Disziplinargewalt

[58] Disziplinargewalt (Disziplinarstrafgewalt, Disziplinarstrafrecht), die dem Staat kraft seiner dienstherrlichen Stellung gegenüber seinen Beamten zustehende Strafgewalt wegen Verletzung der Dienstpflicht (Dienstvergehen). Die Dienstvergehen können strafrechtlich zu ahnden sein (Amtsverbrechen, s. d.) oder nur disziplinarisch (Dienstvergehen im engern Sinn). Eine grundsätzliche Grenze zwischen beiden gibt es nicht,. ihre Abstufung ist eine Sache positiver Festsetzung. Übrigens kann dieselbe Handlung eine Disziplinarstrafe und eine eigentliche Strafe nach sich ziehen. Die Disziplinarstrafgewalt der Kirche sowohl gegenüber den Privatpersonen als gegenüber den Kirchendienern ist von der staatlichen Gesetzgebung sehr eng begrenzt worden. Vor allem ist aber nunmehr in Deutschland gegen kirchliche Disziplinarentscheidungen das Rechtsmittel der Berufung an die zuständige Staatsbehörde gegeben (recursus ab abusu), in Österreich jedoch nur dann, wenn durch die Verfügung der kirchlichen Behörde ein Staatsgesetz verletzt wurde. Auch der D. der Präsidenten der parlamentarischen Körperschaften ist hier zu gedenken, die um so bedeutungsvoller ist, als wenigstens nach deutschem und österreichischem Recht kein Mitglied einer solchen Versammlung außerhalb derselben wegen einer in ihr getanen Äußerung zur Rechenschaft gezogen werden kann.

Bezüglich der Staatsdiener ist der Grundsatz allgemein anerkannt, daß sie sowohl wegen eigentlicher Amtsverbrechen (s. d.) als auch wegen gemeiner Verbrechen und Vergehen durch richterliches Urteil nach vorangegangener gerichtlicher Untersuchung bestraft und ihres Amtes für verlustig erklärt werden können. Nach österreichischem Strafrechte tritt Ämterverlust ein bei Bestrafung wegen eines Verbrechens oder wegen der Übertretungen des Diebstahls, der Veruntreuung, des Betrugs und des Vergehens des Wuchers. Diese strafrechtliche Ausstoßung aus dem Dienst wird als Dienstentsetzung (Kassation) bezeichnet. Aber der Staatsdiener steht vermöge seines besondern Dienstverhältnisses unter einer doppelten Strafgewalt. Er kann unter Umständen auch auf dem Verwaltungsweg mit Disziplinarstrafen belegt und sogar entlassen werden. Für diese Ausstoßung aus dem Dienstverhältnis im Disziplinarweg ist der Ausdruck Dienstentlassung gebräuchlich. Unfleiß, Fahrlässigkeit, Leichtsinn im Dienst, Ungehorsam oder Widerstand gegenüber den Vorgesetzten, unkollegiales oder unsittliches-Betragen, insbes., wenn dadurch ein öffentliches Ärgernis gegeben und das Ansehen der Behörde bloßgestellt wird, sind Gründe zu einem disziplinaren Einschreiten. Hierbei muß aber die Gesetzgebung den Beamten gegen Willkür schützen. In diesem Sinn ist in den Verfassungsurkunden, Beamtengesetzen und besondern Gesetzen über die D. das Disziplinarverfahren geregelt, soz. B. in Preußen für die Richter durch Gesetze vom 7. Mai 1851, 26. März 1856 und 9. April 1879, für die nicht richterlichen Beamten durch das Gesetz vom 21. Juli 1852. Für die Beamten des Deutschen Reiches gilt das Reichsgesetz vom 31. März 1873, die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten betreffend. Dieses Gesetz hat auch dem württembergischen Gesetz vom 28. Juni 1876, dem sächsischen vom 3. gleichen Monats, dem hessischen vom 21. April 1880, dem badischen vom 24. Juli 1888 und dem bayrischen Richterdisziplinargesetz vom 26. März 1881 zum Muster gedient. Das Reichsgesetz hat als Ordnungsstrafen (§ 74), d.h. als Strafen, die auch zugleich auf eine künftige bessere Führung des Beamten hinwirken sollen: Warnung, Verweis und Geldstrafe (mit oder ohne Verweis), als eigentliche Disziplinarstrafen (§ 75 ff.): Strafversetzung, verbunden mit Verminderung des Diensteinkommens bis zu einem Fünftel oder mit