Irrenanstalten

[28] Irrenanstalten (Irrenhäuser), Gebäude zur Aufnahme von Geisteskranken, die darin zweckmäßig beschränkt, verpflegt und ärztlich behandelt werden. Die Erfordernisse einer Irrenanstalt sind teils die eines jeden Krankenhauses (s. Krankenhäuser), teils ergeben sie sich aus den speziellen Zwecken der Anstalt. Sie muß die Beaufsichtigung und Sicherung der Kranken ermöglichen, ohne das Gepräge eines Gefängnisses an sich zu tragen, sie muß daher die Mittel bieten, die verschiedenen Kranken zweckmäßig voneinander zu trennen, und ihnen möglichste Freiheit[28] gewähren, ohne jemals die Gewalt über sie zu verlieren. Abgesehen von der Trennung der Geschlechter trennt man auch die verschiedenen Formen und Zustände des Irreseins (ruhige und unruhige Kranke) und erzielt um so bessere Resultate, je weiter eine solche Trennung durchgeführt wird. Man bedarf Wohn- und Schlafräume, Krankenzimmer für bettlägerige Patienten, Räume für gesellige Unterhaltung, religiöse Übungen, Unterricht, Werkstätten, Gärten, Felder etc. Die Zimmer müssen eine Einrichtung zur unbemerkten Beobachtung der Irren und Simulanten besitzen und alle Gelegenheiten zur Selbstbeschädigung der Kranken (Ofen, Türklinken, Fensterriegel, Haken, Nägel) möglichst ausschließen. Die Fenster werden in verschiedener Weise verwahrt, häufig aber nur mit Glas von solcher Stärke versehen, daß es ohne schwere Instrumente nicht zertrümmert werden kann. Abtritte und Badeanstalten erfordern besondere Einrichtungen, und für Tobsüchtige hat man Isolierzellen mit gepolsterten oder dick mit Kautschuk belegten Wänden, so daß die Irren sich nicht beschädigen können. Die Größe der I. schwankt bedeutend, die Zahl der Kranken zwischen 100 und 1200 (und 2000).

Die oberste Leitung einer Irrenanstalt muß einem Arzt überwiesen und alle übrigen Beamten müssen diesem unterstellt werden. Indessen besteht in manchen, selbst den besten englischen I. diese Einrichtung nur scheinbar; der erste Arzt führt neben der therapeutischen Behandlung nur die Oberaufsicht, und die Seele der Anstalt ist der Hausmeister und die Aufseherin oder ein Chirurg. In den meisten französischen Anstalten üben die Barmherzigen Schwestern, die dem Arzt zur Seite stehen, einen wohltätigen Einfluß aus. Der gute Zustand der Anstalt und der gedeihliche Erfolg der Bemühungen des Arztes hängen zum großen Teil von der Beschaffenheit des Wärterpersonals ab. Das Durchschnittsverhältnis der Wärter zu den Kranken hat man wie 1: 6 angenommen. Lange Zeit hat man geglaubt, die freie Bewegung namentlich tobender Irren durch äußere Gewaltmaßregeln beschränken zu müssen. Jetzt sucht man die Tobenden gleichsam nur gegen sich selbst zu schützen; im übrigen aber läßt man die Kranken, selbstverständlich unter sorgfältiger Beaufsichtigung, sich frei bewegen und wendet Zwangsapparate nur in den äußersten Fällen an. Bei manchen Irren, die Nahrungsaufnahme konsequent verweigern, ist Zwangsfütterung erforderlich.

