Indische Kunst

[801] Indische Kunst (hierzu Tafel »Indische Kunst I u. II«), die im 3. Jahrh. v. Chr. beginnende und mit der Herrschaft der Mohammedaner im 11. Jahrh. endigende Kunstübung, die in Vorderindien und den benachbarten, von der indischen Kultur und insbes. vom Buddhismus beeinflußten Ländern eine große Zahl ausgezeichneter Denkmäler der Architektur und der meist mit ihr verbundenen Bildnerei hervorgebracht hat. Man teilt die Denkmäler, die der altbuddhistischen Kunstübung angehören, in fünf Gruppen: 1) Stambhas (hindostan.: Lats), d. h. Säulen, auf deren Kapitell unmittelbar oder auf einer Gruppe von Löwen oder Elefanten ein religiöses Symbol aufgestellt ist und die meist zur Aufnahme von Inschriften bestimmt sind; 2) Tschaityas (Chaityas), Versammlungshallen der Andächtigen, meist mit einem Grabmal, besonders Höhlentempel; 3) Viharas, Klöster, die meist mit Tschaityas verbunden sind; 4) Stupas, ursprünglich Grabmäler der Könige, dann Reliquienbehälter, die aus einem quadratischen Steinunterbau mit massivem Aufbau in Form einer Wasserblase bestehen, die von einer Terrasse bekrönt wird. Über der Terrasse erhebt sich ein Schirm, einfach oder mit mehreren Dächern übereinander; 5) Steinzäune, welche die Stupas oder eine Terrasse mit einem heiligen Baum umgeben und deren Pfeiler und Querbalken meist mit Reliefs geschmückt sind. Auch sind sie bisweilen mit großen, ebenfalls reich mit Reliefs versehenen Steintoren verbunden. Die ältesten Denkmäler stehen unter dem Einfluß Persiens, den vornehmlich die ältesten datierbaren Werke der indischen Kunst, die von König Açoka um 250 v. Chr. zum Zeichen des Sieges des Buddhismus in Dehli, Allahabad u. a. O. errichteten Säulen (Tafel II, Fig. 8, vgl. auch Fig. 2) zeigen. Mächtiger wurde aber die Einwirkung der griechischen Kunst nach den Zügen Alexanders d. Gr. und unter der Herrschaft seiner Nachfolger, die sich noch bis ins 4. Jahrh. n. Chr. behauptete. Diese Gruppe von Denkmälern heißt die gräcobuddhistische oder richtiger die der Gandharaklöster, weil sie sich meist in den Ruinen der Klöster in dem ehemaligen Königreich Gandhara im Nordwesten Indiens vorgefunden haben. Wenn auch in der Formengebung von der antiken Kunst abhängig, gestalteten die Inder die griechischen Vorbilder nach ihrer Stammesart und nach dem von der Natur ihres Landes gewährten Material um. Der Grundzug des indischen Volkscharakters besteht in einer großen Weichheit der Empfindung und einer lebhaften Glut der Phantasie, in denen sich fast jede übrige Tätigkeit des Geistes auflöst. Er zeigt sich auch in den indischen Bauwerken, bei denen durchweg ein lebendiges Gefühl hervortritt, das die Form nicht um einer konventionellen Bedeutung, sondern um ihrer selbst willen bildet; aber die fessellose Phantasie gestattet dem Gefühl nicht oder nur selten die zu einer harmonischen Durchbildung notwendige Ruhe, sie häuft Formen auf Formen und endet mit dem Eindruck einer fast chaotischen Verwirrung. Die bedeutendsten Baureste finden sich in Dekhan, deren wichtigste die z. T. sehr umfassenden Felsmonumente sind, die auf der Westseite der Halbinsel, in größerer oder geringerer Entfernung von der Stadt Bombay, liegen. Sie zeigen eine mehr oder weniger entschiedene Übereinstimmung des Stiles und gehören ohne Zweifel derselben Entwickelungsperiode an. Die brahmanischen Felsentempel oder Höhlentempel (s. d.) bedecken gewöhnlich einen viereckigen, zuweilen auch unregelmäßigen Hauptraum von größerer oder geringerer Ausdehnung, an den sich nicht selten kleinere Nebenräume anschließen; unter diesen ist der wichtigste das mit dem Bild oder dem Symbol des Gottes geschmückte Sanktuarium, das entweder eine Kammer für sich bildet oder noch von einem Gang umgeben ist. Der Hauptraum, als die Vorhalle des eigentlichen Heiligtums, hat immer eine flache Decke, die durch Säulen- oder Pfeilerstellung gestützt wird, deren vordere Reihe die offene Fassade des Tempels bildet (Tafel I, Fig. 3 u. 5). Höfe mit Galerien, Nebenkammern oder monolithen