Geldstrafe bis zu einem Drittel des jährlichen Diensteinkommens und Dienstentlassung verbunden mit Verlust des Titels und Pensionsanspruchs, falls nicht die Behörde dem Angeschuldigten einen Teil des Pensionsbetrages auf Lebenszeit oder gewisse Jahre beläßt. Andre Gesetzgebungen kennen auch die zeitweilige Dienstenthebung (Suspension) als Disziplinarstrafe. Die Entfernung aus dem Amt (Strafversetzung oder Dienstentlassung) kann in Preußen nur nach förmlichem Verfahren mit Voruntersuchung und mündlicher Verhandlung erfolgen. Die erste Instanz bildet für die vom König oder von den Ministern angestellten Beamten der Disziplinarhof in Berlin, für alle übrigen Beamten die vorgesetzte Provinzialbehörde, die zu diesem Zweck zu einem Kollegium von mindestens drei Mitgliedern zusammentritt. Die Berufung geht an das Staatsministerium. Urteile, durch welche die Entlassung eines vom König ernannten Beamten endgültig ausgesprochen wird, bedürfen der königlichen Bestätigung. Bei Einleitung oder im Laufe des Verfahrens laun die vorläufige Dienstenthebung (Suspension) mit einstweiliger Einbehaltung der Hälfte des Gehalts verfügt werden. Dasselbe gilt bei dem Reichsbeamtengesetz, das für die eigentlichen Disziplinarstrafsachen die Errichtung von Disziplinarkammern für die verschiedenen Teile des Reiches an den entsprechenden Orten angeordnet hat (s. Reichsbeamte). Die Berufung geht an den Disziplinarhof in Leipzig, der aus Mitgliedern des Bundesrats und des Reichsgerichts zusammengesetzt ist. Wichtig ist die Einschränkung, welche die D. den richterlichen und den ihnen gleichgestellten Beamten gegenüber erfährt. Gegen diese können Dienstentlassung und Strafversetzung nur durch gerichtliches Urteil ausgesprochen werden, ja der Grundsatz der Unabhängigkeit des Richteramtes hat dahin geführt, daß nach manchen Gesetzen, so z. B. in Preußen, auch für die Verhängung[58] leichter Disziplinarstrafen einrichterliches Urteil nach vorgängigem gerichtlichen Verfahren gefordert wird. Gewissen obersten Gerichtshöfen, wie den Verwaltungsgerichtshöfen (Oberverwaltungsgerichten), dem Bundesamt für das Heimatwesen, dem Reichsgerichte, dem Reichsmilitärgericht bezüglich seiner juristischen Mitglieder, ist die disziplinare Aburteilung ihrer Mitglieder selbst übertragen. Die Grundsätze über die disziplinare Behandlung der Staatsverwaltungsbeamten finden im allgemeinen entsprechende Anwendung auch auf die Gemeindebeamten. Die Rechtsanwalte sind einer besondern D. der Berufsgenossen unterstellt (s. Rechtsanwalt). In Österreich können über Richter und richterliche Hilfsbeamte (Gesetz vom 21. Mai 1868) Ordnungsstrafen (Mahnung und Verweis) vom Gerichtsvorsteher, Disziplinarstrafen (Versetzung, Pensionierung und Dienstentlassung) nur vom Disziplinargericht (dem obersten Gerichtshof, resp. Oberlandesgericht) nach gepflogener Erhebung über Anklagebeschluß und im Weg eines mündlichen geheimen Verfahrens verhängt werden.

Zu beachten ist, daß man nicht selten auch die sogen. Ordnungsstrafen den Disziplinarstrafen beizählt, wie z. B. die gegen Geschworne und Schöffen wegen Verweigerung der Dienstpflicht, gegen Zeugen wegen unbefugter Verweigerung des Zeugnisses und gegen Sachverständige, welche die Abgabe eines Gutachtens unberechtigterweise ablehnen, ausgesprochenen Strafen. Ebenso werden zuweilen, allerdings unrichtigerweise, die sogen. Zwangsstrafen (Exekutivstrafen) als Disziplinarstrafen bezeichnet, d.h. diejenigen Strafen, die von einer zuständigen Behörde angedroht und in Vollzug gesetzt werden, um die Erfüllung einer amtlichen Auflage zu erzwingen. Vgl. Labes, Die D. des Staates über seine Beamten, in Hirths »Annalen«, S. 213 ff. und 224 ff. (Münch. 1889); Hollweck, Die kirchlichen Strafgesetze (Mainz 1899).

