Groß; Größe

[490] Groß; Größe. (Schöne Künste)

Es ist schweer zu bestimmen, von was für einer Beschaffenheit die Gegenstände seyn müssen, denen man eine ästhetische Größe zuschreibet. Ueberhaupt scheinet es, daß der Begriff der Größe alsdenn entstehe, wenn wir unsre Vorstellungskraft oder unser Gefühl gleichsam erweitern müssen, um einen uns vorkommenden Gegenstand auf einmal zu fassen, oder zu empfinden. Man muß das Aug weiter öfnen um einen großen Gegenstand zu übersehen, und die Aerme weiter ausspannen um einen großen Körper zu umfassen. Etwas ähnliches geht in der Vorstellungskraft vor, wenn sie auf große ästhetische Gegenstände gerichtet ist; man empfindet dabey etwas, das man eine weitere Ausdähnung der Seelenkräfte nennen möchte.

Daher können wir dieses zum Merkmal der ästhetischen Größe setzen, daß sie ein Bestreben in uns erweket, der Vorstellungskraft, oder der Kraft zu empfinden, eine weitere Ausdähnung zu geben, um die Größe des Gegenstandes auf einmal zu fassen. Also ist es nicht die Stärke jeder Art des Eindruks, oder der Kraft die wir empfinden, die den Begriff der Größe erwert, sondern die besondere Würkung, die das Gefühl einer Ausdähnung unsrer eigenen Kraft hervorbringt. Das Gemählde des Euripides von dem Tode der Alcestis, das wir anderswo angeführt haben1, ist ausnehmend rührend und hat sehr starke Kraft auf das Gemüth; doch wird es Niemand Groß nennen: hingegen fühlet man bey den wenigen Worten, die derselbe Dichter der Macaria in den Mund leget2, etwas, wofür sich das Beywort Groß am besten schiket. Indem wir uns bestreben, das, was Macaria in diesem Augenblik empfindet, auch in uns zu fühlen, kömmt es uns vor, daß die gewöhnliche Anspannung unsrer Kräfte hier nicht hinreiche, und wir versuchen ihnen eine weitere Ausdähnung zu geben.

Das Große gränzet dadurch an das Erhabene, welches ein Aehnliches Bestreben erwekt,3 und diese beyde Gattungen des Aesthetischen sind nur in Graden von einander unterschieden. Durch die Erweiterung unserer Kräfte werden wir vermögend das Große zu fassen; aber das Erhabene fassen wir nicht ganz; daher denn die Bewundrung entsteht, die wir dabey fühlen.

Die Erweiterung der Gemüthskräfte, um einen Gegenstand ganz zu fassen, wird nur da nöthig, wo dieser unzertheilbar ist; so wie eine ausserordentliche Anspannung der Leibeskräfte, um einen Körper zu heben, nur dann nothwendig ist, wenn man ihn auf einmal ganz heben will. Theilet man ihn in kleinere Theile, so kann er ohne Anstrengung der Kräfte, durch wiederholte Würkung, von einem Orte zum andern getragen werden. Wer mit einer Axt einen Baum durch viel wiederholte Schläge fällt, hat zwar viel, aber nicht große Kraft angewendet: wer ihn auf einen Hieb fällen könnte, der würde was Großes thun. So ist es auch in andern Dingen.

Der Gegenstand also, der durch eine Menge wiederholter Schläge eine große Würkung auf das Gemüthe macht, ist kein großer Gegenstand, sondern der diese Würkung auf einen Schlag thut. So schreiben wir auch dem Menschen einen großen Verstand zu, der bey einem schweeren Unternehmen schnell, durch wenig von ihm ausgesonnene Mittel, zum Zwek gelangt. Dieser Begriff der Größe würde sich ganz verlieren, wenn er durch vielerley listige Veranstaltungen und durch eine Menge einzelner Kunstgriffe langsam zum Zwek gekommen wäre. Kleine Seelen erreichen in den meisten Sachen, [490] die sie sich ernstlich vorsetzen, ihre Absichten eben so gewiß, als Menschen von großem Verstand; aber diese beyde Gattungen von Menschen sind darin unterschieden, daß jene durch weite und krumme Wege sehr langsam zum Zwek kriechen, da diese geradezu und mit wenigen Schritten ihn erreichen. Wir nennen gewisse Handlungen großmüthig, weil eine schnelle Erweiterung oder Erhöhung edler Empfindungen dazu erfoderlich scheinet; so bald wir aber merken, daß der, der diese Handlung gethan hat, durch unzählig wiederholte Vorstellungen, durch vieles Bitten und Anhalten gleichsam dazu gezwungen worden, so verliert die Handlung den Charakter der Größe. So kann auch ein mittelmäßiger Kopf, durch lang anhaltendes Bestreben, und nach hundert vergeblichen Bemühungen des Geistes, endlich zur Entdekung einer wichtigen Wahrheit kommen, die der Mann von großem Verstande durch ein einziges und nicht lang anhaltendes Bestreben, erfunden hätte.

Diese Betrachtungen über die Größe bringen uns auf den Weg, die Natur der ästhetischen Größe etwas näher zu bestimmen. In den Werken der schönen Künste legen wir den Charakter der Größe entweder den Sachen selbst zu, nämlich den Gegenständen, die der Künstler uns vorlegt, oder dem Künstler, und seiner Behandlung des Gegenstandes. Jeder dieser Fälle verdienet besonders betrachtet zu werden.

Die ästhetischen Gegenstände beziehen sich entweder auf die Sinnen und die Einbildungskraft, oder auf den Verstand, oder auf das Herz; und wir schreiben ihnen Größe zu, wenn wir die bestimmte Würkung davon empfinden, daß die Phantasie, der Verstand, oder das Herz, Erweiterung der Kräfte nöthig haben, um sie auf einmal zu fassen.

Der Begriff der Größe setzet also voraus, daß wir den Gegenstand im Ganzen fassen. Man könnte den ganzen Erdboden umreisen, ohne ihn groß zu finden. Denn wenn man sich auf einmal immer nur den Theil desselben vorstellte, auf welchem man sich befindet, so hätte die Phantasie nicht nöthig sich auszudähnen: aber wenn man den Raum von hundert und mehr Tagreisen auf einmal übersehen will, so ist diese Erwetterung nothwendig, und alsdann entstehet auch der Begriff der Größe. Nicht die Vielheit, die aus Wiederholung entsteht, sondern die, welche auf einmal vorschwebt, enthält den Grund derselben. Einheit, oder einfaches Wesen, an dessen Theilung man nicht denkt, oder nicht denken kann, mit Vielheit verbunden, ist hiezu nothwendig. Wo mit wenigem viel ausgerichtet wird, da ist Größe. Der Gegenstand also, der eine einzige, unzertrennliche Aeusserung der Vorstellungskraft bewürkt, wodurch wir vieles zugleich klar fassen, erwekt den Begriff der Größe, welcher bey der größten Menge, der, uns auf einmal klar vorschwebenden Dinge, nicht entsteht, so bald wir die Aufmerksamkeit nur auf eines davon richten.

Man stelle sich in Gedanken an einen Ort, wo man einen Garten von sehr weitem Umfang übersehen könnte; man bilde sich diesen Garten in der Phantasie so, daß er aus unzähligen kleinen Blumenbeeten, kleinen Büschen von mannigfaltiger Art, und aus einer Menge kleiner Wasserbehältnisse, Canäle, Cabinetter, und Gänge bestehe. Alle diese Mannigfaltigkeit der Dinge übersieht man auf einmal, und doch entstehet hier schweerlich das Gefühl einer ästhetischen Größe. Es ist gar nichts da, das uns nöthigte die Phantasie zu erweitern; denn wir fühlen uns eher geneigt jeden einzeln Theil für sich zu betrachten; wir empfinden um so viel weniger Neigung den Gegenstand im Ganzen zu fassen, da diese einzeln Theile zum Ganzen so gar kein merkbares Verhältniß haben; denn jeder verschwindet oder wird unmerkbar, so bald wir das Ganze fassen wollen: wir würden in diesem Fall etwas von grossem Umfange sehen, das uns wenig reizt, weil wir nichts darin unterscheiden. Wenn aber dieser große Garten aus großen Parthien besteht; hier ein grosser freyer Platz zum Spatzieren, da ein Wald von hohen Bäumen, dort ein großes Wasserbeken u. s. f. so fassen wir alles in eine Hauptvorstellung zusammen, deren Theile, wegen ihres merklichen Verhältnisses zum Ganzen, uns noch immer klar genug bleiben, und daher entsteht eben das Gefühl der Größe.

Hieraus ziehen wir den Schluß, daß ein sichtbarer Gegenstand den Charakter der Größe dadurch bekomme, wenn er aus mannigfaltigen Theilen besteht, die ein merkliches oder beträchtliches Verhältnis zum Ganzen haben, oder in der eigentlichen Kunstsprache zu reden, wenn er aus großen, aber eine Mannigfaltigkeit zeigenden, Parthien besteht, die so harmonisch zusammen verbunden sind, daß das Aug immer auf das Ganze geführt wird. So hat [491] in der Mahlerey das Colorit den Charakter der Größe, das bey einer vollkommenen Harmonie aus großen Massen vom Hellen und Dunkeln, und aus großen Parthien von Farben besteht; so findet man in dem Gewande den Charakter der Größe, das aus wenigen, großen, aber natürlichen und mit dem ganzen übereinstimmenden Falten besteht. Zu dem großen Ansehen einer Stadt, die man von Ferne sieht, ist es nicht genug, daß man eine unzählige Menge von Häusern entdeke; sie müssen in große Parthien oder Quartiere vertheilet seyn, an verschiedenen Orten müssen einige hohe Dächer, oder Thürmer und Cupeln sich in die Luft erheben, und um diese herum müssen die niedrigen Gebäude sich in große Gruppen versammeln. Ein einzeles Gebäude wird nie durch eine große Höhe oder Breite, noch durch eine unzählige Menge von Thüren, Fenstern, Säulen und Zierrathen, den Begriff der ästhetischen Größe erweken; aber alsdann wird er entstehen, wenn das Mannigfaltige darin in etliche große Parthien so zusammen gehalten wird, daß die kleinen Theile nicht im Verhältniß des Ganzen, sondern im Verhältniß mit den Haupttheilen, dazu sie gehören, in das Aug fallen; die Haupttheile selbst aber sich so genau zusammen verbinden, daß ein unzertrennliches harmonisches Ganze daraus entstehe. Denn dadurch wird das Aug des Kenners gleichsam gezwungen das Gebäude nur im Ganzen zu betrachten, um von allem auf einmal gerührt zu werden.

Der Künstler, der dieser Spuhr folgen will, wird in jedem besondern Falle, da er sichtbare Gegenstände zu behandeln hat, leicht die Mittel bemerken, wodurch er ihnen den Charakter der Größe in Absicht auf die Form geben kann. Er muß dem Ganzen durch wenig Hauptparthien Einfalt zu geben wissen, damit das Aug oder die Einbildungskraft, nicht auf das Einzele falle, und die kleinen Theile muß er den Haupttheilen anpassen und unterordnen. Alsdann scheinet es, daß er durch wenig Veranstaltung viel ausgerichtet habe. Durch dieses Mittel hat Klopstok im zweyten Gesang des Meßias, der Versammlung der Schaar höllischer Geister um den Thron Satans, eine ungemeine Größe gegeben. Er stellt nur wenige Häupter derselben einzeln dar, und die unermeßliche Schaar der übrigen in einem Haufen, und dann legt er das erstaunliche Gemählde vermittelst eines wahrhaftig großen Gleichnisses durch wenig Züge vor unser Gesicht.


Also versammelten sich die Fürsten der Hölle zu Satan.