Das Altertum scheint bei ziemlich richtigen Ansichten über die Geisteskrankheiten besondere I. nicht besessen zu haben. Später verwahrte man die Irren als von Dämonen Besessene auf dieselbe Weise und an denselben Orten wie Verbrecher und belud sie auch wie diese mit Ketten. Die ersten wirklichen I. wurden 1409 in Valencia, 1429 in Saragossa und 1436 in Sevilla errichtet. Dann folgte Stockholm 1531, und in Deutschland verwandelte Philipp der Großmütige 1533 die Klöster Haina, Merxhausen und Hofheim in I. Es folgten dann weiter England (Bedlam) 1547, die Türkei 1560, Frankreich (Charenton) 1645, Rußland 1776 und Österreich (Wien) 1784. Welcher Art aber die Behandlung der Irren in diesen Anstalten war, geht z. B. daraus hervor, daß das Volk sich noch zu Ende des 18. Jahrh. an den Sprüngen und dem Geheul der Tollen ergötzte. Erst Pinel (1745–1826) nahm den Irren die Ketten ab, und sein Schüler Esquirol setzte seine Bemühungen fort. Auf Heilung der Irren war man erst seit Anfang des 19. Jahrh. bedacht. Pienitz in Pirna trennte zuerst 1807 die heilbaren Irren von den unheilbaren, und 1811 wurde die Reihe der absolut getrennten Heil- und Pflegeanstalten mit der Heilanstalt Sonnenstein eröffnet. In Siegburg (Rheinprovinz), Sachsenberg (Mecklenburg) und Winnenthal (Württemberg) folgte man diesem Prinzip, während sonst das gemischte System beibehalten wurde, auch nachdem Damerow mit seinen »relativ-verbundenen Heil- und Pflegeanstalten« hervorgetreten war und einige Orte dies System akzeptiert hatten. Die Kosten für die Irrenpflege erreichen eine bedenkliche Höhe (in den fünf neuen Anstalten der Rheinprovinz beträgt das Baukapital 12,000 Mk. pro Kopf), und die Beobachtungen in den gemischten Anstalten ergeben, daß 35–45 Proz. der Kranken bei geringerer Freiheitsbeschränkung viel besser gedeihen als bei der bisherigen Behandlung. Bei dem englischen Cottagesystem, das in Deutschland in Bunzlau nachgeahmt wurde, werden kleine, getrennte Häuser (cottages) in einfachster, ländlicher Bauart außerhalb der Ringmauern der Anstalt, aber doch noch auf deren Terrain zur Aufnahme von ruhigen Kranken errichtet, die sich hier unter Aussicht zuverlässiger Dienstleute mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigen. In dem belgischen Dorf Gheel (s. d.) besteht, angeblich seit dem 7. Jahrh., eine Verpflegung ruhiger, ungefährlicher Irren in einzelnen Familien, während eine geschlossene Anstalt (infirmerie) die Behandlung der Kranken überwacht, das Maß der von ihnen zu fordernden Arbeit normiert und sie, sobald und solange es aus irgend welchen Gründen nötig wird, aufnimmt. Eine Nachahmung dieses Systems ist offenbar nur in einer spezifischen Ackerbaubevölkerung möglich und scheitert auch dort, wenn nicht eine eigentümliche Befähigung vorhanden ist. In Schottland hat man 30–40 Proz. aller Irren in Familienpflege gegeben, und in Ellen (Bremen) besteht seit 1764 eine ähnliche Einrichtung. Auch die Staatsanstalt Illenau in Baden bedient sich der Familienpflege gleichsam als Übergang zur völligen Entlassung der Rekonvaleszenten. Neuerdings wird sehr für die familiäre Irrenpflege Propaganda gemacht. In größerm Maßstab wird sie in Ilten getrieben. Die Erfolge sind sehr zufriedenstellend und ermutigend. Bei dem System der agrikolen Kolonie, zuerst 1847 von der Privatirrenanstalt der Gebrüder Labitte in Clermont ausgeführt, werden ruhige, ungefährliche Kranke auf einem Ökonomiehof untergebracht und bei dem größten Maß von Freiheit mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Sicherheitsvorrichtungen werden durchaus vermieden, die Kolonie steht aber mit einer geschlossenen Anstalt in Verbindung, in die Irre mit akuten Aufregungen und körperlichen Krankheiten sofort zurückversetzt werden. Dies System hat in Einum (Hannover), Zschadraß (Sachsen), Alt-Scherbitz bei Schkeuditz (Prov. Sachsen) Anwendung gefunden und sehr günstige Resultate ergeben. Für durchaus ruhige, ungefährliche Irre, die bei siechem Körperzustand nicht mehr arbeitsfähig sind, hat man Irrensiechenhäuser gebaut, bei denen die kostspielige Einrichtung der eigentlichen I. fortfällt. Besondere Schwierigkeiten bietet die Unterbringung der irren Verbrecher, gegen deren Aufnahme sowohl die I. als die Zuchthäuser protestieren. In Irland besteht seit 1850 eine Anstalt für irre Verbrecher in Dundram, die 150 bis 200 Insassen, darunter ca. 50 Mörder, enthält. Die 1873 errichtete Heilanstalt für irre Verbrecher in Waldheim (Sachsen) ist für Deutschland die einzige geblieben. Man ist über die Unterbringung geisteskranker[29] Verbrecher noch sehr verschiedener Meinung. Die Irrenärzte verlangen besondere Abteilungen in unmittelbarer Verbindung mit den Strafanstalten (Moabit und Bruchsal), die Strafanstaltsbeamten sind für die Einlieferung und Verpflegung in den I. Sicher ist, daß das Zuchthaus nicht der Platz für Geisteskranke ist, anderseits hat die Unterbringung von Verbrechern in I. sehr viele praktische Mißlichkeiten an sich. Als besondere Form der I. sind noch die psychiatrischen Kliniken an den Universitäten zu nennen, die aus dem dringenden Bedürfnis und dem gerechtfertigten Bestreben, die Ärzte mehr, als früher geschehen konnte, in der Psychiatrie zu belehren, hervorgegangen sind. Allgemeine Anerkennung haben in neuester Zeit die Heilanstalten für Nervenkranke gefunden, welche die Behandlung aller chronischen Neurosen und leichten beginnenden Psychosen, die noch nicht in die I. gehören, übernehmen.

