Geistliche Gerichtsbarkeit

[504] Geistliche Gerichtsbarkeit. Nicht nur in Disziplinarangelegenheiten, und zwar hier in viel größerm Umfang als die evangelische Kirche, sondern auch in Strafsachen und bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nimmt die katholische Kirche Jurisdiktionsbefugnisse in Anspruch. Der Bischof mit der aus seinen Räten gebildeten Behörde (Generalvikariat, Ordinariat, Offizialat, Konsistorium, Diözesangericht), der Erzbischof und der Papst oder der Beauftragte des letztern sind die Instanzen. Im einzelnen ist zu unterscheiden:

I. Kirchliche Disziplinargewalt und Kirchenzucht. 1) Über ihre Diener beanspruchte die katholische Kirche schon im 3. Jahrh. eine Disziplinargewalt wegen Vergehen im Amt oder unwürdigen Verhaltens; daran hielt in der Folge auch die evangelische Kirche fest. Die katholische Kirche wendete als Strafmittel an: körperliche Züchtigung, Einsperrung in ein Gefängnis (incarceratio), Verstoßung in ein Kloster (detrusio in monasterium), Geldstrafen, Strafversetzung oder Versetzung auf eine schlechtere Pfründe (translocatio), Entziehung des Benefiziums (privatio beneficii), Deposition, Degradation und Suspension auf unbestimmte Zeit. Die evangelische Kirche kannte in erster Zeit nur Strafmittel innerhalb des kirchlichen Gebiets; später kommen auch weltliche Strafen, wie Verweis, Geldstrafen, Suspension, Strafversetzung, unfreiwillige Emeritierung, vor. Die Ausübung der kirchlichen Disziplinargewalt wurde aber sehr früh der Aussicht des Staates unterworfen. So hatte man in Frankreich das Rechtsmittel des Recursus ab abusu (Appel comme d'abus), das in Art. 6ff. der sogen. organischen Artikel zur Konvention vom 15. Juli 1801 dahin geregelt ward, daß jeder Interessierte in allen Fällen des Mißbrauchs seitens der kirchlichen Obern sich an den Staatsrat wenden durfte; der Begriff des Mißbrauchs (abus) war sehr ausgedehnt definiert. Das bayrische Religionsedikt vom 26. Mai 1818 regelt den Rekurs gegen den Mißbrauch, ebenso die Staatsministerialentschließung, den Vollzug des Konkordats betreffend, vom 8. April 1852; in Württemberg können nach Gesetz vom 30. Jan. 1862 Verfügungen und Erkenntnisse der Kirchengewalt gegen die Person oder das Vermögen nur von der Staatsgewalt vollzogen werden, und diese leiht den weltlichen Arm nur nach genauer, selbständiger Prüfung des Sachverhalts. Das badische Gesetz vom 9. Okt. 1860 enthält bezüglich des Vollzugs eine ähnliche Bestimmung wie das württembergische. Das österreichische Gesetz vom 7. Mai 1874 bestimmt (§ 28) bezüglich des Recursus ab abusu, daß, wenn durch die Verfügung eines kirchlichen Obern ein Staatsgesetz verletzt wird, der hierdurch in seinem Recht Gekränkte sich an die Verwaltungsbehörde wenden kann, die Abhilfe zu schaffen hat, sofern die Angelegenheit nicht auf den Zivil- oder Strafrechtsweg zu überweisen ist. Für die Durchführung kirchlicher Anordnungen und Entscheidungen wird staatlicher Beistand nur dann gewährt, wenn die Grenzen, die der Staat für die Ausübung der Disziplinargewalt gezogen hat, innegehalten wurden. Für Preußen wurde durch die sogen. Maigesetze, die jedoch durch die Gesetze vom 14. Juni 1880, 31. Mai 1882 und 21. Mai 1886 wesentlich abgeschwächt worden sind, folgender Rechtszustand geschaffen: Das Gesetz vom 12. Mai 1873 über die kirchliche Disziplinargewalt insbes. noch schützt die Diener der privilegierten christlichen Kirchen. In allen Fällen ist die Entscheidung schriftlich unter Angabe der Gründe zu erlassen und der Beschuldigte immer zu hören; bezüglich der Strafgewalt werden körperliche Züchtigung, Geldstrafen über 90 Mk. oder über den Betrag eines einmonatlichen Amtseinkommens hinaus und jede andre Art von Freiheitsentziehung als durch Verweisung in die sogen. Demeritenanstalten für unzulässig erklärt. Endlich nimmt der Staat auch für sich eine Disziplinargewalt über Kirchendiener in Anspruch, welche die auf ihr Amt oder ihre geistlichen Amtsverrichtungen bezüglichen Vorschriften der Staatsgesetze oder die in dieser Hinsicht von der Obrigkeit innerhalb ihrer gesetzlichen Zuständigkeit getroffenen Anordnungen so schwer verletzen, daß ihr Verbleiben im Amt mit der öffentlichen Ordnung unverträglich erscheint. In der evangelischen Kirche sind die Disziplinarbefugnisse der Oberkirchenräte, Konsistorien und Kultusministerien durch die Kirchenordnungen geregelt.

2) Auch über Laien verhängt die Kirche Disziplinarstrafen, Zensuren, Zuchtmittel. Hierher gehören: die Exkommunikation oder der Kirchenbann[504] (s. Bann); ferner das Interdikt, das entweder ein lokales, d. h. Einstellung aller öffentlichen kirchlichen Funktionen in einem bestimmten Bezirk, oder personales ist, das gewisse Klassen von Personen, den Klerus oder die Einwohner eines Ortes oder auch nur eine Person (als mildere Form der Exkommunikation) betrifft. Früher hat die katholische Kirche auch gegen Laien Gefängnisstrafen und Geldbußen verhängt. Die evangelische Kirche kannte ursprünglich nur den kleinen Bann, erst später auch den großen: Bußübungen, Versagung des christlichen Begräbnisses und gewisser Auszeichnungen, selbst Geldbuße und Leibesstrafen. Schon im Mittelalter trat indessen die Notwendigkeit ein, dem Mißbrauch der kirchlichen Straf- und Zuchtmittel entgegenzutreten. Es geschah dies teils durch den Recursus ab abusu (s. oben), teils durch die Einrichtung des Plazet (s.d.), d. h. der Notwendigkeit staatlicher Bestätigung der kirchlichen Urteilssprüche.

II. Kirchliche Gerichtsbarkeit in Strafsachen. Zuerst über Geistliche, später auch über Laien beanspruchte die katholische Kirche eine Kriminalgerichtsbarkeit zunächst wegen gemeiner kirchlicher Verbrechen (delicta ecclesiastica communia), besonders: Ketzerei, Apostasie, Simonie, sodann wegen besonderer Verbrechen der Geistlichen, und endlich wegen sogen. gemischter Verbrechen (delicta mixta): Gotteslästerung, Zauberei, Kirchenschändung, Meineid, Zinswucher, Fleischesverbrechen.

III. Die Zivilgerichtsbarkeit sprach die katholische Kirche an über Geistliche, die im Deutschen Reich einen privilegierten Gerichtsstand vor den geistlichen Gerichten erlangt hatten; aber auch hinsichtlich der Laien wurden Alimentensachen, Ehesachen, Gelübde, Verlöbnisse etc. vor geistliche Gerichte gezogen, und auch in der evangelischen Kirche entwickelte sich eine g. G., die sich namentlich in Ehesachen bis in die neuere Zeit erhielt. In Deutschland wurden die Rechte der geistlichen Gerichtsbarkeit in Strafsachen wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten durch das Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Jan. 1877 beseitigt, das (§ 15) ausdrücklich bestimmt, daß die Gerichte Staatsgerichte sind, daß die Ausübung einer geistlichen Gerichtsbarkeit in weltlichen Angelegenheiten ohne bürgerliche Wirkung sein und dies insbes. für Ehe- und Verlöbnissachen gelten soll Vgl. München, Das kanonische Gerichtsverfahren (2. Aufl., Köln 1874, 2 Bde.); Schulte, Über Kirchenstrafen (Berl. 1872); Droste, Kirchliches Disziplinar- und Kriminalverfahren gegen Geistliche (Paderb. 1882); Trusen, Das preußische Kirchenrecht im Bereich der evangelischen Landeskirche (2. Aufl., Berl. 1894); die Ausgaben der preußischen Kirchengesetze von Hinschius (das. 1873–86, 4 Bde.); Hollweck, Die kirchlichen Strafgesetze (Mainz 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 504-505.
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