Deutsche Musik

[917] Deutsche Musik. Über die Beschaffenheit der ältesten Gesänge der Deutschen, welche ihre Sänger nach den Nachrichten römischer Schriftsteller zum Lobe ihrer Götter u. zur Verherrlichung der Großthaten ihrer Helden (Bardite), unter Begleitungdes Sailenspiels, bes. zur Anfeuerung des Kriegsmuthes vor der Schlacht u. zur Unterhaltung bei Volksversammlungen ertönen ließen, wissen wir nichts Näheres. Die ersten Anfänge der Tonkunst blieben in ihrer Roheit u. Formlosigkeit bis zur Verbreitung des Christenthums, welches den römischen Kirchengesang nach Deutschland brachte. Ein eifriger Förderer der kirchlichen Gesangkunst war Hrabanus Maurus, u. dessen Schüler Johannes wird als geschickter Tonsetzer genannt. Nach u. nach entstanden auch verschiedene Lehranstalten für Musik, u. der Kirchengesang nahm schon im 8. Jahrh. hier u. da ein volksthümliches Gepräge an od. accommodirte sich bereits vorhandenen Volksmelodien. Im 9. Jahrh. wurde die Instrumentalbegleitung mehr u. mehr gebräuchlich u. die Anwendung der Orgel zur Unterstützung des gottesdienstlichen Gesanges hob die musikalischen Bestrebungen auf kirchlichem Gebiete. Eigentliche Musiker, welche die Musik als Erwerbsmittel u. ausschließlichen Beruf[917] ansahen, rief erst das 13. Jahrh. hervor, nachdem der Sinn für Gesang u. Saitenspiel in den Kreisen der Großen u. Vornehmen zur Zeit der Minnesänger allgemein rege geworden war. Es bildeten sich Musikbanden, die ersten Anfänge vom Orchester, u. die Musiker traten gleich den Handwerkern in eine Zunft zusammen. Ein vorzügliches Förderungsmittel der musikalischen Praxis war die seit dem 11. Jahrh. aufgekommene Notenschrift des Guido von Arezzo, welche auch in Deutschland Eingang fand. Die musikalische Theorie hingegen war noch in den Kinderschuhen, u. erst im 15. Jahrh. führten gelehrte Forscher das Studium griechischer Schriftsteller zur Aufstellung von den hauptsächlichsten Tongesetzen u. zur Entwickelung des Contrapunktes aus der mehrstimmigen Satzweise ein. Der mehrstimmige Kirchengesang wurde namentlich durch die Compositionen von Adam von Fulda, Stephan Mahu u. Heinrich Isaac in Aufnahme gebracht. Für die Verbreitung derartiger Musikstücke war die Erfindung des Buchdrucks von Wichtigkeit, da dieselbe seit Anfang des 16. Jahrh. auch auf Roten Anwendung fand. Von den Meistern, welche die Erhaltung u. Verbreitung ihrer Werke im 16. Jahrh. dem Buchdruck zum großen Theile zu verdanken haben, sind Ducis, Adam Remer, Mart. Agricola, Sixt. Dietrich, Joseph Walter u. Holderich Brätel zu nennen. Der handwerksmäßige Betrieb der Musik wie der innig mit derselben verbundenen Dichtkunst durch die Meistersänger führte zwar zu keinem besonderen Aufschwunge der Tonkunst, hatte aber das Gute, daß im Volke der Geschmack an musikalischer Unterhaltung wach erhalten wurde. Einen wirksamen Anstoß zur Popularisirung der Musik u. reichen Entfaltung des deutschen Gemüthes in tief ergreifenden Melodien gab die lutherische Kirchenverbesserung, welche dem Bemühen der Hierarchie, den Kirchengesang seines nationalen Gepräges zu berauben u. ihm eine monotone Fassung nach römischem Schema zu geben, gegenübertrat. Wie die Reformation dem religiösen Bedürfnisse dadurch gerecht wurde, daß sie der äußeren Ceremonie jede Bedeutung absprach, sofern dieselbe nicht von einer inneren Seelenregung begleitet ist, so setzte sie auch den Volksgesang in seine Rechte ein u. fand in demselben einen nicht geringen Hebel zur Förderung ihrer Zwecke u. Ziele. Dem Beispiel Luthers, den protestantischen Sinn durch kraftvolle Melodien zu heben, folgten viele Freunde der Reformation, u. diese protestantischen Tonsetzer sind als die eigentlichen Begründer des Chorals zu betrachten. Dadurch erhielt auch im Allgemeinen der musikalische Sinn einen lebhaften Aufschwung, u. Vulpius, Schütz, Scheiner, Prätorius, Gallus u. A. leisteten Tüchtiges auch im figurirten Gesange. In den Anfang des Dreißigjährigen Krieges fällt die Einführung der Oper in