Stadtrechte

[662] Stadtrechte, eine besondere Art der mittelalterlichen Quellen des Deutschen Rechtes, welche sich dadurch bildete, daß in den von dem allgemeinen Landrecht u. der Landesgewohnheit eximirten Städten über die Verhältnisse des städtischen Verkehres, der städtischen Verwaltung u. Verfassung eigene Normen entstanden, welche dann auch mehrfach von einer Stadt auf die andere übertragen wurden. Die ältesten S. reichen bis in das 11. Jahrh. hinaus. Ihr erster Ursprung läßt sich fast überall auf Privilegien zurückführen, durch welche die Stadtgemeinde aus dem Landgerichtssprengel als Commune mit eigener Obrigkeit u. eigenem Gericht ausgeschieden wurde, Vorrechte u. Exemtionen von Zöllen u. anderen Abgaben, Marktrecht u. dgl. erhielt. Diese Privilegien wurden später wiederholt u. mit vielfachen Zusätzen versehen, welche sich dann auch über die Rechte am Vermögen der Bürger, die Befugnisse des Königs od. Landesfürsten bei der Wahl der städtischen Beamten, das gerichtliche Verfahren, Erbrechtsverhältnisse, strafrechtliche Bestimmungen über Vertheilung der Bußen etc. verbreiteten. Daran schlossen sich, als die Städte im Laufe der Zeit gegenüber den[662] Stadtherren größere Gewalt gewannen u. der Rath die Gerechtsame der Stadt in seiner Hand vereinigte, auch autonomische Satzungen (Willküren, Einungen, Straa, Plebiscita, Conjuratio), mittelst deren die Commune unter Vermittelung ihres Rathes sich ihre eigenen Gesetze gab, so wie Urtheile des Stadtgerichtes, durch welche das ursprüngliche Recht weiter fortgebildet wurde. Indem man diese Satzungen u. Urtheile den Privilegien in dem Stadtbuche nachzuschreiben pflegte, auch wohl für dieselben zu besserer Bekräftigung noch ausdrücklich die landesherrliche Bestätigung einholte, wuchsen die S. zu immer größerem Umfang u. einer immer größeren Bedeutung empor. Im 13. u. 14. Jahrh. wurden die so angesammelten S. u. Stadtgewohnheiten neu redigirt; zuweilen verband man sie auch mit Abschriften von anderen mittelalterlichen Rechtsbüchern. Noch bedeutender wurde für die Geltung der S. der Umstand, daß bei Gründung neuer Städte od. auch aus anderen Veranlassungen, z.B. in Folge des sogenannten Zugrechts, wonach in schwierigeren Rechtssachen der Rath einer Stadt sich bei dem Rathe einer anderen Stadt Rechtsbelehrung erholen konnte, mehrfach das Recht einer Stadt auf andere Stadtcommunen übertragen wurde. Hierdurch entstanden allmälig ganze Familien von S-n, in denen das Recht einer Mutterstadt zuweilen sich in einer sehr weiten Ausdehnung verbreitete. Die bedeutendsten dieser S. sind folgende: Augsburg erhielt schon 1104 ein Privilegium, welches Kaiser Friedrich I. 1156 nur wiederholte. In den Jahren 1276–1281 wurde das gesammte in der Zwischenzeit angewachsene Material zu einem neuen S. verarbeitet, welches auch später noch durch eine Reihe neuer Bestimmungen sehr vermehrt wurde. Strasburg hatte schon im 12. Jahrh. ein ziemlich umfangreiches Stadtrecht in 118 Abschnitten, welches in lateinischer u. deutscher Sprache erhalten ist. Für Köln existirt vom Jahr 1169 eine Urkunde über das Recht des Voigtes u. Vicecomes über die Stadt, in welcher eines Privilegs Erwähnung geschieht, welches wegen hohen Alters kaum mehr habe gelesen werden können. Die Grundsätze über Privat- u. Strafrecht dieser Stadt sind nur aus S-n bekannt, denen die Jura Coloniae zu Grunde liegen. Dieselben gehen bis in das 12. Jahrh. hinauf. Schon 1120 war Freiburg im Breisgau mit Kölner S. bewidmet; von dort ging es nach Bern, Laupen, Sigmaringen, Waldkirch, Murten, Freiburg im Uechtlande über; andererseits verbreitete es sich über Colmar auf viele Städte der Pfalz, Schwabens u. des Elsaß. Köln selbst blieb Oberhof für 72 auswärtige Schöffenstühle. Soest in Westfalen hat eine alte lateinische Willkür aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrh, welche in der Mitte des 13. Jahrh. eine neue Redaction erhielt. Wahrscheinlich nach dem Muster dieser Stadt erhielt Lübeck seine erste Verfassung durch Heinrich den Löwen. Noch unter demselben Fürsten entstand daselbst 1170 ein ausführliches Stadtrecht, dessen Original zwar verloren gegangen ist, welches sich aber in mehren lateinischen Recensionen des 13. Jahrh. erhalten hat. Außerdem entstand in demselben Jahrhundert auch eine deutsche Bearbeitung. Durch die Verbindung der Hansa erlangte Lübisches Recht seitdem eine außerordentliche Verbreitung, in Holstein u. Schleswig, Mecklenburg, Pommern bis hinauf nach Esthland u. Livland (Reval, Narva, Wesenberg) erhielt dasselbe in fast allen bedeutenderen Städten Geltung, ebenso in einigen Städten der Mark Brandenburg u. Preußens; vgl. Hach, Das alte Lübische Recht, Lübeck 1839. Noch mehr Verbreitung fand das Recht von Magdeburg, dessen Grundlage ein Privilegium des Erzbischofs Wichmann von 1188 bildet, an welches sich Aufzeichnungen von 1235, 1261, 1295, 1304 u. 1338 anschließen. Das Recht von Magdeburg ging zunächst nach Halle, von da nach Neumarkt in Schlesien, nach Goldberg, Breslau u. Görlitz über. Von dort aus wurde es durch Rechtsmittheilungen auf eine große Menge anderer Städte Schlesiens u. der Lausitz übertragen. Ebenso herrschte das Magdeburger Recht in der Mark Brandenburg (Stendal, Jüterbogk, Guben); von der Stadt Brandenburg selbst ging es wieder auf Berlin, Spandau, Rathenow, Frankfurt a. d. O. über. In Pommern erhielten dasselbe Stettin u. Stargard, u. für das Preußische Ordensland bestimmte die Kulmer Handfeste von 1232, daß in den Städten das Magdeburger Recht bei allen Rechtssprüchen beobachtet werden solle. Über Kulm drang es auch in Polen, über Schlesien in Mähren ein. Von Halle ging es auf mehre obersächsische u. thüringische Städte (Leipzig, Dresden, Naumburg) über; vgl. Gaupp, Das alte Magdeburgische u. Hallische Recht, 1826. Goslar, dessen älteres Stadtrecht sich bes. auf zwei Privilegien des Königs Friedrich II. von 1219 u. Wenzel von 1390 stützt, während das neuere erst im 14. Jahrh. entstanden ist, theilte sein Stadtrecht den Städten Halberstadt, Nordhausen, Altenburg, Hannover mit; vgl. Göschen, Die Goslarer Statuten, Berl. 1840. München erhielt ein ausführliches Stadtrecht 1347 durch Kaiser Ludwig IV., welches dann auch anderen Städten Baierns (Aichach, Ingolstadt, Landsberg, Weilheim etc.) mitgetheilt wurde. Dasselbe ist im Ganzen eine Bearbeitung des Baierischen Landrechts, mit Berücksichtigung früher der Stadt München ertheilter Privilegien. In gleicher Weise erhielt die Stadt Freising durch Bischof Albrecht II. um die nämliche Zeit ein ausführliches Stadtrecht, welches sich ebenfalls an das Baierische Landrechtsbuch anschließt. Unter den böhmischen S-n zeichnet sich bes. das Stadtrecht von Prag aus; dasselbe besteht theils aus einem Privilegium Sobieslaws I. (bestätigt durch Wenzel 1192 u. Ottokar 1274), theils aus Statuten, welche in den Jahren 1314–1418 entstanden sind. Viele böhmische Städte richteten sich nach Prager Recht; vgl Rösler, Die Altprager S. aus dem 14. Jahrh., 1845. In Mähren erhielt bes. das Brünner Schöffenbuch, in der Mitte des 14. Jahrh. von einem Stadtschreiber Johannes daselbst verfaßt, ein vielverbreitetes Ansehen; vgl. Rösler, Die S. von Brünn aus dem 13. u. 14. Jahrh., 1853. In Österreich war das Recht von Enns Mutterrecht für Wien; letztere Stadt selbst wurde 1221 durch Herzog Leopold mit einem ausführlichen Privileg versehen, welches 1244 u. 1278 mit einigen Erweiterungen u. Abänderungen eine neue Bestätigung erhielt Ein neues umfassendes Stadtrecht entstand daselbst 1435. Von Wien erhielt Krems sein Stadtrecht im Jahr 1305. Mit der späteren Ausbildung der Territorialhoheit, welche die Selbständigkeit der Städte zerstörte, u. mit der größeren Verbreitung des Römischen Rechtes sank das Ansehen der älteren S. Bei einigen derselben nahm man im 16. u. 17.[663] Jahrh. mit Rücksicht auf diese Umgestaltungen neue Redactionen (Reformationen) vor, welche dann namentlich für die privatrechtlichen Verhältnisse eine Menge römischer Rechtsbestimmungen in sich aufnahmen u. auch die ursprüngliche Verfassung durch Verdrängung der ungelehrten Schöffen aus den Gerichten u. Erhöhung des Einflusses der rechts-gelehrten Doctoren ummodelten. Im 18. Jahrh. sank die Bedeutung der S. so weit herab, daß meist nur einzelne Bestimmungen über städtische Verfassung, Heergeräthe, Gerade etc. sich noch als gültig erhalten hatten. Die übrigen wurden durch die nunmehr zu immer größerer Bedeutung sich entwickelnde Landesgesetzgebung verdrängt. Vgl. Riccius, Entwurf von Stadtgesetzen od. Statutis, Frankf. u. Lpz. 1740; Dreyer, Zusätze u. Verbesserungen hierzu in Scholts Sammlung der deutschen Stadt- u. Landrechte I., 1772; G. Walther, Geschichte der Bernerischen S., Bern 1794; Gaupp, Deutsche S. des Mittelalters, Breslau 1851–52; Genrgle, Deutsche S. des Mittelalters, Erl. 1852; Bischoff, Österreichische S., Wien 1857.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 16. Altenburg 1863, S. 662-664.
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