Stahlsches System

[672] Stahlsches System, Stahl (s.d. 1), unterwiesen in den Lehrsätzen der Medicin von Sylvius u. Willis, nach welchen alle Krankheiten aus Schärfe der Säfte hergeleitet wurden, konnte sich nicht erklären, wie die Säfte des Körpers, welche an sich schon sehr zur Verderbniß geeignet sind u. durch den täglichen Genuß von so vielen u. mancherlei Salzen noch mehr verderbt werden, so selten in wirkliche Verderbniß gerathen, wie gewisse Krankheiten bestimmten Altern u. Temperaturen eigen seien, ohne daß man den Grund davon in irgend einer solchen Verderbniß suchen dürfe, welch großen Einfluß die Leidenschaften auf den Körperzustand hätten u. in wie kurzer Zeit sie diesen ausübten, so daß keine materielle od. mechanische Zwischenwirkung angenommen werden könne. Er erkannte, daß unzählige Krankheiten ihren Grund in fehlerhaften Lebensbewegungen ohne abweichende Mischung haben. Diese Lebensbewegungen hatten zwar schon einige Neuere angenommen, jedoch ohne weiter in die Ursachen derselben einzudringen; die Alten erkannten das Princip derselben als die Natur, Stahl dagegen sucht die Ursachen aller Veränderungen im thierischen Körper unter dem allgemeinen Begriff der Seele zusammenzufassen; man dürfe die Hülfsmittel, deren sich die Natur zur Erreichung der Zwecke in dem Mechanismus u. in der Mischung der Theile bediene, nicht zu hoch anschlagen. Die wahre medicinische Theorie beschäftigt sich nach ihm mit dem Studium der Lebensbewegungen, sie bekümmert sich wenig um die physische Theorie, um die Figur der kleinsten Theile u. um die Verhältnisse der Mischung. Er warnte vor dem Mißbrauch der Anatomie, Physik u. Chemie in der Medicin, weil man mit diesen Kenntnissen das Wesen des Organismus u. dessen Zwecke nicht ergründen könne. Die wahre Physiologie bestehe nicht in feinerer Anatomie od. gar in Anwendung chemischer Lehrsätze auf die Erklärung der körperlichen Veränderungen, sondern in der Entwickelung der Gesetze des Organismus u. der Regeln, nach welchen die Lebensbewegungen erfolgen. Die Gesetze des Organismus seien immer von der Erfahrung zu entlehnen; die medicinische Theorie sei blos vernünftige Empirie. Von diesen Grundsätzen aus suchte Stahl die Medicin zu bearbeiten, die Basis seines Systems ist die passive Beschaffenheit der Materie. Der Körper habe als solcher gar keine Kraft sich zu bewegen, sondern er müsse immer von immateriellen Substanzen in Bewegung gesetzt werden. Alle Bewegung sei immateriell u. ein geistiger Act. Ein Hauptvorzug des S-en S-s besteht in der genauen u. seinen Würdigung des Begriffs von Organismus. Der Grund von aller Thätigkeit im organischen Körper ist ein immaterielles Wesen, welches Stahl Seele nennt (weshalb sein physiologisches System auch Animismus heißt), da er es nicht statthaft fand mehre Kräfte anzunehmen, wo die Wirkungen sich so ähnlich sind. Die unwillkürlichen Bewegungen im Körper werden auch von der Seele, aber ohne klares Bewußtsein hervorgebracht. Es ist also nicht ein eigenes Vermögen, sondern die Seele, welche sich ihren Körper vom Anfang anschafft u. fortbaut, die alle Theile wieder erzeugt u. das Verlorne ersetzt, die Mischung erhält u. die Absonderung bewirkt. Vorzüglich sucht er den Einfluß der Seele bei der Zeugung durch die Wirksamkeit der Einbildungskraft der Mutter auf die Bildung des Kindes zu beweisen. Bei der Empfindung verhalten sich die Organe nicht blos leidend, sondern durch Mitwirkung. der Seele sehr thätig. Das Blut werde in den Lungen nicht abgekühlt, sondern erwärmt. Die tonische Lebensbewegung erklärt Stahl als die spannende u. erschlaffende Bewegung weicher Theile, wodurch sie das Blut u. die übrigen Säfte forttreiben u. nach bestimmten Organen richten, wodurch sie auch die Absonderung eigenthümlicher Säfte bewirken. Sie ist die wahre Ursache aller Congestionen, Krämpfe, Fieber, Blutungen u. Ausscheidungen. Das Blut bewegt sich nicht blos nach physischem, sondern nach organischem Gesetze, die Stockungen müssen in vielen Fällen den durch den vermehrten Tonus bewirkten Congestionen weichen. Auch im natürlichen Zustande wird durch die tonische Lebensbewegung der Rückfluß des Blutes in den Venen, durch ihre Erschlaffung der Schlaf u. durch den Einfluß der Leidenschaften auf dieselben die Wirkung der Affecte erklärt. Stahls Ansichten über Pathologie sind kürzlich folgende: Da alle Bewegungen u. Veränderungen ihren letzten Grund in der Seele haben, so muß auch das Subject der Krankheit in einer gestörten u. unordentlichen Idee von der Regierung der thierischen Ökonomie bestehen, daher das häufigere Vorkommen der Krankheiten bei Menschen, als bei Thieren. Erklären läßt sich diese Thatsache nur aus der großen Aufmerksamkeit der