Armenwesen

[121] Armenwesen umfaßt Alles, was die Armen und die Verbesserung ihrer Verhältnisse zum Gegenstande hat. Das Beste für die menschliche Gesellschaft wäre es freilich, wenn es gar keine Armen gäbe; denn die Armuth, wenn sie überhand nimmt, ist eine Krankheit für die Staaten, welche deren gänzliche Auflösung nach sich ziehen kann. Sie ist die mächtigste Versuchung zu Lastern und Verbrechen, sodaß nicht einmal die Reichen und Wohlhabenden sich in einem Staate, in welchem es viele Arme gibt, wohl befinden können. Demnach ist es Pflicht und Sorge der Regierungen, der Armuth möglichst vorzubeugen und den Zustand der schon Verarmten zu verbessern. Da den Armen die zum Lebensunterhalte durchaus nothwendigen Mittel, nämlich Nahrung, Kleidung, Wohnung und Feuerung fehlen, so ist Übervölkerung eines Staates als die erste und natürlichste Ursache der [121] Armuth zu betrachten und deshalb vom Staate dahin zu wirken, daß Keiner in demselben außerhalb einer Familie, d.h. unehelich geboren werde, daß nur Der heirathe, welcher nachweisen kann, daß er eine Familie zu ernähren im Stande sei, und daß Niemand verarme. Nun aber kann Jemand theils ohne seine Schuld durch Unglück und Zufall aller Art, theils durch eigne Verschuldung, durch Faulheit, Leichtsinn und Verschwendung in Armuth gerathen. Für die Abwendung unverschuldeter Verarmung, z.B. durch Hagel, Miswachs, Feuersbrunst, Überschwemmungen, Todesfälle u.s.w. läßt sich allerdings sehr viel durch Assecuranzen oder Versicherungen (s.d.) aller Art thun, die jetzt durch eine immer zweckmäßigere Einrichtung gedeihlichen Fortgang finden. Auch trägt im Allgemeinen ein gut eingerichtetes Hypothekenwesen und ein schneller und sicherer Proceßgang sehr viel dazu bei, der Verarmung zuvorzukommen. Allein die Ursachen unverschuldeter Armuth sind so unendlich mannichfach, daß wohl niemals solche sämmtlich zu heben sein möchten. Übermäßige Vermehrung der Familie, Mangel an Arbeit, verfehlte Speculationen, Krankheiten, der Krieg mit seinem Gefolge u.s.w. können einen Familienvater in die traurige Lage versetzen, daß es ihm unmöglich wird, seine Familie mit den nothwendigen Bedürfnissen hinreichend zu versehen. Die Armenpflege wird daher immer ein großes Gebiet für ihre Thätigkeit behalten, wenn auch die Regierungen alle Mittel, die ihnen zu Gebote stehen, um der Verarmung vorzubeugen, in Anwendung bringen. Indeß auch gegen Verarmung aus eigner Verschuldung kann viel geschehen, wenn durch gute policeiliche Anstalten die Versuchung zum Laster vermindert wird. Eine gehörige Aufsicht über Schenk-und Spielhäuser, strenge Verbote verführerischer Glücksspiele, Warnung und Bevormundung Solcher, die sich der Verführung hingaben, sind in dieser Beziehung von sehr wohlthätigem Einflusse. Doch von ungleich wichtigerm Einflusse ist die Erziehung des Volkes, denn Zwang und Strafe haben noch niemals einen Menschen wahrhaft gebessert; nur in dem innern freien Sinne für das Rechte und Gute liegt die Bürgschaft, daß die Gesetze heilig gehalten und geachtet werden; diesen Sinn zu erwecken, ist die Aufgabe der Volkserziehung. Durch dieselbe wird der Volksgeist gehoben und das Gefühl für Ehre und Schande rege gemacht. Dieses Gefühl aber, daß Derjenige, welcher durch eignes Verdienst wohlhabend geworden, Ehre, derjenige hingegen, welcher durch eigne Schuld arm geworden ist, Schande davon hat, wird ein mächtiger Sporn für Arbeitsamkeit und Mäßigkeit sein. Wenn überdies die obern Classen der Gesellschaft darauf denken, den niedern Classen durch ihre Lebensweise ein gutes Beispiel zu geben, wenn die Regierung es an Mitteln der Ermunterung, z.B. Prämien und Auszeichnungen, nicht fehlen läßt; wenn sie durch Errichtung von Sparcassen Gelegenheit und Veranlassung zur Sparsamkeit gibt, so werden die Fälle verschuldeter Verarmung im Staate sicher sich mindern. Daß übrigens die Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens in vernünftiger Weise geordnet sein müssen, wenn es wenig Arme geben soll, versteht sich von selbst, denn wo keine Sparsamkeit im Staatshaushalte ist, wo die Abgaben übermäßig groß und auf drückende Weise vertheilt und erhoben werden, wo der freie Verkehr beschränkt ist und der Arbeiter die Früchte seiner Arbeit nicht selbst genießen darf, da wird auch viel Armuth sein, welche durch kein anderes Mittel gehoben werden kann, als durch Umänderung jener Verhältnisse.

Aber die Armuth mag verschuldet oder nicht verschuldet sein, eine gute Regierung kann die Armen nicht ihrem eignen Schicksal und Elend überlassen, denn die wahre Menschenliebe fragt nur nach dem Elend und nach der Hülfsbedürftigkeit und nicht nach der Verschuldung; auch fodert dies die Politik, da Armuth und Noth die Quelle der meisten Verbrechen sind. Was nun die Unterstützung selbst betrifft, welche den Armen werden soll, so muß bei ihr als leitender Grundsatz gelten, daß sie nicht weiter zu gehen braucht, als den eigentlichen Zustand des Mangels an den nothwendigsten Gegenständen abzuwenden, da nur Der, welcher hieran Mangel leidet, arm ist und auf Unterstützung Anspruch hat. Es würde eine Ungerechtigkeit sein, wenn die Armen durch Unterstützung in eine bessere Lage versetzt würden, als die des arbeitsamen Tagelöhners ist, denn auch dieser muß, wenn die Armen aus öffentlichen Mitteln unterstützt werden, dazu beitragen. Daß aber Jemand Andern ein gemächliches Leben verschaffe, während er selbst auf das Nothdürftige beschränkt ist, widerspricht dem natürlichen Rechtsgefühl. Auch würde dies die Folge haben, daß die Zahl der Armen sich fortwährend vermehrte. Nur Diejenigen, welchen es an Fähigkeit oder an Gelegenheit zur Arbeit und zur Selbsterhaltung fehlt, fallen der Armenpflege anheim, während Die, welche nicht arbeiten wollen, in Zwangsarbeitshäusern unterzubringen sind.

Die Art der Unterstützung der Armen kann sehr verschieden sein; Spenden an Geld oder, was dem noch vorzuziehen ist, an Nahrungsmitteln, sind das einfachste und am nächsten liegende Mittel. Den Arbeitsfähigen wird am besten dadurch geholfen, daß man ihnen Arbeit verschafft; auch hat man seit dem Anfange dieses Jahrhunderts für diese das System der Colonisation in Anwendung gebracht. Das Wesen der Armencolonien besteht darin, daß man arbeitsfähige Arme ansiedelt, indem man ihnen ein Stück Land zur Bearbeitung überläßt, für ihre erste Einrichtung Sorge trägt und ihnen Obdach, die nothwendigen Werkzeuge und Nahrungsmittel gibt, bis sie durch den Ertrag der Ernte in den Stand gesetzt sind, selbst für sich zu sorgen. Wenn die Arbeiter durch gehörige Aufsicht zur Thätigkeit und durch wohlwollende und verständige Leitung zu einer zweckmäßigen Benutzung ihrer Kräfte und ihres Bodens angehalten werden, so haben solche Armencolonien, wie dies in Holland und auch in Holstein die Erfahrung gelehrt hat, den besten Erfolg. Allein sie lassen sich nur da in Anwendung bringen, wo die Regierung Landstrecken zu ihrer Verfügung hat, deren Bearbeitung lohnenden Ertrag verspricht. Da Viele blos dadurch verarmen, daß ihnen Gewandtheit mangelt und sie die Gelegenheit nicht kennen, Arbeit zu finden, so bestehen für diesen Fall in mehren Staaten Arbeitscommissionen, deren Zweck es ist, den Arbeitern ihr Unterkommen zu erleichtern. Bei verarmten Handwerkern ist häufig das Anschaffen von Werkzeugen oder Materialien hinreichend, um sie in den Stand zu setzen, ihr Handwerk wieder gehörig zu betreiben. Höchst wohlthätig wirken auch die in mehren Ländern bestehenden sogenannten freiwilligen Arbeitshäuser, in welchen den Armen Arbeit gegeben wird. Speise-oder sogenannte Suppenanstalten, Vereine zur Bekleidung der Armen, zur Verpflegung der