Devrient

[851] Devrient (spr. dewrĭäng, eigentlich De Vrient), Name einer deutschen Schauspielerfamilie, von der sich folgende Glieder bekannt gemacht haben:

1) Ludwig, der genialste seines Namens, geb. 15. Dez. 1784 als Sohn eines Seidenhändlers in Berlin, gest. daselbst 30. Dez. 1832, ward gegen seine Neigung für den Kaufmannsstand bestimmt, schloß sich aber der Wandertruppe des Direktors Lange an und betrat 18. Mai 1804 in Gera unter dem Namen Herzberg zum erstenmal die Bühne als Bote in der »Braut von Messina«. Nachdem er mit jener Truppe in mehreren Städten umhergezogen, fand er in Dessau ein festes Engagement, und hier entwickelte sich sein künstlerischer Genius. Leider verfiel D. schon damals in eine ungeregelte Lebensweise und dadurch in zerrüttete Verhältnisse, die ihm nicht gestatteten, alle in ihm schlummernden Gaben durch sorgfältige Pflege zu entfalten. Seine 1807 eingegangene Ehe mit Margarete Neefe, der Tochter des Kapellmeisters in Dessau, wurde nach kaum einjähriger Dauer durch den Tod der Gattin wieder gelöst. In der Folge war D. noch zweimal verheiratet. 1809 sah er sich genötigt, die Dessauer Truppe heimlich zu verlassen. Er ging zuerst nach Breslau und ward später (1815) durch die Vermittelung Ifflands nach Berlin berufen, wo er bis an sein Ende blieb. Der übermäßige Genuß geistiger Getränke, dem er sich in Gesellschaft unterhaltender und geistvoller Genossen (darunter namentlich des Humoristen E. T. A. Hoffmann) Nächte hindurch hingab, zehrte vor der Zeit seine Kräfte auf. Die eigentümlichen Vorzüge Devrients als darstellenden Künstlers waren geniale Charakteristik und angeborner, echt poetischer Humor, worin er unter allen deutschen Komikern obenan stand. Er schaffte aus sich, mit gänzlicher Umänderung der Maske und des Redetons, täglich neue und gänzlich voneinander verschiedene Menschen und stattete sie mit Leben und Originalität aus. Dabei bediente er sich nie starker Mittel. Gleich groß war D. als tragischer Künstler. Franz Moor, Lear, Talbot, Richard III., Shylock, Mercutio, Schewa, Kooke, der Mohr in »Fiesco«, Lorenz Kindlein waren seine Hauptrollen. Man hat ihn mit Recht eine dämonische Künstlernatur genannt, denn seine ganze äußere Erscheinung, seine Gebärden und Gesten, sein Organ übten die frappanteste Wirkung auf den Zuschauer aus. Vgl. Z. Funck, Aus dem Leben zweier Schauspieler: Ifflands und Devrients (Leipz. 1838); die Biographie von Gerold in der »Berlinischen Chronik« (Berl. 1876, Heft 13). Novellistisch behandelten ihn H. Smidt in den »Devrient-Novellen« (3. Aufl., Berl. 1882) und R. Springer in dem Roman »D. und Hoffmann« (das. 1873). Treffliche Schilderungen von Devrients Eigentümlichkeit[851] finden sich auch in Ed. Devrients »Geschichte der deutschen Schauspielkunst« (Bd. 4, Leipz. 1861) und in Holteis Roman »Die Vagabunden«.

Neffen von Ludwig D., Söhne eines Berliner Kaufmanns, sind die folgenden (2,3 u. 4):