Wie die Inseln des Meeres aus ihren Sitzen gerissen,

Rauschten sie hoch, unaufhaltsam einher. Der Pöbel der Geister

Floß mit ihnen unzählbar, wie Wogen des kommenden Weltmeers

Gegen den Fußvorgebirgter Gestade, zum Sitze des Satans.


Es wäre leicht noch unzählige Beyspiele aus den zeichnenden und redenden Künsten anzuführen, wodurch die vorhergehenden Anmerkungen über das Große der Sinnen und der Einbildungskraft, bestätiget werden; aber dieses wenige ist für nachdenkende Künstler hinreichend.

Wir kommen itzt auf die Betrachtung der Größe, die den Gegenständen des Verstandes eigen ist Aus dem, was überhaupt über den Charakter der Größe angemerkt worden ist, läßt sich gleich abnehmen, daß diese Größe alsdann entstehe, wenn vermittelst weniger Hauptbegriffe, der Verstand auf einmal so viel erblikt, daß er sich merklich angreifen muß, um alles zu fassen. Schon einzele Begriffe haben eine Größe, wenn sie bey einer anscheinenden Einfalt und Leichtigkeit gefaßt zu werden, weit über den Verstand Licht ausbreiten. Die Größe solcher Begriffe entsteht insgemein aus vielbedeutenden metaphorischen Ausdrüken, oder andern Tropen; wie wenn man von einem, von seinem bösen Gewissen geplagten Menschen sagt; er trage die Hölle in seinem eigenen Herzen, oder wie wenn Haller von der Helvetier Heldenahnen sagt; in deren Arm der Blitz und Gott im Herzen war.

Große Gedanken zeigen allemal Reichthum der Begriffe mit Einfalt verbunden. Pope drükt den ganzen Inhalt seines dritten Briefes über den Menschen durch diesen sehr einfachen Satz aus: die allgemeine Ursach arbeitet auf einen Zwek, aber nach mannigfaltig abgeänderten Gesetzen. Dieses ist ein Gedanken, oder eine Beobachtung von ungemeiner Größe, weil eine unermeßliche Mannigfaltigkeit einzeler, und dem Scheine nach durch einander laufender Würkungen, auf eine einzige Hauptquelle zurük geführt wird. Menschen von großem Verstande sind allein fähig, sehr einfache, zugleich aber sich weit erstrekende, Grundsätze für die Erforschung der Beschaffenheit der Dinge, und eben so einfache Maximen für die Behandlung der Dinge zu erfinden. Die ästhetische Größe, in so fern sie dem Verstand eine beträchtliche Ausdähnung giebt, wird also darin bestehen, daß der Künstler die Mittel gefunden habe, [492] in unserm Verstande mit wenigem viel auszurichten. Diesen Charakter haben vorzüglich die besten Werke der Alten in redenden und zeichnenden Künsten. Sie sagen viel, lassen viel empfinden, erfüllen gleichsam die ganze Seele, ob man gleich keine große Veranstaltung zu einer so großen Würkung gewahr wird.

Der kleine subtile Verstand kömmt wol auch zu seinem Zwek, aber durch vielerley einzele Mittel; weil er nicht vermögend ist, das einzige, den geraden Weg zum Zwek führende, Hauptmittel zu finden. Es ist eine bekannte, sich auf alle vom menschlichen Verstand abhängende Geschäft erstrekende, Bemerkung, daß das Einfache das Schweereste sey, das, worauf man zuletzt fällt. Dieses ist darum so, weil gerade der größte Verstand dazu erfodert wird. Nur der, welcher alles Einzele, was zu einem System von zusammengesetzten Dingen gehöret, auf einmal klar übersehen kann, wird das einfache Grundgesetz, nach welchem das System gebaut ist, entdeken. Die Rede, die uns von der Wahrheit einer Sache überzeugen, oder die uns die eigentliche Beschaffenheit derselben in hellem Lichte zeigen, oder die eine Entschließung in uns bewürken soll, wird nur dann den Charakter der Größe haben, wenn diese Würkung geradezu, und durch die wenigsten Vorstellungen erreicht wird. Die Reden des Demosthenes haben durchgehends diesen Charakter. Man entdeket dabey einen Redner, der seines Gegenstandes so vollkommen Meister ist, daß er ihn im Ganzen mit der größten Klarheit übersieht; darum kann er auch ohne Umschweiff, ohne ängstliches Bestreben, ohne vielerley anzuführen,4 ohne jedes Einzele besonders zu sagen, seinen Zuhörer durch wenig Hauptvorstellungen dahin bringen, wo er ihn haben will. Von dieser Größe sind auch die meisten Reden, die Livius den Personen, die er in seiner Geschichte aufführet, in den Mund legt. Dieser Geschichtschreiber erzählt, daß bey einem gefährlichen Kriege, den die Römer vorhatten, zwischen den drey obersten Befehlshabern, die damals den Staat regierten, ein hitziger Zank entstanden sey; weil keiner von den dreyen in der Stadt bleiben wollte. Der Senat hörte dem Streit eine Zeitlang mit Bestürzung zu, weil diese Uneinigkeit gefährliche Folgen nach sich ziehen konnte. Einer der drey obersten Befehlshaber war der Sohn des Q. Servilius, der ehedem Diktator gewesen war. Um also dem Streite ganz kurz ein Ende zu machen, steht dieser Mann im Senat auf, und sagt die wenigen Worte: »Da ich sehe, daß ihr weder für den versammelten Senat, noch für den Staat selbst, die geringste Ehrerbietigkeit habt, so soll die Hoheit des väterlichen Ansehens diesem Zank ein Ende machen. Mein Sohn soll ohne Loos in der Stadt bleiben. Mögen die, die den Krieg suchen, ihn mit mehr Ueberlegung und Einigkeit führen, als sie hier zeigen.«5 Dieses heißt geradezu und mit sicherm Schritt zum Zwek eilen. Ein minder Großdenkender würde mancherley Vorstellungen, Bitten und Flehen versucht, und dennoch damit nichts ausgerichtet haben.