Für das deutsche Reichsheer ist das Disziplinarverfahren durch die Disziplinarstrafordnung für das Heer vom 31. Okt. 1872 (vgl. württembergische Verordnung vom 27. Nov. 1872, bayrische Verordnung vom 12. Dez. 1872) und für die kaiserliche Marine durch die Disziplinarstrafordnung für diese vom 4. Juni 1891 geregelt. Nach dem Einführungsgesetze zum deutschen Militärstrafgesetzbuch (§ 3) kann eine Bestrafung auf Grund dieses Gesetzbuches der Regel nach nur durch gerichtliches Erkenntnis erfolgen; doch ist ausdrücklich bestimmt, daß in leichtern Fällen gewisse Vergehen auch im Disziplinarwege geahndet werden können; jedoch darf alsdann keine andre Freiheitsstrafe als Arrest festgesetzt werden, und die Dauer desselben soll 4 Wochen gelinden Arrestes oder Stubenarrestes, 3 Wochen mittlern Arrestes oder 14 Tage strengen Arrestes nicht übersteigen. Nach der Disziplinarstrafordnung für das Heer unterliegen außerdem der Disziplinarbestrafung Handlungen gegen die militärische Zucht und Ordnung und gegen die Dienstvorschriften, für welche die Militärgesetze keine Strafbestimmungen enthalten. Als Disziplinarstrafen sind zulässig für Offiziere: 1) Verweis und zwar einfacher (ohne Zeugen oder im Beisein eines Vorgesetzten), förmlicher (vor versammeltem Offizierkorps) und strenger (durch Parolebefehl, mit Eintragung der Veranlassung in die Parolebücher); 2) Stubenarrest bis zu 14 Tagen; für Unteroffiziere: 1) Verweis (einfacher, förmlicher oder strenger); 2) die Auferlegung gewisser Dienstverrichtungen außer der Reihe, z. B. Strafwachen; 3) Arreststrafen und zwar Kasernen-, Quartier- oder gelinder Arrest bis zu 4 Wochen oder mittlerer Arrest bis zu 3 Wochen; für Gemeine mit Einschluß der Obergefreiten und Gefreiten: 1) kleinere Disziplinarstrafen, nämlich Auferlegung gewisser Dienstverrichtungen außer der Reihe, z. B. Strafexerzieren, Strafwachen, Strafdienst in der Kaserne, den Ställen, den Montierungskammern oder auf den Schießständen, Erscheinen zum Rapport oder zum Appell in einem bestimmten Anzug, ferner die Entziehung der freien Verfügung über die Löhnung und deren Überweisung an einen Unteroffizier zur Auszahlung in täglichen Raten bis auf die Dauer von 4 Wochen, endlich die Auferlegung der Verpflichtung, zu einer bestimmten Zeit vor dem Zapfenstreich in die Kaserne oder in das Quartier zurückzukehren, bis auf die Dauer von 4 Wochen; 2) Arreststrafen und zwar Kasernen-, Quartier- oder gelinder Arrest bis zu 4 Wochen, mittlerer Arrest bis zu 3 Wochen, strenger Arrest bis zu 14 Tagen; 3) für Obergefreite und Gefreite die Entfernung von dieser Charge; 4) für Gemeine der zweiten Klasse des Soldatenstandes nach fruchtloser Anwendung der vorstehend erwähnten Strafen die Einstellung in eine Arbeiterabteilung (s. d.). Die D. steht nur solchen Offizieren zu, denen der Befehl über eine Truppenabteilung, über ein abgesondertes Kommando, über eine Militärbehörde oder über eine militärische Anstalt, mit Verantwortlichkeit für die Disziplin, übertragen ist, und erstreckt sich auf die Untergebenen dieses Befehlsbereichs. Unteroffiziere haben keine D. Von den Dienstvergehen der richterlichen Militärjustizbeamten und deren unfreiwilliger Versetzung in eine andre Stelle oder den Ruhestand handelt das Reichsgesetz vom 1. Dez. 1898. Dasselbe kennt als Disziplinarstrafe, und zwar auf Grund eines förmlichen Disziplinarverfahrens, Warnung, Verweis, Geldstrafe, Strafversetzung und Dienstentlassung. Im Aufsichtswege können wegen geringer Dienstvergehen Mahnungen erteilt werden. Ein Mitglied des Reichsmilitärgerichts kann nicht gegen seinen Willen in eine andre Stelle versetzt werden, wohl aber ein Kriegs-, bez. Oberkriegsgerichtsrat, wenn es das Interesse der Militärrechtspflege dringend erheischt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 58-59.
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