2) Karl August, Schauspieler, der älteste der drei berühmten Brüder dieses Namens, geb. 5. April 1797 in Berlin, gest. 3. Aug. 1872 in Lauterberg am Harz, entzog sich dem Kontorzwang, indem er als Freiwilliger in Colombs Husarenregiment trat, mit dem er auch die Schlacht bei Waterloo mitmachte. Dann widmete er sich der Bühne und debütierte 28. Juli 1819 in Braunschweig. 1821 an das Dresdener Hoftheater für die Rollen erster Helden und Liebhaber gerufen, verheiratete er sich hier 1823 mit Wilhelmine Schröder (s. Schröder-Devrient); doch ward die Ehe schon 1828 wieder gelöst. Nach Beendigung einer großen Kunstreise trat D. 1835 ein Engagement in Karlsruhe an, von wo er 1839 nach Hannover übersiedelte. Von den drei Brüdern war Karl der begabteste; aber er hat sein Talent weder konzentriert, noch durch ausdauernde Willenskraft ausgebildet. In der letzten Zeit hatte er sich mehr den ältern Charakterrollen (Lear, Wallenstein) zugewendet. – Sein Sohn Friedrich, geb. 31. Jan. 1827 in Dresden, ebenfalls ein geachteter Schauspieler, war 1848–52 am Wiener Burgtheater beschäftigt und erhielt 1865, nach häufig gewechseltem Aufenthalt, eine Anstellung am deutschen Theater in St. Petersburg, wo er 19. Nov. 1871 starb.

3) Eduard, der zweite der Brüder D., geb. 11. Aug. 1801 in Berlin, gest. 4. Okt. 1877 in Karlsruhe, war zuerst Sänger und gehörte seit 1819 der Berliner Bühne an, wo ihm seine schöne Baritonstimme und gründliche, unter Zelter erworbene musikalische Bildung eine Stelle bei der königlichen Oper verschafften. Später wandte er sich dem rezitierenden Fache zu. Nachdem D. 1844–46 die Oberregie des Hoftheaters in Dresden geführt, entsagte er 1852 der Wirksamkeit als Darsteller und erhielt im Herbst 1852 einen Ruf als Direktor des Hoftheaters nach Karlsruhe, wo er später zum Generaldirektor ernannt wurde. Er hatte dort die Reorganisation des äußerlich wie innerlich zerrütteten Hoftheaters vorzunehmen, und es gelang ihm, in einer mehr als 17jährigen Leitung den Beweis von der Ausführbarkeit alles dessen zu liefern, was er in seinen dramaturgischen Schriften als Aufgabe der Schauspielkunst hingestellt hatte. Die korrekte und lebendige Gesamtwirkung der Darstellungen sicherte er durch unermüdliche Sorgfalt und lehrhaften Einfluß. 1869 legte er die Direktion nieder. D. hat sich als Schriftsteller für die Bühne bedeutende Verdienste erworben. Seine frühesten Arbeiten waren drei Operntexte: »Hans Heiling«, »Die Kirmes«, »Der Zigeuner«, denen fünf Bühnenstücke: »Das graue Männlein«, »Die Gunst des Augenblicks«, »Verirrungen«, »Treue Liebe« und »Wer bin ich?« (Leipz. 1846), nachfolgten. Weiter veröffentlichte er an dramaturgischen Schriften: »Briefe aus Paris« (2. Aufl., Berl. 1846); »Über Theaterschulen« (das. 1840) und die Reformschrift »Das Nationaltheater des neuen Deutschland« (das. 1848) sowie ein Schriftchen über das Passionsspiel von Oberammergau (das. 1851, 4. Aufl. 1890). Sein Hauptwerk ist die auf fleißigen Studien und gründlicher Kenntnis des Bühnenwesens beruhende »Geschichte der deutschen Schauspielkunst« (Leipz. 1848–74, 5 Bde.). Ferner ließ er »Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Briefe an mich« (3. Aufl., Leipz. 1891) erscheinen. Eine Gesamtausgabe seiner Schriften erschien Leipzig 1846–74, 11 Bde.