Auf eben diesem Grunde beruhet auch die Größe der Gedanken, oder der Vorstellungen, da zwey oder drey Worte, oder Begriffe hinlänglich sind, uns in den Gesichtspunkt zu stellen, in welchem wir ein sehr helles anschauendes Erkenntniß von Dingen bekommen, die eine weitläuftige Entwiklung der Begriffe zu erfodern schienen. Ein Wort, wodurch eine lange Reyhe von Beschuldigungen abgelehnt, oder wiederlegt wird, ist ein großes Wort. Von dieser Art ist folgendes von Pope: »Indem der Mensch ausruft, sehet! alles ist für mich geschaffen, erwiedert die Gans, die er mästet, für mich ist der Mensch gemacht.« Als jemand dem Diogenes, dem Cyniker, vorhielt, daß alle Menschen ihn auslachten, antwortete er: das thun sie, ich aber werde nicht ausgelacht. Mancher andrer würde viel Worte gebraucht haben, um zu beweisen, daß man mit Unrecht sich über ihn aufhalte; aber damit würde er vielleicht weniger gesagt haben, als Diogenes mit zwey Worten. Darum ist seine Antwort groß.

Aus der Größe, die in dem Verstand und der Beurtheilungskraft liegt, entsteht, wenn sie auf sittliche Gegenstände angewendet wird, die Größe der Sinnesart, des sittlichen Betragens, der sittlichen Empfindungen und auch wol des ganzen Charakters. Diese Größe verdienet vorzüglich von dem Künstler beobachtet zu werden, damit er einen rechten [493] Gebrauch davon machen könne. In den Künsten ist unstreitig dasjenige das Wichtigste, was uns die Größe der Seele zu empfinden giebt.

Diese Größe entstehet, wie gesagt, aus der Stärke der Beurtheilungskraft, auf sittliche Gegenstände angewendet. Der Mensch denkt und handelt groß, der die sittlichen Gegenstände in ihren wahren Verhältnissen sieht, in ihrem eigentlichen Wesen kennt, und deswegen das Wichtige von dem Unbeträchtlichen genau unterscheidet. Denn dadurch geschieht, daß ihn nichts geringes rühret, daß er in Absicht auf das Gute und Böse, auf Glük und Unglük, auf Tugend und Laster, weder auf Kleinigkeiten achtet, noch sich durch den Schein blenden läßt. In seinen Urtheilen kömmt er schnell auf den Mittelpunkt der Dinge, und entfernt alles was nicht zum Wesentlichen gehört; in seinen Handlungen aber geht er gerade und mit Zuversicht zum Zwek. Kleine Seelen werden in ihren Vorstellungen und Empfindungen von den ersten Eindrüken, die die Sachen auf sie machen, und von dem Scheine derselben geleitet. Es fehlt ihnen an eigener Würksamkeit, wodurch sie Meister ihrer Vorstellungen und Entschließungen werden. Man entdeket in ihrem Denken und Handeln gar keine Einförmigkeit, nichts Einfaches und Gerades; und wenn sie Absichten haben, so wissen sie die Mittel, die geradezu dieselben befördern, nicht zu erfinden, sondern lauren darauf, ob sie sich von selbst anbieten werden; versuchen jedes, das ihnen vorkömmt, um aus Proben und Erfahrung zu sehen, ob es ihnen etwa nützlich seyn könne. In ihren Empfindungen sind sie eben so schwach; jede Kleinigkeit bringt sie in Bewegung, sie leben in einer beständigen Abwechslung von Vergnügen und Mißvergnügen, von Wunsch und Genuß, ohne jemals die Dinge zu kennen, von denen sie unaufhörlich, wie eine Wetterfahne, im Kreis herum getrieben werden.

Wenn gedachte Stärke der Beurtheilungskraft sich über den ganzen Umfang der sittlichen Gegenstände und Angelegenheiten des Menschen erstreket, und nicht blos, wie es ofte geschieht, auf einzele Zweyge derselben eingeschränkt ist, so entstehet daher der große Charakter des Menschen, die stille Größe des Gemüthes, die ihn über die gewöhnlichen Schwachheiten andrer Menschen erhebet. Er hat aus der Menge der Dinge, die er beobachtet und beurtheilt hat, wenige Hauptbegriffe herausgezogen, die sein Urtheil, und wenige Grundmaximen, die seine Handlungen bestimmen. Er wird von nichts überrascht und von nichts hingerissen; er ist der Weise, von dem Horaz sagt:


–– Si fractus illabitur Orbis

Impavidum ferient ruinæ.


Einzele Beyspiele von hoher Sinnesart treffen wir bey allen guten epischen und dramatischen Dichtern an, und es würde überflüßig seyn eine Anzahl derselben hier zu sammeln. Wer den Homer, den Aeschylus und den Sophokles unter den Alten; den Shakespear, und Corneille von den Neuern gelesen hat, könnte leicht eine beträchtliche Sammlung davon machen. Aber der letztere fällt darin bisweilen ins Uebertriebene.

Nun haben wir noch den Charakter der Größe in leidenschaftlichen Gegenständen zu betrachten. So wol in dem, was Leidenschaft erwekt, als in der Art, wie diese sich äussert, kann Größe statt haben. Dort bekömmt man den Begriff einer großen Macht, die uns unwiderstehlich ergreift, hier von einer großen Kraft, die der fühlende Mensch anwendet, der angreifenden Macht zu widerstehen. Beydes verdienet eine nähere Erläuterung.

