Sage [1]

[750] Sage, ein über eine, an bestimmte Personen u. Orte sich knüpfende Begebenheit von einer Zeit zur andern mündlich fortgepflanzter Bericht, dessen Urheber nicht bekannt ist. Eigentlich ist die S. die einfache Erzählung einer Thatsache, aber im Laufe der Zeit tritt dabei zu dem treu erhaltenden Gedächtniß noch die schaffende Phantasie, welche die Begebenheit modificirt, indem sie theils wesentliche Nebenumstände der S. umbildet, theils Nebenzüge dazu erdichtet. Der Inhalt der S. bezieht sich zunächst auf das Volk, in dessen Mitte sie entstand u. erzählt wird, u. zwar auf dessen Ursprung, Wanderungen, Thaten, Erlebnisse, erfahrne Wohlthaten etc., u. dies ist die geschichtliche od. Volkssage, welche entweder Stammsage ist, wenn sich die Erzählung auf das Volk in seiner Gesammtheit bezieht; od. Geschlechtssage, wenn bes. die an der Spitze des Volkes stehenden u. dessen Geschick leitenden Familien Gegenstand der Erzählung sind; od. Heldensage, wenn die Erlebnisse u. Thaten einzelner ausgezeichneter Personen erzählt werden. Mehre S-n, welche sich auf denselben Helden od. andere mit dessen Schicksalen u. Thaten verknüpfte hervorragende Personen beziehen, bilden verbunden einen Sagenkreis. Reichen die berichteten Begebenheiten in die ältesten Zeiten des Volkes bis zu den Anfängen der bürgerlichen u. religiösen Cultur eines Volkes zurück, wo über den Menschen stehende Wesen die handelnden u. in die Ereignisse des Menschenlebens eingreifenden Persönlichkeiten sind, so ist dies eine Göttersage od. Mythus (s. Mythologie); während auf der andern Seite Erzählungen von Begebenheiten, welche sich mit den, unter den Menschen stehenden, aber mit Verstand u. Sprache begabt gedachten Naturwesen zugetragen haben sollen, die Thiersage bilden. Die Thiersage ist dem Germanischen Volksstamm eigenthümlich, die Götter- u. Heldensage theilt er mit den Griechen u. andern Völkern. Solche griechische S-n sind die Dionysos-, Herakles-, Perseus-, Kadmos-, Ödipussage, die S. von dem Argonautenzuge, dem Trojanischen Kriege etc.; germanische sind die Dietrichs-, Sigfridssage etc., der Sagenkreis von Karl d. Gr. u. seinen Paladinen, von Artus u. seiner Tafelrunde, vom heiligen Graal etc. Auf dem Grunde von vereinigten Götter- u. Heldensagen entstand das nationale Epos (s.d.), so die Ilias, die Odyssee, das Nibelungenlied; vereinzelt erhaltene Mythen auf den späteren Stufen des Volkslebens nennt man Märchen (s.d.); einzelne Sagenstoffe in metrischer Form unter Hinzutretung eines lyrischen Elementes sind Balladen u. Romanzen (s. h.). Prosaisch wurden bei den Griechen die alten S-n seit dem 7. Jahrh.[750] v. Chr. von den Logographen (s.d.) aufgeschrieben, womit dort die Historiographie begann (s. Griechische Literatur S. 635); bei den Germanen im 11. Jahrh. auf Island (s. Saga u. Altnordische Literatur S. 373). Die einzelnen S-n, meist mit Märchen verbunden, sind in neuester Zeit vielfach gesammelt worden, so die des klassischen Alterthums von G. Schwab, Stuttg. 1838–40, 3 Bde., 4. A. 1853; die deutschen von J. u. W. Grimm, Berl. 1816–18, 2 Bde., von J. W. Wolf, Lpz. 1845, von Roderich Benedix, Wesel 1851; die geschichtlichen deutschen von Simrock, Frankf. 1850; Österreichische, Leipzig 1846; Baiersche von Maßmann, München 1851; Tyrols von Zingerle, Innsbr. 1851; aus Vorarlberg von Vonbun, Wien 1847; aus Schwaben von Meier, Stuttg. 1852; aus Baden von Baader, Karlsr. 1851; des Elsaß von Stöber, St. Gallen 1852; Rheinsagen von Simrock, Bonn 1837, 5. A. ebd. 1857; des Rheinlandes von Göppinger (unter dem Pseudonym Geib), Heidelb. 1828 ff., 2. A. Frankf. 1850; aus dem Neckarthal, der Bergstraße u. dem Odenwalde von Baader, Manh. 1843; aus der Pfalz von Baader u. Moris, Stuttg. 1842, 2. A. 1844; aus Westfalen von Vincke, Hamm 1856; Fränkische von Bechstein, Würzb. 1842; Hessische von Wolf, Lpz. 1853; aus dem Spessart, Würzb. 1842; aus der Vorzeit des Harzes, Halberstadt 1847; aus dem Riesengebirge von Kräuterklauber, Lpz. 1843; aus Sachsen u. Thüringen von Sommer, Halle 1846; Thüringische von L. Bechstein, Hildburgh. 1835–38, 4 Bde.; des Orlagaues von Börner, Altenb. 1838; Sachsens von W. Ziehnert, Annab. 1838, 3 Bde.; aus der Oberlausitz von Willkomm, Hannover 1843, 2. A. 1845; aus der Altmark von Temme, Berl. 1839; Märkische von Kuhn, Berl. 1843; aus Pommern u. Rügen, Berl. 1840; Norddeutsche von Kuhn, Lpz. 1848; aus Niedersachsen von Harrys, Celle 1840; aus Oldenburg, Oldenb. 1847 ff.; Lübische von Deecke, Lüb. 1842; aus Schleswig-Holstein u. Lauenburg von Müllenhoff, Kiel 1843; Niederländische von J. W. Wolf, Lpz. 1843; Lithauische u. preußische von Becker, Roose u. Thiele, Königsb. 1847; aus dem Preußischen Samland von Reusch, ebd. 1838; Ungarische (aus der Erdelyischen Sammlung) übers. von Stier, Berl. 1850.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 14. Altenburg 1862, S. 750-751.
Lizenz:
Faksimiles:
750 | 751
Kategorien: