Byzantinische Literatur

[673] Byzantinische Literatur. Die b. L. umfaßt das Schrifttum der Griechen von Konstantin d. Gr. (324) bis zum Untergang des byzantinischen Reiches (1453); man pflegt jedoch die Zeit bis Justinian (527) als die Periode des Unterganges der Antike und der Neubildung byzantinischen Wesens noch der altgriechischen Literatur zuzuweisen (s. Griechische Literatur). Die b. L. entbehrt nicht so völlig der Eigenart, wie meist angenommen wird, wenn sie auch im wesentlichen antike Tradition fortsetzt und an antike Formen sich anlehnt. Sie ist vorwiegend gelehrter Natur; daher nimmt die Altertumswissenschaft einen breiten Raum ein; durch Exzerpte und Kompilationen, Lehrbücher, Scholien, Lexika haben die Byzantiner die Kenntnis der Antike lebendig erhalten. Selbst in den Zeiten des Tiefstandes ist das Interesse am Altertum in Männern wie Photios und Arethas (9. Jahrh.)[673] rege geblieben; im 10. Jahrh. errichtete Kaiser Konstantinos VII. Porphyrogennetos (945–959), der selbst historischer und politischer Schriftsteller war, Kommissionen von Gelehrten, die für die verschiedenen Wissenschaften Enzyklopädien zusammenzustellen hatten; demselben Jahrhundert gehört das große enzyklopädische Lexikon des Suidas an. So kam es in den folgenden Jahrhunderten zu einem Wiederaufleben der klassischen Studien, die durch Männer wie Psellos (11. Jahrh.), Tzetzes, Eustathios, Gregor von Korinth (12. Jahrh.), Planudes (14. Jahrh.) aufs eifrigste betrieben wurden; an diese Gelehrten schließen sich in ununterbrochener Folge jene Griechen wie Theodoros von Gaza, Laskaris, Musurus an, welche die Epoche des »Humanismus« im Westen einleiten. Ganz neue Aufgaben stellte der byzantinischen Gelehrsamkeit das Christentum, und so nimmt die theologische Literatur ebenfalls einen großen Raum ein. Diese ist zunächst Fortbildung der Kirchenväter, verbindet sich aber mit der antiken Philosophie und erreicht in dem Aristoteliker und Theologen Johannes von Damaskos (8. Jahrh.) und in Psellos ihren philosophischen Höhepunkt; seit dem 11. Jahrh. wird die theologische Schriftstellerei durch die Polemik mit den »Lateinern« neu belebt. Reich entwickelt ist ferner die Geschichtschreibung, die entweder unter Nachahmung von Darstellungsweise und Sprache der antiken Vorbilder die Zeitgeschichte oder kompilatorisch in gemeinverständlicher Sprache und mit besonderer Berücksichtigung der Kirchengeschichte die allgemeine Weltgeschichte behandelt; Vertreter der letztern sind die »Chronisten«, d. h. die Verfasser von Weltchroniken, wie Johannes Malalas (6. Jahrh.), Georgios Synkellos, Theophanes, Nikephoros und Georgios Monachos (8. Jahrh.), Johannes Skylitzes (11. Jahrh.), Johannes Zonaras (12. Jahrh.), Michael Glykas (12. Jahrh.). Im Vordergrund stehen jedoch die Historiker, die Zeitgeschichte oder einen Ausschnitt aus der Geschichte behandeln. Rechnet man Geschichtschreiber des 5. Jahrh., wie Eunapios, Zosimos, Priskos, noch nicht zur byzantinischen Literatur, so gehören als erste hierher aus der frühbyzantinischen Zeit (bis zum Tode des Heraklios 640) Prokop, Agathias, Petros Patrikios, Menander Protektor und Theophylaktos; nach den beiden darauf folgenden Jahrhunderten, die eine Zeit der literarischen Verödung bezeichnen, bereitet sich im 9. Jahrh. eine neue Belebung der Literatur vor, die sich besonders in der polyhistorischen Tätigkeit des Patriarchen Photios verkörpert, von Konstantin VII. aus dem makedonischen Hause (s. oben) weiter befördert ward und Geschichtschreiber wie Joseph Genesios, den Fortsetzer des Theophanes und Leo Diakonos aufweist. Mit dem vielseitigen Michael Psellos, er ist Staatsmann, Philosoph, Philolog und Historiker, beginnt im 11. Jahrh. ein Aufschwung der byzantinischen Schriftstellerei (Michael