Gegenstände, die Leidenschaften erweken, können auf mehr als eine Weise groß seyn. Ihre vorzüglichste Größe kömmt von der Wichtigkeit und von dem weiten Umfange der Würkung her. Sie erweken allemal den Begriff eines Guts oder eines Uebels; beyde sind klein, oder gering zu achten, wenn sie vorübergehend sind, wenn sie uns nur auf eine kurze Zeit vergnügt, oder mißvergnügt machen, oder wenn sie nur einen geringen Einfluß auf einen Theil der Glückseeligkeit haben. Groß und wichtig sind sie hingegen, wenn ihre Würkung sich auf das ganze Leben und auf das Wesentliche der Glückseeligkeit erstrekt; am größten, wenn sie ganz entscheidend sind. Die Liebe ist eine vorübergehende Leidenschaft, die im Grunde die Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses zum Endzwek hat. In diesem Gesichtspunkt kann ihr Gegenstand nicht groß scheinen: aber durch die Einmischung des Sittlichen, und aus dem Gesichtspunkte betrachtet, wie ernsthafte, oder enthusiastische Seelen sie ansehen, bekömmt er eine Größe, die uns in Verwundrung setzt. So wie bey Klopstok Lazarus den Gegenstand seiner Liebe sieht, ist er nicht nur groß, sondern völlig erhaben. So kann der Künstler den Gegenständen der Leidenschaft [494] eine Größe geben, wenn er uns ihre Wichtigkeit, und den weiten Umfang ihrer Würkung lebhaft vorzustellen weiß. Der Tod ist ein Gegenstand, der Furcht erwekt; aber dieser Gegenstand hat keine Größe, wenn er als ein Schlaf, oder als ein schneller Uebergang zur Vernichtung, oder zu einem, von diesem wenig unterschiedenen Leben, vorgestellt wird. Hingegen so wie Shakespear in dem bekannten Selbstgespräch des Hamlets ihn vorstellt, als einen ewigen Schlaf, vielleicht mit fürchterlichen Träumen erfüllet, bekömmt er eine ungemeine Größe. Ueberhaupt also haben die Gegenstände der Leidenschaften eine ästhetische Größe, wenn sie als entscheidende Ursachen der Glückseeligkeit oder des Elends eines Menschen, oder gar ganzer Völker, angesehen werden. So hat die Handlung, deren wir anderswo gedacht haben6, da Flaminius dem versammelten Griechenland durch einen Herold die Freyheit ankündiget, eine ungemeine Größe: und so wird ein Gewitter, wenn man es, wie es hier und da in der Bibel geschieht, als ein feyerliches Herabfahren des höchsten Wesens ansieht, um die Missethaten eines Volks zu bestrafen, eine Größe, die hoch ins Erhabene hinauf steiget.

Eine besondere Art der Größe der leidenschaftlichen Gegenstände entsteht bisweilen daher, daß sie etwas unveränderliches, oder absolut entschiedenes haben. Das Böse, das uns droht, und das Gute, das uns schmeichelt, thut erst alsdann die volle Würkung, wenn es keiner Ungewißheit mehr unterworfen ist. Beym ersten Anblike desselben mischt sich immer Hoffnung oder Furcht in die Leidenschaft, und erst dann, wenn diese nicht mehr statt haben, entsteht der völlige Ausbruch derselben. Daher entsteht diese Art der Größe, aus der plötzlichen Zernichtung der Hoffnung oder des Zweifels. Wenn das herannahende Uebel nun gegenwärtig, und absolut gewiß worden ist, so entstehet eine schnell ausbrechende Leidenschaft, die sich über die ganze Seele verbreitet, die sich nun durch nichts mehr helfen kann. Der Gegenstand der Leidenschaft, über dessen Vorstellung wir schlechterdings keine Gewalt haben, der ganz außer unsrer Würksamkeit liegt, hat allemal etwas Großes, und bringt ausserordentliche Würkung hervor. Insonderheit zeiget sich dieses bey Vorstellung eines Uebels, wobey man die Nothwendigkeit desselben, die gänzliche Unmöglichkeit ihm zu entgehen, oder etwas darin zu ändern lebhaft fühlet. Denn dieses greift uns gerade an dem empfindlichsten Ort an, indem es das Gefühl der Freyheit und der eigenen Macht nicht nur schwächt, sondern geradezu vernichtet. Das grimmigste Thier wird plötzlich zahm, so bald es einiges Gefühl bekömmt, von der Unmöglichkeit sich aus den Schlingen, darin es verstrikt ist, mit Gewalt herauszuwikeln; und der grausamste Tyran verliert in ähnlichen Umständen nicht nur seine zerstöhrende Wuth, sondern flehet um Gnade, wie Schach Nadir, als er ermordet wurd. Erst wehrete er sich eine Zeitlang aus äussersten Kräften; aber als er die völlige Unmöglichkeit sich zu retten empfand, schrie er: Erbarmung, ich will euch allen vergeben! In dem Trauerspiel, das unter dem Titel des Kauffmanns von London bekannt ist, hat das Läuten mit der Gloke, die das Zeichen zu Barneveldts Hinrichtung giebt, etwas ungemein Schrekhaftes, welches blos daher entsteht, daß man nun die Unmöglichkeit, daß er diesem schmählichen Tod entgehe, lebhaft fühlet. Und in der tragischen Geschichte des Ugolino überfällt uns allemal ein lebhaftes Entsetzen, so ofte wir an den Umstand denken, daß der Schlüssel zum Thurm ins Wasser geworfen worden; weil uns dieser Umstand die Unmöglichkeit der Rettung dieses Unglüklichen empfinden läßt. Deswegen hat auch bey den öffentlichen Blutgerichten der Umstand mit der Brechung des Stabes, nach ausgesprochenem Urtheil, eine sonderbare Würkung, weil sie das Zeichen ist, daß der Verurtheilte nun gewiß sterben müsse.

