Epos

[806] Epos (gr., Epopöe, deutsch Heldengedicht), eine der drei Hauptgattungen der Dichtkunst (s.d.), deren charakteristische Eigenthümlichkeit in der rein objectiven u. naiven Darstellung vergangener, in sich abgeschlossener Begebenheiten besteht. A) Das eigentliche E. (Heroisches E., Volksepos) stellt eine Begebenheit von tief in das Leben einer Nation eingreifender Bedeutung, als unter dem Einfluß höherer Schicksalsmächte geschehend, dar. Wie das Volksepos als der Ausfluß der gesammten poetischen Kraft einer Nation erscheint, dessen einzelne Stücke, von unbekannten Volkssängern herrührend, im Munde des Volkes fortlebten, fortgebildet u. endlich zu einem zusammenhängenden Ganzen abgerundet wurden, so erscheint auch die Dichtung selbst als ein Spiegelbild des gesammten Volkswesens, des religiösen, staatlichen u. häuslichen Lebens, der Sitten- u. Culturzustände, die Nation selbst aber als ein großes von einer sittlich-religiösen Idee zusammengehaltenes Ganzes, im Kampfe gegen eine gleichmächtige Nation begriffen. Aus den mit einander um den Vorrang ringenden Massen hervor treten die einzelnen Heldengestalten, mit übermenschlichen Kräften ausgestattet. In jeder einzelnen lebt dieselbe religiös-sittliche Überzeugung der Gesammtheit, aus der die Motive ihres Handelns entspringen. Nur in der äußeren Erscheinung genauer charakterisirt treten die Helden alle gleichberechtigt auf; auf ihre persönlichen Interessen u. Neigungen, ihr subjectives Verhalten, nimmt das E. nur Rücksicht, sofern es für den Fortgang der Begebenheit von Wichtigkeit ist. Die Begebenheit selbst ist die Hauptsache, u. ihr gegenüber sind alle Helden, trotz ihrer lebensvollen Thätigkeit, passiv. Sie sind nur Werkzeuge, welche das Schicksal vollziehen, so wie es im Rathe der Götter beschlossen war. Diese Beziehung alles Geschehenden auf einen höheren Willen, welcher, das menschliche Geschick beherrschend, keine Parteinahme für die eine od. andere der kämpfenden Gruppen od. der rivalisirenden Helden zuläßt u. auch dem Dichter weder Lob noch Tadel, höchstens eine Klage über den Untergang des Großen u. Herrlichen zugesteht, setzt das E. in vollen Contrast zum Drama, in welchem die ganze Action aus der innersten Individualität entspringt u. der Einzelne sich gegen ein ihm gegenüberstehendes Ganzes erhebt, welches ihn schließlich erdrücken muß. Aus diesem Unterschiede geht auch der Unterschied in der Darstellung hervor. Das E. setzt sich aus einer Reihe von Episoden (s.d.) zusammen. Die einzelnen Vorgänge reihen sich ohne strenge Übergänge an einander, sind in sich aber mit einer detaillirten Genauigkeit ausgeführt. Das E. setzt eine Kenntniß der epischen Fabel im Allgemeinen voraus, bedarf also nicht der strengen Verkettung von Ursache u. Folge, eine Motivirung der Handlungen, wie sie das Drama erheischt. Mit einem naiven Behagen an der wirklichen Welt verbreitet es sich über die Einzelheiten derselben, während das Drama die äußeren Erscheinungen höchstens vorübergehend berührt, um die Welt der Ideen in ihrer Tiefe zu offenbaren. Die epischen Helden thun Vieles, Ungeheures, Wunderbares, aber alle Thaten des Einzelnen sehen sich mehr od. weniger ähnlich, u. dienen dem Fortgang der ganzen Begebenheit; die einzelnen Personen treten auf u. ab, wir sehen sie in der Schlacht, bei Mahlzeiten u. frohen Festen, bei häuslichen Beschäftigungen, religiösen Handlungen, männlichen Vergnügungen, wie Jagen u. Wettkämpfen, aber wir sehen sie nichts Außergewöhnliches thun, was mit dem Gemeingültigen im Widerspruch stände;[806] der Held des Dramas dagegen erscheint äußerlich viel weniger activ, aber wo er handelt, handelt er entscheidend für seine ganze Existenz, die er gegen das Gemeingültige in die Wagschale wirst. So ist denn das E. darauf hingewiesen, bei der Darstellung in die Breite zu gehen, über die Anfänge der Begebenheit rasch in die Mitte derselben fortzukommen u. das Ende derselben unbekümmert um den Ausgang der einzelnen Helden eintreten zu lassen.

Die Anfänge der Poesie tragen bei allen Völkern einen epischen Charakter. Das E. ist überall der Vorläufer der Kunstdichtung sowohl, wie der prosaischen Geschichtsschreibung. Es ist ein Ausfluß des mächtig werdenden Nationalbewußtseins, welches die Gestalten der Helden vergangener Zeiten festzuhalten strebt, indem es dieselben gleichzeitig idealisirt, d.h. ihnen alle Eigenschaften u. Tugenden in erhöhtem Grade beilegt, welche den Ruhm u. die Ehre eines Mannes nach den Begriffen des Volkes u. der Zeit bedingen. Der rhythmische Bau des E. ist einfach u. ungekünstelt, die Verbindung einzelner Verse zur Strophe findet entweder gar nicht statt, od. ist erst in rohen Anfängen vorhanden. Als Versmaß wurde von den Griechen u. den nach dichtenden Römern im E. stets der Hexameter gebraucht. Die älteste epische Strophe der germanischen Welt ist die jambische Nibelungenstrophe, deren vier im Reim unvollkommenen, im Rhythmus aber strengen, fast ganz gleichgebauten Verse gleich dem Hexameter eine scharfe Cäsur haben, die dem Verse einen ruhigen, gleichmäßigen Takt verleiht. Die Architektonik des epischen Verses ist streng, ernst u. gemessen, während die Lyrik der Zierrathen bedarf u. in bunten Formen wechselt. Das E. pflegt in Gesänge, Bücher (Rhapsodien) gegliedert zu sein. Die umfangreichsten u. an poetischem Gehalt am höchsten stehenden Epen besitzen die Inder in der Ramayana u. Mahabharata, die Griechen in der Ilias u. Odyssee, die germanischen Völker im Nibelungenliede u. der Gudrun, die Celten in den Gesängen Ossians, welche indeß nicht mehr erhalten sind.

