Ewiger Jude

[204] Ewiger Jude, nach einer Legende der Schuhmacher Ahasverus von Jerusalem, der, als Christus auf dem Wege nach Golgatha vor seinem Haus ruhen wollte, ihn mit Scheltworten forttrieb, und zu dem Jesus sprach: »Ich werde ruhen, du aber sollst gehen!«[204] Seitdem wandert Ahasverus, ohne sterben zu können, ruhelos durch die Welt. Diese Erzählung findet sich zuerst in einem anonymen deutschen Druck von 1602. Der Verfasser beruft sich auf das mündliche Zeugnis des Paulus von Eitzen, Bischofs von Schleswig, der als Student 1542 die auffällige Gestalt in einer Kirche zu Hamburg barfuß der Kanzel gegenüber habe stehen sehen und alsdann auf sein Befragen von Ahasverus selbst jene Mitteilungen erhalten habe. Als wesentliche Quelle hat der Schrift aber augenscheinlich die im 16. Jahrh. gedruckte, gegen 1250 verfaßte Chronik des Matthäus Parisiensis gedient, die ihrerseits wiederum eine Nachricht des Chronisten Roger von Wendower zum Jahre 1228, die älteste, die wir kennen, mit einigen Zusätzen wiedergegeben hat. Danach soll ein damals in England weilender armenischer Bischof auf die Frage nach einem Augenzeugen des Leidens Christi, der dem Gerüchte nach noch im Orient lebe, erzählt haben, er kenne diesen Mann sehr wohl; er heiße Kartaphilos, habe als Türhüter des Pilatus den Heiland auf dem Wege zur Kreuzigung mit einem Faustschlag und höhnischen Worten zu schnellerm Gehen angetrieben und müsse dafür auf Christi Gebot bis zu dessen dereinstiger Wiederkunft rastlos wandern; alle hundert Jahre verjünge er sich wieder. Auch Philipp Mouskes, der Verfasser einer flandrischen Reimchronik (um 1243), berichtet die Legende. In Italien wurde der Ewige Jude nach dem Bericht des Astrologen Guido Bonatti, der im 13. Jahrh. lebte, 1267 zu Forli und im 14. Jahrh. nach der Mitteilung des Chronisten Tizio zu Siena gesehen. Er wird dort Buttadeus (Buttadio, »Schlagegott«) genannt, ein Name, unter dem er noch heute in Italien bekannt ist, und der von dort auch in die Bretagne drang (Boudedeo). Den Keim der Sage bildet wohl das Wort Christi, Matth. 16,28, daß einige den Tod nicht schmecken würden bis zu seiner Wiederkunft. Ihre maßgebende Gestalt und ihre außerordentliche Verbreitung hat sie erst durch den erwähnten Druck von 1602 erhalten, in dem der Ewige Jude auch zuerst Ahasverus genannt wird. Das Büchlein wurde oft aufgelegt und erweitert (erneuert in Simrocks »Deutschen Volksbüchern«) sowie auch ins Lateinische, Französische und Holländische übersetzt. Seitdem ist die Gestalt des Ahasver in die Volkssage und Volkspoesie der verschiedenen Nationen übergegangen, z. B. in den Niederlanden unter dem Namen Isaak Laquedem, in Spanien unter dem Namen Juan Espera-en-DiosHoff' auf Gott«); dort soll er eine schwarze Binde auf der Stirn tragen, mit der er ein flammendes Kreuz bedeckt, das sein Gehirn ebenso schnell, wie es wächst, wiederverzehrt; mehrfach wurde die Sage durch die Überlieferungen vom wilden Jäger beeinflußt. Seit dem 18. Jahrh. trat sie auch ihre Wanderung durch das Reich der Kunstdichtung an, wo sie, im Gegensatz zur Faustsage, bis auf die neueste Zeit in steter Wandlung und Fortbildung begriffen ist. Denn während durch die verschiedenen Faustdichtungen stets derselbe Grundgedanke geht, erscheint in den poetischen Bearbeitungen der Sage vom Ahasver der ursprüngliche Gedanke mannigfach gedeutet, nach verschiedenen, oft großartigen Gesichtspunkten erweitert und mit andern Ideen und Personen verknüpft. Wir erinnern zunächst an das Fragment von Goethe (1774), der ihn zum Helden eines Epos machen wollte, an die Schilderung Chr. D. Schubarts in dessen bekannter Rhapsodie, an die Gedichte von A. W. Schlegel (»Die Warnung«), Alois Schreiber, Ed. v. Schenk, G. Pfizer, Wilhelm Müller, N. Lenau, Zedlitz (»Die Wanderungen des Ahasverus«, Fragment) u. a., die den Ewigen Juden zum Gegenstand haben. Eine großartige Behandlung findet die Sage in J. Mosens epischem Gedicht »Ahasver« (1838), worin der Ewige Jude in schroffen Gegensatz zum Christentum tritt. Nicht also, vielmehr für die »Religion der Liebe« eintretend erscheint die Sagengestalt in dem Roman von Eugen Sue (1845), der dem Ewigen Juden auch eine ewige Jüdin beigesellt. Schon früher hatte Edgar Quinet ein merkwürdiges Mysterium: »Ahasvère« (1833), geschrieben, das er als eine »Geschichte der Welt, Gottes in der Welt und des Zweifels in der Welt« hinstellt. In andrer Weise macht den Ewigen Juden L. Köhler in dem Gedicht »Der neue Ahasver« (1841) zum Propheten der Freiheit. Levin Schücking führte ihn in der Episode »Die drei Freier« seines Romans »Der Bauernfürst« (1851) vor. Nach einer ziemlich unbedeutenden Novelle von Franz Horn dichtete Klingemann sein Trauerspiel »Ahasver« (1827), dessen Titelrolle L. Devrient mit Vorliebe spielte. Voll erhabener Gedanken ist das betreffende Gedicht des Dänen Andersen, der den Juden zum »Engel des Zweifels« und zugleich zum Vertreter des starren Jehovaglaubens macht, eine Auffassung, der auch S. Heller in seiner Dichtung »Ahasverus« (1866) und A. Herrig in seinem Drama »Jerusalem« (1874) beitritt, während R. Hamerlings Epos »Ahasver in Rom« (1866) den Ewigen Juden als den ewigen, d. h. qualvoll immer lebenden, strebenden und ringenden Menschen hinstellt. Auch Robert Giseke hat ein Epos: »Ahasverus, der Ewige Jude« (1864), veröffentlicht, Carmen Sylva eine dichterische Behandlung der SageJehova«, 1882), worin Ahasverus wieder als Typus des Zweifels geschildert wird, endlich Max Haushofer eine dramatische Dichtung: »Der ewige Jude« (1886). Vgl. besonders G. Paris, Le Juif errant (Par. 1880), und L. Neubauer, Die Sage vom ewigen Juden (2. Ausg., Leipz. 1893); ferner Grässe, Der Tannhäuser und ewige Jude (2. Aufl., Dresd. 1861); Friedr. Helbig, Die Sage vom Ewigen Juden, ihre Entstehung und poetische Wandlung (Berl. 1874); Conway, The Wandering Jew (Lond. 1881) und die Schriften von Suchomel (Prag 1881–83) und Paulus Cassel (Berl. 1885).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 204-205.
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