menschlichen Seele auf alle Krankheitsursachen. Jeder Ursache sucht die beständig wachsame u. für die Erhaltung ihres Körpers besorgte Seele entgegen zu arbeiten, u. aus diesen Bewegungen, sowie aus den Hinderungen derselben, werden die meisten Krankheiten zusammengesetzt. Eine der häufigsten Krankheitsursachen ist die Vollblütigkeit, zu welcher eine beständige Neigung stattfindet, weil die Menschen gewöhnlich mehr essen, als sie zu ihrer Nahrung bedürfen, u. weil zum Nachwachsen der Theile mehr Zeit gehört als zur Bereitung des Blutes. Er erklärt daraus die nach den Altern verschiedenen Blutungen aus einzelnen Körpertheilen u. namentlich die durch Congestionen im Unterleibe bedingten Hämorrhoiden. Der Hauptgrund der Heilsamkeit der letzteren liegt darin, daß sie durch Gegenwirkung der tonischen Bewegungen bei Anhäufung des Blutes in der Pfortader entstehen. Vena portae porta malorum war Stahls Ausspruch, in der Pfortader suchte er den Grund der meisten langwierigen Krankheiten, namentlich in Erschlaffung der tonischen Bewegung u. Erweiterung od. Verengerung der Gefäße. Auf Schärfe der Säfte nahm er bei Erklärung der Krankheiten nie Rücksicht. Die Natur od. das thätige Lebensprincip wird in Krankheiten angegriffen; es wirkt gegen die feindliche Ursache, erregt tonische Bewegungen, Congestionen, Ab- u. Ausscheidungen u. heilt dadurch die Krankheiten. Diese Thätigkeit zeigt sich am deutlichsten in Fiebern, welche blos wohlthätige Bestrebungen des Organismus sind den Fieberreiz unwirksam zu machen u. aus dem Körper zu entfernen u. nur dann Nachtheil bringen, wenn der feindlichen Materie zu viel ist, od. die Kräfte zu schwach, od. Hindernisse vorhanden sind, welche den Absichten der Natur sich widersetzen. Stockung besteht nicht sowohl in einer völligen Ruhe, als vielmehr in einer trägen Bewegung; wogegen die Congestionen in einem durch die tonischen Lebenskräfte[672] verstärkten Antrieb der Säfte gegründet sind. Die meisten Congestionen sind activer Art u. endigen sich mit Ausfluß des Blutes; dieser wird aber zuweilen verhindert; es entsteht Stockung. Hierdurch wird die Natur zu noch thätigeren Lebensbewegungen angespornt, u. so entsteht Entzündung, deren Zweck ist durch heftige Bewegungen die stockende Flüssigkeit zu zertheilen; wird dieser nicht erreicht, so verdirbt die stockende Flüssigkeit, es entsteht bei hinreichenden Naturkräften Eiter; wirken die Kräfte anormal, so erfolgt Verschwärung. Durch Congestion entstehen auch Schmerzen, welche als erhöhte Empfindungen den Zweck haben das Gleichgewicht der tonischen Bewegungen herzustellen. Gestützt auf die heilbringende Richtung von Lebensbewegungen hält Stahl in seinen therapeutischen Grundsätzen die zu große Thätigkeit des Arztes für schädlich u. stimmt mit den Hippokratikern darin überein, daß der Arzt vielmehr Diener der Natur, als Beherrscher derselben sein müsse; namentlich bei Behandlung der Fieber müsse man den Winken der Natur folgen, welche die meisten Fieber durch Ausscheidungen heile, daher Alles zu vermeiden sei, was diese unterdrücken könne. Um die Krisen zu befördern, wählte Stahl den Aderlaß als der Natur entsprechendes Mittel. Sogar gegen Krämpfe, Lähmungen, Nervenkrankheiten aller Art empfiehlt er den Aderlaß, sobald dieselben von unterdrückten Blutungen entstehen u. weil sie oft von Vollblütigkeit herrühren. Unter den Arzneimitteln waren die ausleerenden Stahls Lieblingsmittel, u. die sogen. Balsamischen Pillen, bestehend aus Aloe, Nieswurz, bittern Extracten, sollten gegen alle Krankheiten helfen; dagegen verwarf er China, Opium, die Eisenbäder, alle Mineralwasser u. alle heftigen Reizmittel. Stahls namhafteste Anhänger, Animisten genannt, waren Kundmann, Carl, Coschwitz, Gohl, Alberti, Richter, Gölike, Juncker, Nenter, Ernst Platner, Swedenborg, Cheyne, Nicholes, Tabors, Mead, Porterfield, Whytt (beide in Edinburg), Simson, Bossiers de Sauvages, Carrère in Paris, Unzer, Kratzenstein in Kopenhagen, le Cat, de Borden, la Caze, Farr, Darwin. Das Hauptverdienst des physiologischen Systems war, daß es von einem allgemeinen Gesichtspunkte aus mit tiefem Blicke das organisch Lebendige von seiner ideellen Seite auffaßte u. hierdurch den mechanischen Ansichten der Jatromathematischen u. Jatrochemischen Schule entgegen wirkte. Vgl. G. E. Stahl, Theoria medica vera physiologiam et pathologiam sistens, Halle 1707, herausgeg. von I. Juncker, Halle 1737, u. von Choulant, Lpz. 1831–33 (deutsch von Ideler, Berl. 1832 f., 3 Thle.); G. E. Stahls Theorie der Heilkunde, dargestellt durch Wendelin Ruf, ebd. 1802.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 16. Altenburg 1863, S. 672-673.
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