Kranken, Armenkrankenhäuser, [122] Spitäler, Waisen- und Findelhäuser sind die besten Mittel, den traurigen Folgen der Armuth zu begegnen und ihre Last erträglich zu machen. Um aber durch eine gehörige Erziehung der Kinder der Armen bei Zeiten eine zukünftige Armuth zu verhüten, hat man Armen- oder Freischulen errichtet, in welchen der Unterricht entweder unentgeltlich, oder gegen sehr geringes Schulgeld ertheilt wird. Häufig sind dieselben mit Industrieschulen verbunden, wo die Kinder in Handarbeiten sich versuchen lernen, und zwar, um in ihnen von Jugend auf eine Freude am Erwerb zu erwecken, auf eigne Rechnung. Sie haben ihre Aufmerksamkeit um so mehr auf den sittlichen Zustand der Kinder zu richten, da die Ältern in dieser Beziehung häufig einen sehr nachtheiligen Einfluß ausüben. Wo es sich thun läßt, ist es allerdings das Beste, wenn arme Kinder in ordentliche Familien untergebracht werden. Auch sind die Frauenvereine, besonders für die Erziehung der Mädchen, von dem wohlthätigsten Einflusse. Die Kosten der Armenpflege tragen entweder die einzelnen Gemeinden oder die Staatscassen; doch möchte es im Allgemeinen vorzuziehen sein, daß die Sorge für die Armenpflege den einzelnen Gemeinden zugewiesen werde, weil diese mit den örtlichen Verhältnissen und mit der Hülfsbedürftigkeit der Einzelnen am vertrautesten sind. Allein in keinem Falle darf dies ohne Aufsicht von oben geschehen, da die Armenpflege mit dem Wohle des Ganzen zu innig zusammenhängt, und es ist der Staat um so mehr berechtigt, durch Armenordnungen einzuwirken, da doch am Ende, wenn ungewöhnliche Ausgaben für die Armen einer Gemeinde nothwendig werden, dieselben aus der Staatskasse bestritten werden müssen. In dieser Hinsicht ist es auch sehr zweckdienlich, einen Theil der öffentlichen Einnahmen auf Bildung einer Armenkasse zu verwenden, wenn auch nicht grade Abgaben unter dem Namen von Armensteuern erhoben werden. In den einzelnen Gemeinden aber läßt es sich nicht gut vermeiden, Armengelder oder Armentaxen zu erheben, da auf die freiwilligen Beiträge der Einzelnen nicht immer mit Zuverlässigkeit zu rechnen ist.

Obschon bei ausreichenden und tüchtigen Armenanstalten das Almosengeben an Bettler ganz unnöthig wird und in den meisten Fällen schädlich wirkt, so darf doch deshalb die Tugend der Mildthätigkeit nie erlöschen. Sie muß sich vorzüglich gegen die sogenannten Hausarmen äußern, welche meist die unglücklichsten aller Armen sind. Zu bescheiden und zu verschämt, fremdes Mitleid in Anspruch zu nehmen, kommen ihnen die öffentlichen Armenanstalten nicht zu Gute, und dann ist es der edelste Beruf des Menschenfreundes, dieselben aufzusuchen und mit dem Zartgefühle, welches ihre Lage erfodert, zu unterstützen. – Armenrecht nennt man das Recht der Armen, wegen Bezahlung der Proceßkosten so lange Nachsicht zu erhalten, bis sie in bessere Umstände gekommen sind. Das Armenrecht darf Jeder in Anspruch nehmen, der nach Abzug seines Lebensunterhalts nicht genug im Vermögen hat, um die Proceßkosten zu bestreiten, doch muß dies von der Obrigkeit des Nachsuchenden bescheinigt, auch zuweilen eidlich durch den Armeneid beglaubigt werden.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 121-123.
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