Die überwältigende Kraft des Gegenstandes einer Leidenschaft liegt eigentlich in dem lebhaften Gefühl, womit man ihn sich nicht blos vorstellt, sondern als gegenwärtig empfindet: und eben daher entsteht auch die große Würkung in den angeführten Beyspielen. Der Mensch überläßt sich weder der Freude noch dem Schmerz ganz, bis er die höchste Gewißheit der Ursache derselben empfindet. Der Haabsüchtige, dem ein großes Vermögen zugefallen ist, empfindet zwar große Freude, so bald er die Botschaft davon vernihmt; aber in der größten Lebhaftigkeit fühlt er sie erst alsdann, wenn er das Geld vor sich liegen sieht, und mit beyden Händen darin wühlet. Die Scene, da Joseph seinen nach Aegypten gekommenen Vater wieder sieht, wie sie Bodmer erzählt, zeiget uns etwas Großes von dieser Art. Josephs Freude ist zwar ungemein groß, so bald er den theuren Alten empfängt, und der [495] Leser genießet die zärtlichste Wollust der ersten Umarmung mit ihm. Aber erst eine Weile nachher, nachdem Joseph eine bewegliche Rede des Alten angehöret, und die zärtlichen Blike die dieser auf ihn geheftet, lebhaft empfunden hat, steigt die Freud auf den höchsten Gipfel; erst da fühlte der Dichter, daß nun die Leidenschaft eine Höhe erreicht habe, die sich kaum beschreiben läßt. Dieses giebt er uns auf eine ausnehmende Weise zu erkennen, wenn er sagt:


Vor stark zukender Lust stand zitternd der große Sohn Jacobs

Von den Bliken des Vaters und Worten, im Herzen gerühret.7


Die erste Umarmung seines Vaters konnte ihm noch wie ein Traum vorkommen, aber nun, nachdem er empfunden, daß seine Blike und seine rührenden Worte sein innerstes unmittelbar rege machten, verschwindet der Zweifel. Eben so fühlt auch Abbadona, mitten in seiner Quaal einen neuen und lebhaften Anfall von Verzweiflung, so bald die Empfindung von der Unmöglichkeit seinem Jammer zu entgehen, mit einiger Lebhaftigkeit erneuert wird; welches man bey folgender Stelle deutlich bemerkt.


–– Ist denn in deiner Ewigkeit künftig

Nichts mehr von Hoffnungen übrig? Ach, wird denn, göttlicher Richter,

Schöpfer, Vater, Erbarmer! –– –– Ach nun verzweifl' ich von neuem

Denn ich habe Johova gelästert! Ihn hab ich mit Namen,

Die ich ohne Versöhner nicht nennen darf, angeredet.8


Die neue Verzweiflung entsteht hier blos aus dem plötzlichen Gefühle der Unmöglichkeit der Rettung, die ohne Versöhner, der für ihn nicht vorhanden ist, nicht erfolgen konnte. Ueberhaupt also bekommen leidenschaftliche Gegenstände, so stark oder groß sie schon an sich seyn mögen, eine neue Größe von der Empfindung ihrer Gegenwart und ihrer Unveränderlichkeit.

Endlich giebt auch bisweilen die bloße Ueberraschung, und das Unerwartete darin, ihnen Größe und Kraft. Wo man auf angenehme oder unangenehme Anfälle vorbereitet ist, da rüstet man sich sie zu fassen; aber bey plötzlichem Angriffe davon wird man überwältiget. Darum hat das Schrekhafte allemal etwas Großes, weil es immer schnell und unvermuthet kömmt. Noch heftiger wird die Ergreifung des Gemüths, wenn die Sache gerade gegen die Erwartung kömmt. Wer einen Freund in der Person findet, die er für seinen Feind gehalten hat; wer Großmuth genießt, wo er Rache erwartet hat, fühlet nothwendig eine gewaltsame Ausdähnung der Empfindung. Alle bisher erwähnten Arten der ästhetischen Größe zusammen verbunden, empfindet man auf eine ausnehmende Weise bey folgender Stelle im Noah.

Im achten Gesang erzählt Noah, daß Raphael, nachdem er ihm die göttliche Posaune zugestellt, mit der er alle auf Erden lebende Geschöpfe in die Arche rufen sollte, sich eilig in die Luft geschwungen, und über Thamista geflogen; hier thut er hinzu:


Und ich hörte von Ferne die Worte der donnernden Stimme:

Gott ist, die Waag in der Hand, auf seinen Richtstuhl gesessen,

Schon ist das Urtheil gefällt; am siebenden Tag kommt die Straffe,

Daß sie die Erd und ihre Bewohner im Wasser vertilge.

Weh dem Geschlecht, über welchem der Zorn des ewigen aufgeht!


Nun finden wir im neunten Gesang, daß die Giganten, denen Noah das nahe Verderben verkündiget hatte, Anstalt machen durch Opfer und abergläubische Gebräuche das, ihnen gedrohte, Uebel zu beschwöhren. Indem nun diese unsinnige Schaar anfängt, sich für sicher zu halten, geräth sie plötzlich in verzweifelndes Schreken.


–– Als Og in dem Stolz angebeteter Priester zurükfuhr,

Legt den abgöttischen Hochmuth der Donner aus heiterem Himmel.

Dann gleich damals flog über Thamistens Thürmen der Engel

Und erhob, indem er daher flog, die donnernde Stimme.


Hier erwekt der Donner aus heiterm Himmel ein plötzliches Schreken; die vernehmlichen Worte des Engels, der feyerlich schrekliche Ton, und der fürchterliche Inhalt seiner Rede, stellen das Verderben nicht nur in seiner Größe, sondern auch in seiner völligen Gewißheit dar.

Die Leidenschaften selbst, ob sie gleich im Grunde Schwachheiten sind, können dennoch den Charakter der Größe an sich haben. Sie entstehen allemal aus Anfällen auf die innere Würksamkeit der Seele, auf die Kräfte, durch deren Aeusserung sie eigentlich ihr Leben, ihr Daseyn empfindet. Diese Kräfte werden von den Anfällen der leidenschaftlichen Gegenstände entweder gehemmet, oder gereizet. In beyden Fällen entsteht in der Seele das lebhafte Gefühl, wodurch sie empfindet, daß sie nicht ein spekulatives, [496] sondern ein handelndes, würksames, Freyheit und Macht besitzendes Wesen ist; sie wendet ihre Kraft an um den Gegenstand zu genießen, oder sich ihm zu widersetzen: und eben in diesen Umständen zeigen sich starke Seelen in ihrer vollen Größe. Es ist dem Menschen überhaupt nichts wichtiger, als die Behauptung seiner innerlichen Freyheit und Macht zu würken; weil er eigentlich seine Existenz nur alsdenn recht fühlt, wenn er diese Kraft anwendet etwas zu erhalten, oder von sich abzuwenden. Darum sucht er den Kreis seiner Würksamkeit überall zu erweitern; und wenn er Hinternisse vor sich findet, schwellen seine Kräfte, wie ein gehemmter Strohm, auf, brechen mit Gewalt und Ungestühm durch, und reissen, was ihnen im Wege steht, nieder. Darum ist der leidenschaftliche Zustand des Menschen vorzüglich geschikt, ihn in seiner Größe darzustellen.