Attaleiates u. a.), der im 12. Jahrh. den Höhepunkt in den Geschichtswerken des Nikephoros Bryennios, der Anna Komnena, des Johannes Kinnamos, Niketas Akominatos erreicht. Diese Periode ist auch durch ihre sprachliche Tendenz von der ältern Entwickelung verschieden; denn während bis zum 10. Jahrh. der gesprochenen Sprache mehr und mehr Konzessionen gemacht wurden, suchte man mit dem Wiederaufleben der klassischen Studien in Byzanz auch die Schriftsprache wieder der antiken Form zu nähern, und so erweiterte sich die Kluft zwischen der lebenden und der Büchersprache immer mehr. Im 12. Jahrh. begann daher auch als Reaktion gegen diese Strömung die »vulgärgriechische« Literatur, welche die Volkssprache als Ausdrucksmittel wählte (s. Neugriechische Literatur); dieser Zweig des byzantinischen Schrifttums beschränkte sich freilich auf Lehr- und Klagegedichte, epische und romantische Dichtungen (Ritterromane), Volksbücher; in der offiziellen Literatur herrschte auch weiterhin die archaisierende Sprachform unbestritten, so bei den Historikern, bez. Polyhistoren Georgios Akropolites und Pachymeres (13. Jahrh.), Nikephoros Gregoras und Kaiser Johannes VI. Kantakuzenos (14. Jahrh.), Laonikos Chalkondyles und Georgios Phrantzes (15. Jahrh.), die den Untergang des byzantinischen und die Errichtung des türkischen Reiches in Europa schildern. Die griechische Schriftstellerei der folgenden Jahrhunderte (bis zur Erhebung der Griechen) muß als ein Ausläufer der byzantinischen Literatur betrachtet werden, soweit es sich nicht um die Produkte der Volkssprache handelt.

Die Poesie der Byzantiner hat nur in der kirchlichen Dichtung wirklich Bedeutendes aufzuweisen; ihr Hauptvertreter ist der Hymnendichter Romanos, der ins 6. Jahrh. gesetzt wird. Nach Johannes von Damaskos und Kosmas von Jerusalem (7. Jahrh.) wird jedoch nichts Eigenartiges mehr geschaffen. In der weltlichen Dichtung spielt das Lob- und Lehrgedicht eine große Rolle, so bei Georgios Pisides (7. Jahrh.), die sentenzenhafte und epigrammatische Dichtung ist durch die Dichterin Kasia (9. Jahrh.), ferner durch Johannes Geometres (10. Jahrh.), Christophoros von Mitylene und Johannes Mauropus (11. Jahrh.) vertreten. Das einzige Drama eines unbekannten Verfassers, der »Χριστὸς πάσχων« aus dem 11. oder 12. Jahrh., verdient kaum diese Bezeichnung; es ist ein Cento aus Reminiszenzen der antiken Tragödie. Am mannigfaltigsten ist die Tätigkeit des Theodoros Prodromos (auch Ptochoprodromos, »Bettel-Prodromos«, genannt), falls es sich nicht um mehrere Persönlichkeiten gleichen Namens handelt; er ist Verfasser eines langen Romans in Versen sowie von Spott-, Lob- und Bettelgedichten und Epigrammen; in einigen Gedichten bedient er sich der Vulgärsprache und gehört somit zugleich zu den frühesten Vertretern der Vulgärliteratur. Vgl. Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Literatur (2. Aufl., Münch. 1897); über die weitere Forschung auf diesem Gebiete berichtet Krumbacher in der von ihm herausgegebenen »Byzantinischen Zeitschrift« (Leipz., seit 1892). Für die Zeit von 1453–1821 vgl. Sathas, Neohellenike philologia (Athen 1868), und Legrand, »Bibliographie hellénique, ou description raisonnée des ouvrages publiés par des Grecs an 15. et 16. siècles« (Par. 1885, 2 Bde.) und »Bibliographie, etc., an 17. siècle« (das. 1894, 3 Bde.). Die erste Sammlung byzantinischer Geschichtschreiber: »Historiae Byzantinae scriptores«, erschien in Paris (1648–1711, 39 Bde.; nachgedruckt Venedig 1722ff. in 28 Bdn.), eine neue: »Corpus scriptorum historiae Byzantinae«, veranstaltet von der Berliner Akademie der Wissenschaften, in Bonn (1828–1897 in 50 Bdn.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 673-674.
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