Kretinismus

[641] Kretinismus, eine endemische, in ihren Ursachen noch nicht genau bekannte Entwickelungskrankheit, die bei den davon befallenen Individuen (Kretins, Fexe, Trotteln, Gocken, Gauche, Simpel) eine eigentümliche körperliche Mißgestaltung und meist einen hohen Grad geistiger Schwäche zur Folge hat. Weder die Ableitung des Wortes Kretin von creta (Kreide) noch die von chrétien (weil die Unglücklichen als »Segen des Himmels« bezeichnet wurden) läßt sich sicher begründen. Man dachte bei der Ableitung von creta an das kalkhaltige Wasser oder den kalkhaltigen, die Entwickelung des K. begünstigenden Boden, oder an die kalkweiße Farbe der Kretins (daher Kreidling), auch wird die Möglichkeit erwähnt, daß man auf Kreta zuerst Kretins in größerer Zahl beobachtet habe. Andre halten das Wort wieder für einen die Geistesschwäche bezeichnenden, in romanischer Bevölkerung entstandenen Provinzialismus. Manche bringen es in Beziehung zu dem Wort cretira (creatura), das soviel wie elendes Geschöpf, Tropf bedeutet. Der K. war schon im Altertum bekannt, aber erst vom 16. Jahrh. ab finden sich Dokumente über das Vorkommen desselben in der Schweiz (Paracelsus, Agricola). Eingehender wurde die Krankheit erst seit dem Anfang des 19. Jahrh. studiert, und besonders haben sich Fodéré, Saint-Lager, Baillarger, Parchappe, auch der Präfekt de Rambuteau, Iphofen, Meyer-Ahrens, Stahl, Virchow, Klebs u. a. an diesen Forschungen beteiligt. Der K. macht sich bei den davon befallenen Individuen, wenn nicht schon bei der Geburt, so doch in frühester Jugend bemerklich. Je nach dem Grade der körperlichen Mißbildung und geistigen Schwäche unterscheidet man die vollkommenen Kretins, die Halbkretins und die Kretinösen. Wichtige körperliche Merkmale des K. sind: die Statur ist klein (vollständige Kretins werden nicht größer als 1 m), untersetzt und dick, die Brust flach, der Unterleib ausgetrieben. Die untern Gliedmaßen sind kurz, an den Gelenken ausgetrieben und zeigen mannigfache Verkrümmungen; die obern sind lang und dünn, mit breiten, dicken Händen und kurzen Fingern. Der sehr große Kopf wird nur schwer aufrecht getragen. Der Schädel ist sehr unregelmäßig gebaut: in seinem vordern und obern Teil klein und wie zusammengedrückt, vergrößert er sich vom Scheitel aus nach hinten zu. Die stark behaarte Kopfhaut ist stark gewulstet; das Gesicht ist breit, besonders im obern Drittel; die Ohren sind mißbildet und abstehend; die breite Nase hat eine eingesunkene Wurzel und weite Löcher; die Augen sind weit voneinander entfernt, nach innen gerichtet und haben dicke, kaum geöffnete Lider; die Wangen sind schlaff; die wulstigen, nach außen gewandten Lippen umschließen den offenen Mund, aus dem die fleischige Zunge oft vorsteht und der Speichel ausfließt.

Kretine (weiblicher Kretin).
Kretine (weiblicher Kretin).

Die Gesichtshaut ist faltig und welk, die Physiognomie ausdruckslos, das Gesicht von greisenhaftem Aussehen. Die Zähne sind fast immer unregelmäßig eingepflanzt und kariös; ihre Entwickelung verspätet sich in den meisten Fällen. Der Hals ist kurz und dick und trägt einen bald mehr,[641] bald weniger entwickelten Kropf (s. Abbild., S. 641, nach einem Bild in Virchows »Gesammelten Abhandlungen«). Die Bewegungen sind langsam und unsicher; die Arme hängen schlaff herab; der Gang ist schleppend und wackelnd, zuweilen ganz unmöglich. Die Sinnesorgane sind stumpf, ihre Wahrnehmungen, wenn überhaupt vorhanden, unvollkommen. Die geschlechtliche Entwickelung verspätet sich meist sehr bedeutend. Vollkommene Kretins haben keinen Geschlechtstrieb und sind nicht zeugungsfähig; Halbkretins und Kretinöse dagegen zeigen nicht selten eine starke geschlechtliche Erregung und sind auch zeugungsfähig. Geistige Fähigkeiten mangeln den vollständigen Kretins gänzlich. Es geht ihnen selbst der Instinkt der Selbsterhaltung ab; man muß sie wie kleine Kinder füttern (wobei sie unterschiedslos verschlucken, was man ihnen gibt) und reinlich halten. Vgl. hierüber Idiotie.