4) Gustav Emil, der jüngste und berühmteste der drei Brüder, geb. 4. Sept. 1803, gest. 7. Aug. 1872 in Dresden, debütierte 1821 in Braunschweig als Raoul in der »Jungfrau von Orléans«. Ausgestattet mit angenehmem Äußern und wohlklingendem Organ, trat er bald auch in der Oper auf. Erst nachdem er in Leipzig 1823 ein Engagement gefunden, widmete er sich ausschließlich dem Schauspiel. 1829 folgte er einem Ruf nach Hamburg, und 1831 fand er in Dresden an der Hofbühne eine dauernde Stellung, von der er nach 37jähriger ruhmvoller Tätigkeit 1. Mai 1868 zurücktrat, um sich, nach seinen eignen Worten, als Künstler nicht selbst überleben zu müssen. Durch vielfach wiederholte Gastspiele hatte er sich in allen größern Städten Deutschlands bekannt gemacht. Auch durch ein Gastspiel in London, wo seine Leistungen, besonders seine Auffassung des Hamlet, noch über die von Kemble und Edmund Kean gestellt wurden, verschaffte er der deutschen Schauspielkunst hohe Anerkennung. Als Schauspieler zeichnete sich D. durch Wärme und Leben, Wahrheit in der Darstellung, Phantasie in der Auffassung der Charaktere und seinen Geschmack in ihrer idealisierenden Gestaltung aus. Sein Spiel zeigte den denkenden Künstler in allen Nuancierungen, nirgends bemerkte man Übertreibung oder Manier. Namentlich war er Meister im Gebrauch der Sprache. Die am meisten für ihn geeigneten Rollen waren die ideal gehaltenen weichen Charaktere, wie Hamlet, Uriel Acosta, Tasso, Correggio und vor allen Posa. Vgl. Kneschke, Emil D. (Dresd. 1868). – Seine Gattin Doris, geborne Böhler, geb. 1805 in Kassel, gest. 29. Mai 1882 in Blasewitz bei Dresden, betrat 1816 in Prag die Bühne und begab sich 1817 nach Leipzig, wo sie sich bald zu einem der besten Mitglieder der dortigen Bühne ausbildete. Nach ihrer Vermählung mit Emil D. folgte sie diesem nach Hamburg und fand dann in Dresden neben ihm ihren Wirkungskreis, wurde aber 1842 von ihm geschieden und verließ die Bühne. Naive Rollen und sentimentale Charaktere gelangen ihr am besten.

5) Otto, geb. 3. Okt. 1838 in Berlin, gest. 23. Juni 1894 in Stettin, Sohn von D. 3), betrat 1856 in Karlsruhe die Bühne, brachte mehrere Übungsjahre in Stuttgart, Berlin und Leipzig zu und trat 1863 wieder beim Karlsruher Hoftheater ein, das er 1873 verließ, einem Ruf an das weimarische Hoftheater als Charakterspieler und Regisseur folgend. Hier unternahm er 1876 die Aufsehen erregende Inszenesetzung beider Teile des Goetheschen »Faust«, deren Ausführung seitdem in Weimar, Berlin, Köln, Düsseldorf und an andern Orten häufig wiederholt wurde. Diese Bühneneinrichtung des »Faust« als »Mysterium in zwei Tagewerken« liegt gedruckt vor u. d. T.: »Goethes Faust« (Karlsr. 1877). 1876 wurde D. zum Oberregisseur des Hoftheaters in Mannheim ernannt, 1877 zum Intendanten des neuen Frankfurter Stadttheaters berufen, sah sich aber im Februar 1879 veranlaßt, die Stelle wieder niederzulegen, und lebte darauf in Jena. Hier kam 1883 sein Jubiläumsfestspiel »Luther« (28. Aufl., Leipz. 1900) zur ersten Ausführung. Von der Universität Jena wurde er zum Ehrendoktor ernannt. 1884 übernahm D. die Direktion des Hoftheaters zu Oldenburg, von wo er im September 1889 als Direktor der königlichen Schauspiele nach Berlin übersiedelte, welche Stellung er jedoch schon 14. Dez. 1890 niederlegte. Weiter veröffentlichte[852] er: »Zwei Shakespeare-Vorträge« (Karlsr. 1869); das Trauerspiel »Tiberius Gracchus« (das. 1871); das phantastische Volksschauspiel »Kaiser Rotbart« (das. 1871); »Gustav Adolf«, historisches Charakterbild (Leipz. 1891,22. Aufl. 1900). Auch gab er die »Briefe Ifflands und Schröders an den Schauspieler Werdy« (Frankf. 1881) heraus.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 851-853.
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