Jederman empfindet diesen Charakter der Größe in dem Zorn des Achilles, in der Wuth des Philo, und selbst in der Verzweiflung des Abbadona. Man muß sich starke Seelen in großen Leidenschaften, als streitende Helden vorstellen, die allemal groß sind, es sey daß sie überwinden, oder überwunden werden; denn auch in seinem Fall kann der Held groß seyn. Wir bewundern den Eteokles des Aeschylus selbst da, wo er sich überwunden fühlt.9 Und so zeiget der alte Horaz des P. Corneille sich in seiner vollen Größe in der bekannten Antwort10 über die Flucht seines Sohnes.

Im Grund also ist das Große der Leidenschaften, ohne Rüksicht auf den sittlichen Werth der Sache, worauf sie abzielen, nichts anders, als eine sich lebhaft äussernde große Würksamkeit der, sich und ihre Freyheit fühlenden, Seele. Darum können wir dieser Größe selbst da, wo sie etwas Unsittliches, so gar etwas Gottloses an sich hat, unsern Beyfall nicht ganz versagen. Niemand getrauet sich in den höllischen Geistern Miltons und Klopstoks die Größe zu verkennen, die sich in den Aeusserungen ihrer Leidenschaften zeiget. So hat auch der berühmte Vers des Lucanus: Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni, der Gottlosigkeit die würklich darin liegt ungeachtet, etwas Großes. Denn wie könnte der Mensch, der im Grunde kein wichtigeres Intresse hat, als ein frey handelndes Wesen zu seyn, den tadeln, der das äusserste versucht, diese Freyheit zu behaupten? Das Böse in seiner Leidenschaft, ist blos Irrthum, blos Fehler in der Vorstellung, und verdienet Vergebung; hingegen ist die Gleichgültigkeit für die Behauptung seiner innern freyen Würksamkeit eine völlige Niederträchtigkeit, die keine Vergebung verdienet. Dieses hindert aber nicht, daß wir nicht den für noch grösser halten, der so gar seine eigene Würksamkeit und Freyheit einem noch grössern Gut aufopfert. Sich selbst überwinden, ist der größte Sieg, und die größte Kraft der Seele zeiget sich darin, daß sie ihrer eigenen Würksamkeit, mitten in der stärksten Aeusserung, dennoch Meister wird, um sie anderswohin zu lenken. Denn wie der, der sein Leben und seine Freyheit aus Feigheit nicht vertheidiget, ein Nichtswürdiger ist, so verdienet der unsre größte Hochachtung, der sie freywillig, aus Stärke des Geistes, um höhere Absichten zu erreichen, dahingiebt.

Dieses sind also die verschiedenen Gattungen des Großen, wodurch die Werke der Kunst intressant wer den können.

Zur guten Behandlung des Großen gehört ein großer Geschmak, den uns Mengs aus seinem eigenen Gefühl richtig beschreibet. »Der große Geschmak, sagt er11, besteht darin, daß man die Großen und Haupttheile der ganzen Natur wähle, und die kleinern und untergeordneten, wo sie nicht höchst nöthig sind, versteke.« Es ist schon oben angemerkt worden, daß die Einfalt viel zur Größe beyträgt. Also wollen auch große Gegenstände so behandelt seyn, daß sie einfach und ungezwungen da stehen. Der subtile Geschmak, der jedem einzelen Theil eine genaue Ausbildung und eine merkbare Feinheit geben will, der umständlich ist, der am Einzelen hängt, zerstöhrt durch seine Bearbeitung den Charakter der Größe. Wer nicht mit wenigen Veranstaltungen die volle Würkung, die er zur Absicht hat, erreicht, der kann keinen großen Gegenstand in seiner Größe darstellen. Es geschieht bisweilen, daß auch gemeine Künstler, entweder von ungefehr, oder weil sie des Gefühls für das Große nicht ganz beraubet sind, auf große Gegenstände fallen, die sie durch eine schwache und umständliche Behandlung verderben. Wie man etwa schlechte Schauspieler sieht, die das Große in den Reden der Personen, die sie vorstellen, durch Nebensachen, durch übertriebene Heftigkeit der Gebehrden und der Stimme, würklich verderben, eben so geschieht es auch andern Künstlern, denen es an großem [497] Geschmak fehlet. Man sieht dieses deutlich an dem Ovidius, der sehr oft große Gedanken durch eine umständliche Behandlung verderbt; entweder weil er selbst das Große nicht recht gefühlt, oder weil er seinem Leser nicht zugetrauet hat, daß er es fühlen werde. Man sehe z. B. nur folgende Stelle, wo er von der Latona spricht:12


–– cui maxima quondam

Exiguam sedem parituræ terra negavit.

Nec cœlo, nec humo, nec aquis Dea vestra recepta est.

Exul erat mundi. –


Der zweyte Vers und die drey letzten Worte des vierten, haben würklich den Charakter der Größe: aber durch die kleine Antithese, und durch die umständliche Zergliederung und Umschreibung im dritten Vers, wird die Vorstellung gleichsam in kleinere Stüke zerschnitten. Die Behandlung des Großen muß vorzüglich diese Maxime zum Grund haben:


Ornari res ipsa negat, contenta doceri.


Denn das, was in seinen wesentlichen Theilen, in seiner einfachen Gestalt, Kraft genug hat, bedarf nicht nur keines Zusatzes, sondern wird dadurch nur geschwächt.