B) Das Kunstepos entstand in Zeiten, wo bereits die Dichtkunst in die Hände eigentlicher Dichter übergegangen war u. als eine besondere Kunst geübt wurde. An die Stelle naiver Ursprünglichkeit tritt die Reflexion, u. die subjective Anschauungsweise des Dichters beeinträchtigt die epische Darstellung, wie sehr diese auch in dem Ton u. der äußeren Form die Volksdichtung zu erreichen strebt. Solche Kunstepen schufen die Cyklischen Dichter (s.d.) der Griechen u. unter den Römern Virgil in seiner Äneide. Auch das christliche Mittelalter kannte keine Volksepen; der allgemein menschliche Charakter der christlichen Religion war nicht geeignet, das Nationalbewußtsein der einzelnen Culturvölker zu kräftigen, welches sich vielmehr mit Zähigkeit an die heidnischen Vorstellungen festklammerte. Die Kämpfe für die Weltreligion, von einzelnen Helden od. von großen Heerschaaren unternommen, bilden den Gegenstand der epischen Gedichte des christlichen Mittelalters, welche man Romantische Epopöen nennt. Die meisten derselben tragen einen vorherrschend lyrischen Charakter, welcher sich schon in der äußeren Form der Sprache, in den kurzen gereimten Versen der germanischen u. in den kunstvollen Strophen der romanischen Dichter zu erkennen gibt. Dennoch war die Poesie der romantischen Kunstepen nicht reine Reflexionspoesie, vielmehr durchdrungen von dem religiösen Gehalte der Zeit u. dem Geiste des christlichen Ritterthums In Italien hoben Tasso u. Ariost das ritterliche Kunstepos auf eine hohe Stufe poetischer Vollkommenheit. In Deutschland blühte die Ritterpoesie unter Wolfram von Eschenbach, Hartmann von der Aue u. Gottfried von Strasburg. Volksthümlicher zeigte sich das romantische E. in Spanien u. Portugal, dort in dem Romanzenycklus, welcher den Cid zum Gegenstande hatte, hier in den Lusiaden des Camoens. Während das E. sich auf der einen Seite der Lyrik näherte u. zu eleganten Versformen überging (Terzinen u. die achtzeilige heroische Strophe der Italiener), bereitete es auf der anderen Seite den Roman (s.d.) vor, die prosaische Erzählung von wunderbaren Fahrten u. Abenteuern, welche ritterliche Helden zu bestehen hatten, um die Huld einer schönen Frau zu erwerben od. die Hindernisse zu besiegen, welche dem Besitz derselben entgegenstanden. Biblische u. Legendenstoffe fanden ebenfalls eine epische Behandlung, so von Milton, später von Klopstock. Auch Dantes göttliche Komödie hat ein episches Gewand, obwohl der allegorische Inhalt sich dem Begriff des E. nicht wohl unterordnet. Nach dem Verblühen der mittelalterlichen Dichtkunst verlor sich der Geschmack am E. immer mehr. Wiederbelebungsversuche der romantischen Epen gingen von Wieland, Voltaire u. im 19. Jahrh. von Ernst Schulze, Byron, Tegnér u. Kinkel aus. Nach dem Beispiel des Romans wurden nun auch moderne u. frei erfundene Stoffe episch behandelt, auch die dem E. zu Grunde gelegte Fabel aus der Sphäre des bürgerlichen Lebens entnommen. Neben der Romanze (s.d.) u. Ballade ist die Poetische Erzählung die das E. ersetzende Dichtungsart der Neuzeit, von welchem sich noch eine besondere Gattung als episch-lyrische Dichtung abscheidet, welche sich aus einzelnen Gesängen, die bald den epischen, bald den Romanzen-, bald den rein lyrischen Liederton anschlagen, zusammensetzt.

C) Das Komische E. ist entweder geradezu eine Travestie heroischer Epen, wie Blumauers Äneide, od. es liegt ihm ein humoristischer Novellen- od. Mährchenstoff, wie in Waldmeisters Brautfahrt von O. Roquette, zu Grunde, od. es erfüllt den Zweck der Satyre, wie die Jobsiade, wobei es dann natürlich wenig auf die consequente Fortführung u. Abrundung der epischen Fabel ankommt.

D) Das Thierepos ist nur eine in Deutschland vorkommende Erscheinung, s. Thiersage.

E) Das Idyllische E. bildet den Gegensatz zum heroischen u. romantischen E., indem es an eine einfache Begebenheit die Schilderung der einfachen Verhältnisse des Hirten- u. Landlebens anknüpft. Größeren Anspruch auf epischen Charakter haben idyllische Dichtungen, welche, wie Goethes Hermann u. Dorothea, einen historischen Hintergrund haben (s. Bukolische Poesie u. Idyll).

F) Literatur über das Epos: Torq. Tasso, Dell arte poet. ed in particolare poema eroico, Ven. 1587; Bossu, Traité du poème épique, Haag 1744, 2 Bde. (deutsch Halle 1753); Fr. Zimmermann, Über den Begriff der E., Darmst. 1848.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 806-807.
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