Moorkolonien

[123] Moorkolonien. Die ersten Ansiedelungen im Moor entstanden in der holländischen Provinz Groningen, hervorgerufen durch das Brenntorfbedürfnis der Städte in jenem holzarmen Land. Um dieses zu befriedigen, sing die durch Handel und allerlei Rechte mächtige Stadt Groningen bereits Ende des 14. Jahrh. an, durch Schiffahrtskanäle mit den benachbarten Mooren, in deren Besitz sie sich zu setzen wußte, Verbindungen zu schaffen, dieselben durch ein planmäßiges, gleichzeitig auf Entwässerung, Torfgewinnung und bequeme Kommunikation Rücksicht nehmendes Netz von Haupt-, Seiten- und Nebenkanälen (»Haupt-, In-, Achterwieken«) aufzuschließen und so eine gründliche Austorfung, Wegbarmachung und landwirtschaftliche Verwertung der ausgetorften Gründe nach der Methode der Moor- oder Veenkultur (s. Moor, S. 119) vorzubereiten. Das Moor wurde in Kolonaten (»Plaatsen«) von 8–20 Hektar Größe an Erbpächter ausgegeben, und diese durch strenge Vorschriften zur Urbarmachung des ausgetorften Bodens, pfleglicher Behandlung und Düngung der geschaffenen Äcker und Wiesen und zur Begründung von Gemeinden (Veenkolonien, Fehnkolonien) angehalten. Dem Beispiel der Stadt Groningen folgten in den benachbarten Provinzen Drenthe und Oberyssel Korporationen und Private. Nach den etwa 21,000 Hektar umfassenden Groninger Veenkolonien: Oude und Nieuwe Pekela, Zuidbrook, Wildervank, Sappemeer, Veendamm, Stadskanaal entstanden in Drenthe die Veenkolonie Hoogeveen, in Oberyssel Dedemsvaart. Bei ihrer Anlage wurden die Schiffahrtskanäle und meist auch die von diesen abzweigenden, die ganze Kolonie durchsetzenden Hauptwieken von den Unternehmern, dagegen die immer zwei Kolonate begrenzenden, senkrecht auf die Hauptwieken stoßenden Inwieken, von den Pächtern des Kolonats hergestellt. Die hohe Blüte der holländischen Veenkolonien, die sich in den von behäbiger Lebenshaltung zeugenden Ortschaften, den wohlgepflegten, höchst ertragreichen Äckern und Wiesen, in einer hochentwickelten Gewerbstätigkeit (Brennerei, Brauerei, Stärke-, Stärkezucker- und Zichorienfabrikation, Getreide- und Ölmühlen, Seifensiedereien und Strohfabriken, daneben zahlreiche Schiffswerften und alle von der Schiffahrt abhängigen Gewerbe) ausspricht, beruht in erster Linie auf dem Vorhandensein eines umsichtig geplanten, mit genügendem Kapitalaufwand musterhaft durchgeführten Kanalnetzes, auf einem hochgesteigerten Brenntorfabsatz und auf der Möglichkeit, von außen her, namentlich aus den Städten und aus der angrenzenden Marsch, große Düngermassen in das düngerbedürftige Moor zu schaffen. Ihr wirtschaftlicher Aufschwung wurde ferner mächtig gefördert durch das Aufblühen von Handel, Schiffahrt und Industrie, wofür die das ganze Land durchziehenden Wasserstraßen und die leichte Verbindung mit der See die glücklichsten Vorbedingungen geschaffen hatte. Wenn die in Nachahmung des holländischen Vorbildes in den angrenzenden deutschen Landesteilen, in Ostfriesland und im Osnabrückischen, seit 1633 entstandenen Fehnkolonien, wie Großefehn, Norderfehn, Spetzerfehn, Ihlover Fehn, Iheringsfehn, Westrhauderfehn, Papenburg (begründet 1630 durch den bischöflich Münsterschen Drost Diedrich von Velen) u.a., nicht entfernt den freudigen Aufschwung nahmen wie die holländischen Ansiedelungen, so ist die Ursache zum Teil in den Mängeln der meist mit zu geringem Kapital und ohne einheitliche Direktive unternommenen, für Handel und Verkehr fast bedeutungslos gebliebenen Kanalanlagen, zum Teil (Papenburg) darin zu suchen, daß die einseitige Bevorzugung von Schiffbau- und Schiffahrtsinteressen der Ausbildung einer sorgsamen Landwirtschaftstechnik und dem Aufblühen landwirtschaftlicher Gewerbe nicht förderlich war. Zum Teil unbeeinflußt durch das holländische Veenkultursystem entwickelten sich in der letzten Hälfte des 18. Jahrh., zum größern Teil ebenfalls veranlaßt durch das Brenntorfbedürfnis der nordwestdeutschen Städte, eine größere Anzahl von Hochmoorkolonien im großen Bourtanger Moor, links der Ems (Regbez. Osnabrück), und in den Hochmooren der frühern Herzogtümer Bremen und Verden (Regbez. Stade). Sie gediehen um so glücklicher, je mehr Gelegenheit sie zu lohnendem Torfabsatz, zum Erwerb von Wiesen und zum Bezug von düngenden Stoffen hatten. Auch bei den bestsituierten Kolonien war jedoch die Möglichkeit, Dünger zu beschaffen, nie sehr groß, und die Urbarmachung schritt daher nur sehr langsam vor. Das Sinken der Kohlenpreise und das infolge der Verbesserung der Verkehrseinrichtungen geforderte Eindringen der Kohle selbst in die Moorgegenden beschränkte außerdem den Verdienst durch Torfverkauf sehr erheblich. Die Mehrzahl der genannten Kolonien besaß nur ein sehr beschränktes Torfabsatzgebiet und war daher auf Hochmoorkultur ohne Sand angewiesen.

In derselben Zeit, in der sich die Hochmoorkolonisation in den genannten Landesteilen auf einer wenn auch nicht überall sehr fruchtbaren, so doch gefunden[123] Grundlage vollzog, hatte man in Ostfriesland, dessen ausgedehnte Hochmoore durch das Urbarmachungsedikt Friedrichs d. Gr. 1765 für Staatseigentum erklärt worden waren, staatsseitig angefangen, Kolonien auf der verhängnisvollen Basis der Moorbrennkultur anzulegen. Ohne für Verkehrswege, für ausreichende Entwässerung, für die Möglichkeit zu Nebenverdienst für die Ansiedler zu sorgen, setzte man hier im Laufe eines Jahrhunderts in 82 Kolonien etwa 20,000 mittellose Menschen, meist Landstreicher und arbeitsuntüchtige Hungerleider, im wilden Moor an und verwies sie auf Buchweizenbau in Brennkultur. Mißriet dieser, was nach wenigen Jahren des Brennens stets eintritt, so waren die Ansiedler dem Verhungern preisgegeben oder auf Betteln und Stehlen geradezu angewiesen. Die heillosen Zustände in den ostfriesischen M., auf die namentlich der inzwischen begründete nordwestdeutsche Verein gegen das Moorbrennen hinzuweisen nicht müde wurde, der Stillstand der auf gesunderer Grundlage begonnenen deutschen Hochmoorbesiedelung und anderseits die stetig glückliche Entwickelung der holländischen Veenkolonien und das durch die Erfolge der Rimpauschen Moordammkultur neuerwachte Interesse für eine bessere Verwertung der Moore, gaben der preußischen Verwaltung in den 1870er Jahren Veranlassung zu zwei wichtigen Unternehmungen. Auf Anregung des Unterstaatssekretärs v. Marcard wurde 1870 mit der Ausschließung des großen Bourtanger Hochmoors durch Schiffahrtskanäle nach holländischem Muster und mit dem Ausbau der Papenburger und ostfriesischen Moorschiffahrtskanäle begonnen und ferner 1876 in der vom landwirtschaftlichen Ministerium ressortierenden Zentral-Moorkommission eine Zentralstelle mit der Aufgabe geschaffen, alle für die Ausnutzung des Moores maßgebenden Faktoren volkswirtschaftlicher wie landwirtschaftlich-technischer und wissenschaftlicher Natur zu erforschen. Zur Lösung wissenschaftlicher sowie landwirtschaftlicher und technischer Fragen wurde ihr die 1877 in Bremen begründete Moorversuchsstation beigegeben. Letztere sucht durch Untersuchungen im Laboratorium, durch ein weit ausgedehntes Netz von Feld- und Wiesenversuchen, durch Vegetationsversuche in Gefäßen, durch Anlage von Versuchs- und Musterwirtschaften im Moor ihre Aufgaben zu erfüllen. Die Ergebnisse ihrer Arbeiten haben zu einer neuen Methode der Hochmoorkultur und zur Wiederaufnahme der Moorkolonisationsbestrebungen geführt. 