Dem Großen ist das Kleine, das Artige, das Niedliche und überhaupt alles entgegen gesetzt, was dem Geschmak nur schmeichelt, was ergötzt und wie sanfte kühlende Lüftgen, blos zum wollüstigen Genuß einladet, ohne die Kräfte der Seele zu einiger Würksamkeit aufzufodern. Eine Ausartung des Großen aber ist das Schwülstige und Uebertriebene, das nicht durch seine innere Kraft, sondern nur durch ungestühmes Pochen und Poltern, durch prahlendes Großthun, die Aufmerksamkeit von uns zu erzwingen sucht. Hierüber wird das nöthigste zum Gebrauch der Künstler an andern Orten vorkommen.13

Es erhellet aus diesen Betrachtungen über das Große, daß es eine Kraft hat, die Würksamkeit unsrer Seelenkräfte zu reizen und zu vermehren. Und hierin liegt eben der Vorzug, den es vor dem Artigen und Niedlichen hat. Dieses verdienet etwas genauer entwikelt zu werden; weil hier gerade der Ort ist, den wichtigsten Nutzen, den die schönen Künste haben, und den der Künstler nie aus den Augen setzen soll, in seinem wahren Lichte zu zeigen.

Der Mensch ist ein empfindsames, aber auch zugleich ein würksames und handelndes Wesen. Es ist offenbar, daß die Natur ihm die Empfindsamkeit so wol zur Würksamkeit, als zum Genuß gegeben hat. Durch den bloßen Genuß würde der Mensch bald ausarten und zu einem schwachen elenden Ding werden, dessen Würksamkeit erstorben ist; in der Welt würde er das seyn, was Personen, deren Temperament durch ein weichliches Leben, oder durch Krankheit so geschwächt ist, daß sie selbst nichts mehr verrichten können. In der Gesellschaft sind sie bloße Zuschauer, die alles, was vorfällt, es sey angenehm oder unangenehm, mitgenießen, aber selbst nichts mehr zum allgemeinen Intresse beytragen. Die würkenden Kräfte der Seele, die, wodurch der Mensch zu einem thätigen Wesen wird, sind sein vornehmstes Gut. Alles, was diese unterhält, was sie reizet und stärket, muß ihm wichtig seyn; denn dieses ist die eigentliche Nahrung des Geistes, wodurch er seine Gesundheit erhält und seine Kräfte immer vermehrt.

Die Werke des Geschmaks, die uns blos zum angenehmen und wollüstigen Genuß reizen, die der Phantasie und dem Herzen sanft schmeicheln, ohne sie jemal zu erschüttern, ohne sie aufzufodern, die würksamen Kräfte zubrauchen, sind Lekerbissen, die keine Nahrung geben, und deren Genuß allmählig alle Lebhaftigkeit, alle Kraft der Seele auslöscht. Nur das Große unterhält und stärkt alle Seelenkräfte; es leistet dem Geiste den Dienst, den der Körper von starken, männlichen Leibesübungen hat; wodurch er immer gesunder und stärker wird. Die Kräfte der Seele müssen, wie die Leibeskräfte, in beständiger Uebung unterhalten werden: der stärkste Geist kann in Unthätigkeit versinken, wenn er lange Zeit nichts um sich siehet, das seine Würksamkeit auffodert. Wir lernen aus der Geschichte der Menschen, daß die Größe und Stärke des Geistes, die wir für den Nationalcharakter gewisser Völker hielten, in verächtliche Weichlichkeit, und hernach so gar in Niederträchtigkeit ausgeartet ist, blos darum, daß entweder durch den Druk der Tyranney, oder durch eben so schweere Unterdrükung einer wollüstigen Ruhe, die Würksamkeit in den Gemüthern gehemmet worden. Das mächtigste Volk, das sich der Ueppigkeit und dem ruhigen Genuß der Güter, die es besitzt, einmal überlassen hat, wird allemal ein Raub eines würksamen und thätigen Volks werden, so bald sich dieses Eroberungen zu machen vorgenommen hat [498] Wenn also die schönen Künste, wie man nicht zweifeln kann, das Ihrige zur Bildung des Charakters der Menschen beytragen sollen, so ist auch offenbar, daß dieses vorzüglich durch solche Werke geschehen müsse, die so wol in ihrem Inhalt, als in der Behandlung, den Charakter der Größe an sich haben; daß nur die Künstler, die darauf arbeiten alle Kräfte der Seele in beständiger Uebung zu unterhalten, die Erwartung der Philosophie und der wahren Politik erfüllen, welche die schönen Künste zu ihrem Beystand herbeyrufen.14 Nicht die Feinheit des Geschmaks, sondern seine Größe ist das, worauf die Critik vorzüglich arbeiten sollte. Jene dienet zu einer angenehmen Erholung, wenn der Geist nach einer männlichen Uebung seiner Kräfte einiger Ruhe bedarf. Beydes ist gut, wenn nur die gehörige Unterordnung dabey beobachtet wird. Der Künstler sollte sich die besten Baumeister zum Muster nehmen, die das Feine und das Kleine zwar nicht verachten, aber nur sparsam, und an den Stellen anbringen, wo es das Aug von dem Großen nicht abziehen kann.

1S. Ausbildung S. 99.
2S. Art. Euripides S. 356.
3S. Erhaben.
4Non muna sed multum.
5Quando nec ordinis hujus ulla, nec reipublicæ est verecundia, patria majestas altercationem istam dirimet. Filius meus extra sortem urbi præerit. Bellum utinam, qui adpetunt, consideratius concordiusque, quam cupiunt, gerant. Liv. L. IV. c. 46.
6Art. Freude S. 405.
7Jacob. IV. Gesang.
8Meß. II. Ges.
9Man sehe die im Artikel Aeschylus auf der 19 Seit. angeführte Stelle.
10Que vouliez vous qu'il fit contre trois? Qu'il mourût. S. Horace de P. Corneille Act. III. Sc. 6.
11S. Gedanken über die Schönheit und über den Geschmak. S. 22.
12Metam L. VI. 186.
13S. Klein, Schwülstig, Uebertrieben.
14S. Künste.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 490-499.
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