Deutschland. Das erste Werk dieser Art, die von Schütz (Sagittarius) componirte Daphne, zu welcher Opitz den Text nach italienischem Muster lieferte, kam 1627 in Dresden zur Aufführung. Die selbständige nationale Entwickelung der Musik wurde durch den Dreißigjährigen Krieg abgeschnitten. Der Westfälische Friede brachte zwar nach u. nach das fremdländische Kriegsvolk aus dem Lande, aber von den Nachbarländern blieb Deutschland, wie in der Kunst u. überhaupt, so auch in der Musik noch lange Zeit abhängig. Die Singspiele, welche namentlich durch die Compositionen Ayrers beliebt geworden waren, machten der Oper fast ganz Platz. Italienische Sänger wurden von den fürstlichen Theatern herbeigezogen u. selbst deutsche Compositionen, wie es die damalige Sitte erheischte, mit italienischem Texte aufgeführt. Die rauschende Instrumentation der Italiener u. der verzierte Gesang der Franzosen gingen auch in die Kirchenmusik über, welche ein concertartiges Wesen erhielt. Einen Aufschwung nahmen die musikalischen Bestrebungen durch das erfolgreiche Wirken Sebastian Bachs in der ersten Hälfte des 18. Jahrh. Mit seinen Fugen u. Motetten legte er den Grund zu einer selbständigen deutsch-protestantischen Kirchenmusik, u. die Kraft u. Innigkeit seiner musikalischen Schöpfungen hat dieselben fortdauernd in Übung u. Ansehen erhalten. Weniger glücklich war in dieser Beziehung Bachs Zeitgenosse, Händel, der auf profanem Gebiete mit seinen Opern einen ungeheuren Erfolg hatte. Händels Wirken fällt zwar zum großen Theil in die Zeit seines Aufenthalts in England, er gehört aber in seiner Compositionsweise Deutschland an. Seine unerschöpfliche Thätigkeit erstreckte sich indeß auch auf die heilige Musik, welche in den Oratorien ihre eigenthümliche Form erhielt, u. hier wirkte Händel nachhaltiger, den späteren Meistern Bahn brechend. Aus der Verflachung des musikalischen Geschmacks, welcher gegen die Mitte des 18. Jahrh. einriß, hob sich die Musik mit dem Beginn der Blütheperiode deutscher Dichtkunst. Oper u. Oratorium fanden hervorragende Meister an Hasse, Graun, Gluck u. vor Allen an Mozart, welcher namentlich der seit 1760 von Hiller eingeführten Komischen Oper einen tieferen Gehalt gab. Für diese Gattung der Musik wirkte um dieselbe Zeit auch Dittersdorf, während Haydn sein reiches Talent in religiösen Compositionen entfaltete u. die deutsche Concertmusik auf eine seither nicht gekannte Höhe hob. Größeren Glanz u. ein völliges Übergewicht über die Productionen des Auslandes verliehen in der ersten Hälfte des 19. Jahrh. der D. M. Beethoven, Weber, Franz Schubert, Spohr, Mendelssohn-Bartholdy, Kreutzer, R. Schumann, Marschner. Schon mehr des nationalen Typus entkleidet erscheint die Oper in den Schöpfungen Meyerbeers, in welchen bereits ein eklektisches Wesen unverkennbar zu Tage tritt. Mehr noch deutet das auffällige Streben nach Originalität u. nach künstlichen, auf eigenthümliche Theorien gegründeten Constructionen der Theatermusik Richard Wagners auf einen Verfall der Kunst. In der leichteren Opernmusik leisteten in neuester Zeit mit trefflicher Benutzung komischer Motive Lortzing, F. Schneider u. Flotow manches Originelle, doch macht sich bei ihnen in Hinblick auf Mozarts Schöpfungen schon eine Verflachung des Geschmacks bis zur Annäherung an das Triviale bemerkbar. Die populäre Vocalmusik, namentlich der Männergesang, gedieh gleichfalls, nachdem die tiefe Erregung des nationalen Bewußtseins in den Befreiungskriegen im Volksliede einen entsprechen den Ausdruck gefunden. Mozart, Reichardt, Weber, Schubert faßten die lyrischen Texte gleichzeitiger Dichter in nie veraltende Melodien. Hoffmann von Fallersleben, zugleich Dichter u. Componist, Abt, Julius Otto, Zöllner, Reißiger, Kücken u. A. haben in neuester Zeit vorzugsweise durch Liedercompositionen[918] dem deutschen Volks- u. Männergesange eine hervorragende Bedeutung gegeben.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 917-919.
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