei Gegenstände angeheftet. Die Begattung erfolgt vielfach in der Art, daß ein dazu besonders eingerichteter, oft recht langer (Hectocotylus-) Arm des Männchens die Samenpatronen in die weibliche Geschlechtsöffnung überträgt (Fig. 1 u. 2). Bei einigen Arten, z. B. Argonauta, löst sich dieser Arm nach seiner Füllung mit Samenpatronen bei der Begattung vom Körper los und wird dann in der Mantelhöhle des Weibchens vorgefunden. Bei seiner Entdeckung wurde er für einen Eingeweidewurm (Hectocotylus octopodis), später sogar für das ganze Männchen der Tintenschnecke gehalten. Die jungen T. sind, wenn sie aus dem Ei kommen, bis auf die Größe den Alten gleich, haben aber infolge des großen Dotterreichtums der Eier eine sehr komplizierte Entwickelung durchgemacht.

Die T. sind ohne Ausnahme Bewohner des Meeres, und zwar leben sie sowohl an den Küsten als in großen Tiefen und auf der offenen See. Sie kriechen und schwimmen sehr behend, und einige entfalten eine im Verhältnis zur Größe ungeheure Körperkraft. Von den Wirbellosen sind es wohl die gewaltigsten und klügsten Raubtiere. Im allgemeinen bleiben sie ziemlich klein, jedoch erreichen die Formen der Tiefsee, von denen sich freilich nur selten Exemplare an die Oberfläche verirren und gefangen werden, enorme Dimensionen (Riesentintenfische, s. Kraken). Viele T. werden gegessen, auch wird der Farbstoff des Tintenbeutels sowie der »Sepienknochen« (s. oben) technisch benutzt. Nach der Anzahl der Kiemen teilt man die T. in Tetrabranchiata (Vierkiemer, die einzige noch lebende Gattung Nautilius, Tafel, Fig. 7) und Dibranchiata (Zweikiemer), letztere wieder in Octopoda (Achtarmer) und Decapoda (Zehnarmer) ein. Die Oktopoden, mit acht Armen, die an ihrer Basis durch eine Haut verbunden sind, mit kurzem, rundlichem Körper, ohne innere Schale und meist auch ohne Flossen, zerfallen in die Philonexidae, Argonautidae mit dem Argonauten oder Papiernautilus (Tafel, Fig. 1–3) und Octopodidae, zu denen unter andern der Pulpe (s. Tafel »Aquarium I«, Fig. 15) und die Moschuseledone (Eledone, riecht nach Moschus) gehören. Die weit zahlreichern Dekapoden besitzen außer den 8 Armen noch 2 lange Fangarme, ferner 2 Flossen und eine innere Schale. Man teilt sie danach, ob das Auge eine offene oder geschlossene Hornhaut besitzt, in Oigopsiden und Myopsiden ein; zu letztern gehören der Kalmar (s. d.), die Sepie (Tafel, Fig. 4 u. 5, und Artikel »Sepie«), zu erstern die Riesentintenfische (Architeuthis), Ommastrephes u. a. Zehnarmig, aber im übrigen recht abweichend, ist die noch mit gekammerter Schale versehene Spirula (Posthörnchen, Tafel, Fig. 6), und weiter die fossilen Belemniten etc. Die Vierkiemer haben zahlreiche zurückziehbare Tentakeln am Kopf und eine vielkammerige Schale; sie sind in der Gegenwart nur durch den Nautilus (Tafel, Fig. 7, und Tafel »Steinkohlenformation II«, Fig. 2) vertreten. – Weitaus die meisten T. sind nur versteinert bekannt. Die Vierkiemer treten schon im Silur mit Nautiliden (z. B. Clymenia, s. Tafel »Devonische Formation II«, Fig. 1), die Orthoceratiten (Orthoceras und ihnen nahestehende Formen, wie Cyrtoceras, Ophidioceras [Lituites], Gomphoceras, s. Tafel »Silurische Formation II«, Fig. 1, 10, 16 u. 17, und Tafel »Devonische Formation II«, Fig. 11) und im Devon auch mit Goniatiten (s. Ammoniten) auf; später erscheinen außer den bereits in der Trias wieder aussterbenden Ceratiten die Ammoniten im engern Sinne, die sich schon in genannter Formation, mehr noch im Jura und ebenso noch in hohem Grad in der Kreide entwickeln, aber mit dem Schluß der Kreide ihr Ende erreichen; es bleibt also für Tertiär- und Jetztzeit nur Nautilus. Als Rhynchoteuthis (s. Tafel »Kreideformation I«, Fig. 16) werden die Kiefer von Nautiliden bezeichnet. Die Zweikiemer beginnen in der Trias mit belemnitenartigen Tieren, echte Belemniten (s. Tafel »Juraformation II«, Fig. 13 u. 14) sind äußerst häufig in Jura und Kreide; die ganze Gruppe aber stirbt mit der Kreide aus, während die ebenfalls im Jura auftretenden Kalmare und Sepien bis jetzt zugenommen haben. Spirula und Octopus haben in der Vorwelt keine, Argonauta hat nur tertiäre Vertreter. Vgl. Férussac und d'Orbigny, Histoire naturelle des Céphalopodes (Par. 1835–40); Verany, Mollusques méditerranéens, Bd. 1: Céphalopodes (Genf 1847–51); Bronn-Keferstein, Klassen und Ordnungen des Tierreichs; Bd. 3: Cephalopoden (Leipz. 1869); Hoyle, Report on the Cephalopoda of the Challenger (Lond. 1887); Jatta, Cefalopodi viventi nel Golfo di Napoli (Berl. 1896); Chun, Die Cephalopoden der deutschen Tiefseeexpedition (Jena 1906).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 562-563.
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