Die Schädelform der Kretins ist bedingt durch vorzeitige Verknöcherung der die einzelnen Teile des Schädelgrundbeins trennenden Knorpel und durch die so entstandene Verkürzung der Schädelbasis. Diese vorzeitige Verknöcherung erstreckt sich auf das ganze Skelett, indem die Wucherung der Knorpelelemente, die normalerweise der Verknöcherung vorausgeht, nicht stattfindet. Demgemäß ist der K. als eine eigentümliche Ernährungsstörung des wachsenden Organismus aufzufassen, die sich charakterisiert durch vorzeitiges Aufhören der Knochenbildung und durch eine dieser allgemeinen Hemmung des Längenwachstums der Knochen gegenüberstehende übermäßige Entwickelung der Weichteile, namentlich der äußern Haut, der Schleimhäute des Mundes, des Rachens und der Zunge. Im Gehirn findet man teilweisen Schwund, Asymmetrien und Erweiterung der Hirnhöhlen. Der K. im weitern Sinn, als Endemie betrachtet, macht sich nicht bloß bei den im engern Sinne kretinistisch gestalteten Individuen bemerklich, sondern man findet in der Bevölkerung der davon befallenen Orte neben den eigentlichen Kretins, Halbkretins und Kretinösen eine Menge kropfiger, schwachköpfiger, verkümmerter und schlecht proportionierter Individuen, Taubstummer, Stotterer und Stammler, Schwerhöriger, Schielender; es geht ein allgemeiner Zug körperlicher Degeneration und geistiger Verdumpfung durch die ganze eingeborne Bevölkerung, und auch die für gesund und klug geltenden Individuen sind durchschnittlich unschön, beschränkt und träge. Besonders hervorzuheben ist das Verhältnis des K. zum Kropf. Der K. kommt nie vor, ohne daß auch der Kropf endemisch ist, so daß man die Erkrankung der Schilddrüse (Kropf) als das erste Glied des Leidens zu betrachten hat. Abgesehen davon, daß die meisten Kretins sehr bedeutende Kröpfe haben, bringen Eltern mit Kröpfen häufiger und vollkommnere Kretins zur Welt als solche ohne Kröpfe. Gesunde erwachsene Personen, die in Kretingegenden einwandern, werden von Kröpfen befallen; ja selbst die Tiere (Pferde, Hunde) leiden in solchen Gegenden am Kropf. Nach Morel ist der in den befallenen Gegenden endemische Kropf nur das äußerliche Merkmal einer schweren Erkrankung des ganzen Organismus (Kropfkachexie), und diese Erkrankung hat bei der Deszendenz der davon betroffenen Personen den K. zur Folge. Interessant ist, daß nach operativer, vollständiger Entfernung der Schildrüse (Kropf) kretinähnliche Zustände auftreten können.