1887 erwarb die hannoversche Provinzialverwaltung im Bourtanger Moor an dem dasselbe seiner Länge nach durchschneidenden »Südnordkanal« eine 440 Hektar große Moorfläche, entwässerte und teilte sie in Siedelungen von je 10 Hektar Größe. Diese werden an Zeitpächter vergeben, nachdem etwa 2 Hektar des Bodens auf Provinzialkosten durch die in Aussicht genommenen Pächter urbar gemacht, für die Ernte vorbereitet und die Wohn- und Wirtschaftsgebäude errichtet sind. Nach Ablauf der Pachtperiode, oder schon früher, kann der Ansiedler das ganze Kolonat zum Buchwert (dem mit 4 Proz. zu verzinsenden Betrag aller gemachten Auslagen) gegen Kapitalzahlung oder als Rentengut käuflich erwerben. Staatsseitig sind seit 1890 ganz ähnliche Besiedelungsunternehmen in dem vom Ems-Jade-Kanal durchschnittenen Wiseder Moor in Ostfriesland (Marcardsmoor), in dem im Mündungsgebiet der Elbe belegenen Kehdinger Moor (Kolonie Groß-Sterneberg) sowie in zwei holsteinschen Mooren (Reitmoor und Bargstedter Moor) begonnen worden. Diese Unternehmungen zeigen bis jetzt ein erfreuliches Gedeihen, Bar- und Inventarvermögen der Ansiedler hat laut buchmäßigem Nachweis erheblich zugenommen. Zu erwähnen ist ferner die von Pastor Cronemeyer in Bremerhaven begründete Arbeiterkolonie Friedrich-Wilhelmsdorf bei Loxstedt, die gleichfalls nach den Methoden der Moorversuchsstation und namentlich unter Zuhilfenahme des in Bremerhaven ausgebaggerten Weserschlicks bewirtschaftet wird. Die Bestrebungen auf dem Gebiete der Moorkultur werden in Deutschland durch den 1883 begründeten Verein zur Förderung der Moorkultur erfolgreich unterstützt. Auch in andern Staaten hat das Vorgehen der preußischen Verwaltung Nachahmung gefunden. So besitzt Schweden seit 1887 eine Moorversuchsstation in Jönköping sowie auch einen Moorkulturverein mit zahlreichen Mitgliedern. In Bayern, Österreich, der Schweiz sind Moorversuchsstationen begründet oder in der Gründung begriffen.

Vgl. die Protokolle der Zentralmoorkommission; »Mitteilungen des Vereins zur Förderung der Moorkultur« (Berl.); die Berichte über die Arbeiten der Moorversuchsstation von Fleischer und Tacke (s. oben, S. 119); Fleischer, Die Besiedelung der nordwestdeutschen Hochmoore (Berl. 1894); Krey, Die Moorkultur (das. 1885); v. Seelhorst, Acker- und Wiesenbau auf Moorboden (das. 1892); Borgesius, Urbarmachung und Landbau in den Moorkolonien der Provinz Groningen (deutsch, Osnabr. 1875); Rimpau, Die Bewirtschaftung des Rittergutes Cunrau (Berl. 1887); Hugenberg, Innere Kolonisation im Nordwesten Deutschlands (Straßb. 1891); Stumpfe, Die Besiedelung der deutschen Moore (Berl. 1903); Arends, Ostfriesland und Jever (Emden 1822, 3 Bde.); De Luc, Lettres physiques et morales (Haag 1779); Tetens, Reisen in die Marschländereien an der Nordsee (Leipz. 1788); Lesquereux, Recherches sur les marais tourbeux (Neuchâtel 1844) u.a.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 123-124.
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