Monumenten finden sich häufig vor den Tempeln. Zuweilen liegen zwei, bisweilen sogar drei solcher Tempelräume übereinander. Die Säulen oder Pfeiler, welche die Felsdecke des Hauptraumes stützen, stehen gewöhnlich in rechtwinklig sich durchschneidenden Reihen und sind an der Decke durch architravähnliche Streifen verbunden, während die mit ihren Reihen korrespondierenden, an den Wänden hervortretenden Pilaster zwischen sich Nischen einschließen, die in der Regel durch Bildwerke ausgefüllt sind. Jene freistehenden Stützen haben meist eine halb pfeiler-, halb säulenartige Gestalt und bestehen durchweg aus einem festen Untersatz von würfelartiger Form, einem kurzen, runden Schaft mit einem unten eingezogenen, oben ausladenden, einem großen Pfühl gleichenden Kapitell und einem viereckigen Aufsatz, an den sich oft seitwärts zwei Konsolen anschließen (Tafel II, Fig. 5 u. 6). Zuweilen verbindet sich mit der Grottenanlage ein sehr ausgebildeter, obwohl nur aus dem Felsen gemeißelter Freibau, der dadurch entsteht, daß der das Sanktuarium umgebende Gang in beträchtlicher Breite angelegt und von der darüberschwebenden Felsdecke befreit ist, wodurch das Sanktuarium eine inmitten eines Hofraums liegende Kapelle bildet. In den Grotten von Ellora, namentlich im größern Tempel des Indra (Tafel I. Fig. 6) und in den Monumenten des Kailâsa, finden sich sehr merkwürdige Beispiele dieser Anordnung. Die buddhistischen Grottentempel öffnen sich nicht frei gegen außen. Sie bilden einen länglichen Raum, der nach hinten halbkreisförmig abschließt und rings von einem schmalen Umgang umgeben ist; Pfeilerstellungen trennen den Umgang von dem mittlern Hauptraum. Die Decke des letztern hat die Form eines überhöhten halbkreisförmigen, zuweilen hufeisenförmigen Tonnengewölbes (Tafel I, Fig. 4), während die Decke des Umganges flach ist. Die Pfeiler sind teils einfach achteckig, ohne Basis und Kapitell, teils mehr durchgebildet und mit Basis und Kapitell versehen, die in der Hauptform denen der Grottentempel gleichen, auch wohl über dem Kapitell noch mit phantastischen Skulpturen geschmückt sind (Tafel II, Fig. 7). Im Grunde des Mittelraums, vor seinem halbkreisförmigen Abschluß, befindet sich das Heiligtum, wodurch sich diese Anlagen als buddhistische kennzeichnen, der Stupa (Tafel II, Fig. 3). Vor dem Stupa steht gewöhnlich die Statue Buddhas in ihrer stets wiederkehrenden typischen Bildung, welche die Schule der Gandharaklöster[801] geschaffen und für die buddhistische Kunst aller Länder als kanonisch hingestellt hat. Einige Grottentempel der Koromandelküste bei Madras tragen den Charakter freistehender architektonischer Monumente, die aber im Innern nicht ausgehöhlt sind und nach Form und Stil den freistehenden Monumenten von Ellora entsprechen. Die auf dem heiligen Boden von Orissa, auf der Ostküste Indiens, vorhandenen Monumente sind aus Werkstücken (z. T. auch aus Ziegeln) ausgeführte Bauten (Tafel I, Fig. 2). Diese von den Europäern gewöhnlich Pagoden (verdorben aus dem Wort Bhagavati, »heiliges Haus«) genannten Tempelbauten zeigen je nach dem Grade der Heiligkeit des Ortes größere oder geringere Ausdehnung und als Hauptform wieder die der Pyramide, die aber durch eine Menge aus dem Dach jedes untern Absatzes hervortretender Kuppeln, mannigfaches Pilasterwerk (z. T. auch Säulen) an den Wänden der untern Absätze, Nischen, die ihre besondern bunt geschweiften (z. T. spitzbogig geschweiften) Bekrönungen haben, Zwischengesimse, besonders vielgestaltige Fußgesimse, endlich durch eine oft übergroße Menge von bildnerischen Darstellungen, die alle freien Stellen der Architektur einnehmen, das Gepräge einer wüsten Verworrenheit erhalten, die den Sinn des Beschauers schwindeln macht. Hervorzuheben sind die Pagoden zu Tiravalur, Tschillambrum und Madura, wo sich auch der riesige, zur Aufnahme der Pilger bestimmte neuere Saal oder Tschultri befindet, dessen Decke von 124 in vier Reihen stehenden, bis zum Kapitell aus je Einem Granitblock gearbeiteten Säulen getragen wird.

Auch in den bei Manikyala im Indusland beginnenden, der alten, von Indien durch Kabulistan nach Persien und Baktrien führenden Königsstraße entlang liegenden halbkugel- oder halbellipsenförmigen Topen, turmartigen Bauten von 15–25 m Höhe, die oben mit einem altarähnlichen Aufsatz aus Stein, Ti oder Tee, gekrönt sind (Tafel I, Fig. 1, u. II, Fig. 1), hat man die Stupas, die buddhistischen Heiligtümer, wieder erkannt. Die Periode, in der diese merkwürdigen Denkmäler entstanden, ist die, in der hier seit dem Sturz der mazedonisch-baktrischen Herrschaft (136 v. Chr.) bis zum 7. Jahrh. n. Chr. und zum Teil noch länger mächtige buddhistische Reiche blühten. In dieselbe Periode gehören auch die kolossalen, an der Felswand von Bamian befindlichen, in Nischen stehenden Relieffiguren bis zu 40 m Höhe. Auch auf Ceylon entstanden seit der Einführung des Buddhismus im 3. Jahrh. v. Chr. zahlreiche Bau ten, unter denen kolossale, im 2. Jahrh. erbaute Stupas hervorzuheben sind. Auch an den wichtigsten Monumenten von Nepal, den Tschaityas im Norden des indischen Gangeslandes, zeigt sich derselbe Baustil, indem sie außen die kuppelartige Form des Stupa zeigen und innen bereits zum freien, hoch gewölbten Raum geworden sind. Die bedeutenden, auf der Insel Java wie auch auf einigen andern Sundainseln erhaltenen Denkmäler gehören der Zeit des Mittelalters an und verdanken ihren Ursprung indischen Kolonisationen. Ein gleiches gilt von den großartigen Ziegelbauten der Khmer, eines in Kambodscha und dem südlichen Siam ansässigen Volkes, das vielleicht aus eingewanderten Hindu bestand. Diese wahrscheinlich aus dem 6.–15. Jahrh. stammenden Bauten, gewaltige Tempel, Paläste, Säulengänge, riesige, in Stufen abfallende Türme (Pagoden), jetzt sämtlich verfallen, befinden sich namentlich in Nakhon-Vat bei der Stadt Angkor in Siam (vgl. Khmer und Nakhon-Vat). Die seine Technik der indischen Grotten- und Freitempel, die von der vorderasiatischen erheblich abweicht, wird darauf zurückgeführt, daß in Indien vor der Einführung des Steinbaues der Holzbau allgemein üblich gewesen ist, dessen Technik später auf die des Steinbaues übertragen wurde (vgl. Holzbau).

Die indische Bildhauerkunst, die sich zumeist eng an die Architektur anschloß, stand wie diese anfangs unter persischem, später unter griechischem Einfluß, der besonders durch die Gandhara Schule vertreten wird. Die ältesten Statuen Buddhas sind dem griechischen Apollonideal nachgebildet (Tafel II, Fig. 4 u. 9). Wo sich die indische Bildhauerkunst von der antiken Formengebung entfernt, erging sie sich entweder in einem Übermaß von Zierlichkeit und Uppigkeit (Tafel II, Fig. 10 u. 11) oder in einem phantastischen Spiel mit Gestalten, die mit vielen Armen, Beinen und Köpfen ausgestattet wurden, um die Kräfte der dargestellten Gottheiten zu veranschaulichen. Eine reiche Sammlung von Gandhara-Skulpturen besitzt das Museum für Völkerkunde in Berlin.

Die Malerei und die Kleinkunst Indiens haben in der Technik eine hohe Vollendung erreicht; aber die Malereien der ältern Kunst (Wandgemälde der Felsentempel) sind meist untergegangen, und die der neuern Zeit sind nur dekorativen Charakters. In der indischen Ornamentik vereinigen sich die Einflüsse Persiens und Chinas. Mit der Erforschung der alten Kunstdenkmäler Indiens sind von der englischen Regierung die Beamten des »Archaeological Survey« betraut, die auch erfolgreiche Ausgrabungen veranstaltet haben. Vgl. die Literatur bei »Höhlentempel« und Fergusson, History of Indian and eastern architecture (Lond. 1876); Cunningham, The Bhilsa Topes, or Buddhist monuments of Central India (das. 1854) und The Stupa of Bharhut (das. 1879); Delaporte, Voyage an Cambodge. L'architecture khmer (Par. 1880); Burgeß, Notes on the Amaravati-Stupa (in »Archaeological Survey of Southern India«, Bd. 3, Madras 1882); Aymonier, L'épigraphie kambodjéenne (Saigon 1885); Fournereau, Les ruines d'Angkor (mit Porcher, Par. 1890) und Les ruines khmères (das. 1891); Rea, South Indian Buddhist antiquities (Madras 1894); Grünwedel, Buddhistische Kunst in Indien (4. Bd. der Handbücher der königlichen Museen in Berlin: Museum für Völkerkunde, 2. Aufl. 1900); Griffith, The paintings in the Buddhist cave-temples of Ajanta, Khandesh, India (Lond. 1896, 2 Bde.); Goblet d'Alviella, Des influences classiques dans l'art de I'Inde (Brüss. 1897), Les Grecs dans l'Inde (das. 1897) und Ce que l'Inde doit à la Grèce (Par. 1897); Burgeß, The Gandhara sculptures (im »Journal of Indian Art and Industry«, Madras 1896 u. 1900).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 801-802.
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