K. und Kropf finden sich in allen Erdteilen, hauptsächlich innerhalb der großen Gebirgsstöcke und ihrer Ausläufer. In Europa sind besonders heimgesucht die Schweiz (Wallis, Graubünden, Uri, Waadt etc.), Frankreich (Savoyen, Pyrenäen und die Gebirge der Auvergne), Österreich (Salzburg, Böhmen, Steiermark, Tirol, Kärnten und Oberösterreich), weniger Deutschland (Unter- u. Mittelfranken, manche Gegenden Württembergs und Badens, einige Orte des Rheintals bei Straßburg und auf der Insel Niederwörth, auch Thüringen). Überall sind es nicht die eigentlichen Hochgebirge, wo sich die Endemien eingenistet haben, ebensowenig die frei liegenden Abdachungen, sondern meist im mittlern Teil der Gebirge gelegene tiefe, enge und mehr oder weniger abgeschlossene Täler. Auch die Flußläufe scheinen Einfluß zu haben. Nach Kratters Ergebnissen über den K. in Steiermark bevorzugt der K. die Urgebirgsformation, das Diluvium der Flüsse, deren Quellgebiete im Urgestein liegen, und deren Ablagerungen daher aus dem Gerölle dieser Gesteinsarten bestehen; er tritt höchst auffallend auf dem Kalkboden zurück und ist in seiner Ausbreitung an eine schmale Zone zwischen 300 und 1000 m Erhebung (mit der größten Intensität bei einer vertikalen Erhebung von 475–700 m) über dem Meere gebunden. Er tritt im Talboden intensiver auf als an den Berglehnen, ist zuweilen auch in sonnigen weiten Tälern dichter als in eng geschlossenen. Nach Klebs ist für Böhmen die Dichtigkeit. der Kretinbevölkerung am größten in den Quellgebieten der Wilden Adler und der Elbe, dann der Eger und der Wottawa; sie nimmt ab in den untern Flußläufen und wieder zu beim Zusammenfließen derselben, namentlich da, wo die Strömungsgeschwindigkeit infolge des senkrechten Einfallens der Nebenströme in den Hauptstrom abnimmt. Die Zahl der vorhandenen Kretins und ihr Verhältnis zur übrigen Bevölkerung schwankt in den verschiedenen Gegenden sehr beträchtlich. In Savoyen zählte man 22 pro Mille, im Depart. Oberalpen 16 pro Mille. In Salzburg sollen auf 10,000 Einw. im Durchschnitt 38,9, in Oberösterreich 18,3, in Steiermark 16,9 Kretins kommen. Übrigens ist eine Abnahme des K. fast überall bemerkbar. Im Harz, wo es früher Kretins gab, sind solche jetzt nicht mehr vorhanden. Dagegen sollen sie in dem französischen Depart. Oberalpen zugenommen haben.

Die Ursachen des K. sind noch unbekannt, es wird angeschuldigt ein hoher Feuchtigkeitsgehalt der Luft, Stagnation derselben infolge mangelnder Ventilation, nicht ausreichende Besonnung, Abgeschlossenheit und selbstgewählte Isolierung einer wenig intelligenten, in Vorurteilen und alten, oft schädlichen Gewohnheiten befangenen Bevölkerung, Heiraten unter Blutsverwandten und die Vererbung. Ferner wurde neben dem Einfluß eines kalkhaltigen Bodens der Genuß kalk- oder magnesiahaltigen Wassers, oder der mangelhafte Gehalt desselben an Chloriden (besonders Kochsalz) oder an Jod beschuldigt. Klebs erzeugte durch Mikroorganismen, die er Naviculae benannte und im Quellwasser mehrerer Kropfdistrikte fand, an Hunden Kropf. Eine eigentliche Behandlung des ausgebildeten K. ist nicht möglich, auch sind Kretins einer geistigen Entwickelung nicht fähig, dagegen müssen die hygienischen Verhältnisse nach Möglichkeit gebessert werden. Vermeidung der Verwandtschaftsehen, Verbesserung der Wohnungen, Entfernung von stagnierendem Wasser, durch Reinlichkeit, Beschaffung guten Trinkwassers aus unverdächtigen Quellen; Regelung der Flußläufe, Trockenlegung des Bodens sind die besten Vorbeugungsmaßregeln. Speziell für Kretins bestimmte Anstalten gibt es seit[642] dem Eingehen der Guggenbühlschen auf dem Abendberg wohl nicht mehr; die Unglücklichen sind teils in den allgemeinen Siechenhäusern, teils in Idioten- oder Irrenanstalten unterzubringen. Namentlich in den Fällen, wo die Schilddrüse fehlt oder ein Kropf vorhanden ist, scheint die Verabreichung von Schilddrüsenpräparaten zweckmäßig; es sind einzelne Fälle auffallender Besserung hierdurch beobachtet worden. Vgl. Virchow, Untersuchungen über die Entwickelung des Schädelgrundes (Berl. 1857) und Gesammelte Abhandlungen (2. Aufl., das. 1862); Köstl, Der endemische K. (Wien 1855); Parchappe, Études sur le goître et le crétinisme (Par. 1874); Baillarger, Enquête sur le goître et le crétinisme (das. 1873); Klebs, Studien über die Verbreitung des K. in Österreich (Prag 1877); Linzbauer, K. und Idiotie in Österreich-Ungarn (Wien 1882); Allara, Der K. (a. d. Ital., Leipz. 1894); Ewald, Die Erkrankungen der Schilddrüse, Myxödem und K. (in Nothnagels »Spezieller Pathologie und Therapie«, Wien 1896); Weygandt, Der heutige Stand der Lehre vom K. (Halle 1903).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 641-643.
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