Die bei weitem größte Zahl der I. sind Staats- oder öffentliche Anstalten (städtische, Provinzial- oder Landesanstalten), die infolge des Dotationsgesetzes vom 8. Juli 1875 in die Verwaltung der Provinzialverbände (Stände) und größern Kommunen übergegangen sind. Sie stehen unter der Leitung und Aussicht des Provinzialausschusses, der die Beamten ernennt, beurlaubt etc., mit Ausnahme der Direktoren der Provinzialirrenanstalten (Landesheil- und Pflegeanstalten), die vom Provinziallandtag gewählt werden. Das Aufnahmeverfahren in die öffentlichen I. ist sehr verschieden, die Formalitäten bisweilen noch recht umständlich. Die Angehörigen stellen den Aufnahmeantrag an die Ortspolizeibehörde, die den zuständigen beamteten Arzt requiriert. Nach dessen Begutachtung geht der Antrag an die Zentralverwaltung der Provinz, worauf nach ärztlicher Oberbegutachtung der Aufnahmequalifikation durch die zuständige Anstaltsdirektion die Einberufung des Kranken erfolgt. Aufnahmenotwendigkeit liegt vor wegen Mangel an geeigneter häuslicher Pflege, Gemeingefährlichkeit und Selbstmordgefahr. – Den öffentlichen Anstalten gegenüber stehen die Privatirrenanstalten, gegründet von einzelnen Personen oder von Genossenschaften, die sich der Krankenpflege widmen. Diese letztern Anstalten bedürfen einer Konzession von der Verwaltungsbehörde und stehen wie die öffentlichen unter der Kontrolle der höhern Verwaltungsbehörde. Vgl. Irrenrecht.

Die Statistik weist eine bedeutende Zunahme der Irren nach, die in I. Heilung und Pflege suchen. Dieses Anwachsen beruht nicht nur auf wirklicher Vermehrung der geistigen Störungen, sondern auch auf besser organisierter Sorge für die Kranken dieser Art, und infolgedessen vor allem auch auf der großen Vermehrung der I. Es hat sich eben die Überzeugung immer allgemeiner Bahn gebrochen, daß die Irren in den in neuerer Zeit so sehr vervollkommten I. viel mehr Aussicht auf Heilung haben als bei der sorgsamsten Pflege in der eignen Familie. In Großbritannien zählte man 1893: 68,868 Geisteskranke, von denen 17,970 in Privatanstalten verpflegt wurden. Von den 17,970 Kranken waren 670, d. h. 4 Proz., mit Paralyse behaftet, während man in Berlin 13 Proz. Paralytische zählt. Die jährliche Zunahme der Geisteskranken beläuft sich (nach Siemerling-König) in London auf etwa 550 Personen. Nach dem amtlichen Jahresbericht gab es in Schottland 1. Jan. 1891: 12,595 Geisteskranke, und zwar waren 1890: 282 hinzugekommen. In Irland gab es 1891: 21,188 Geisteskranke. Während die Zahl der letztern dort stetig zunimmt, nimmt die Bevölkerung ab, so daß das Verhältnis der Irren zur Gesamtbevölkerung in den letzten 40 Jahren von 249 auf 355 Irre zu 100,000 der Bevölkerung gestiegen ist. In ganz England betrug nach dem dem Parlament vorgelegten Bericht die Zahl der Geisteskranken 1. Jan. 1894: 92,067,2245 mehr als im Vorjahre, London hatte 800 mehr als im Vorjahre. – In Frankreich waren 1871: 49,589 Geisteskranke (13,8 vom Tausend der Bevölkerung) in Anstalten untergebracht, 1888 dagegen 70,443 (18,2 vom Tausend der Bevölkerung), d. h. die absolute Zahl dieser Kranken hatte sich um 29,6 Proz. vermehrt, die der Bevölkerung dagegen nur um 5,6 Proz. In Preußen waren vorhanden:

Tabelle

Seit 1880 werden in Preußen die Geisteskranken nicht mehr gezählt, sondern nur noch die in I. untergebrachten Personen. 1890 wurden 46,232 Geisteskranke in Staats- und Provinzial-Irrenanstalten verpflegt (in Berlin 6004), dazu noch 4816 Geisteskranke in andern Heil- u. Pflegeanstalten, so daß also im ganzen 51,048 Kranke (1,74 vom Tausend der Bevölkerung) dieser Art (gegen 18,894 [0,69 vom Tausend der Bevölkerung] im J. 1880) in Anstalten behandelt wurden. 1901 bestanden in Preußen 248 Anstalten, in denen 80,027 Personen verpflegt wurden; von diesen litten an einfacher Seelenstörung 49,000, paralytischer Seelenstörung 5878, Seelenstörung mit Epilepsie 9469, Imbezillität und Idiotie 13,435, Säuferwahnsinn 1472, an anderweitigen, Nichtgeisteskrankheiten 773. Im Deutschen Reich wurden während der Jahre 1895–97 jährlich 153,453 geisteskranke Personen in privaten und öffentlichen Anstalten verpflegt, und zwar litten an einfacher Seelenstörung 65,1 Proz., paralytischer Seelenstörung 10,0, Seelenstörung mit Epilepsie 9,4, Imbezillität und Idiotie 11,8, Säuferwahnsinn 3,7 Proz.

Fast alle Geisteskrankheiten betreffen häufiger Männer als Frauen, so sind unter den paralytischen Seelenstörungen nur 24,1 Proz. weibliche Kranke, unter der Gruppe Säuferwahnsinn nur 7,4 Proz. weibliche Kranke verzeichnet; nur die einfachen Seelenstörungen treffen etwas häufiger auf Frauen als auf Männer. Von allen in den I. Behandelten starben 1898–1900 in Preußen jährlich 7–8 Proz. Von den während des Jahres 1901 in Preußen genesenen Geisteskranken betrug die Aufenthaltsdauer in der Anstalt: bis zu 1 Monat bei 1152 Kranken, bis 2 Monate bei 434, bis 3 Monate bei 295, bis 6 Monate bei 483, bis 12 Monate bei 449, bis 2 Jahre bei 210, bis 5 Jahre bei 91, noch länger bei 12 Kranken. Weitere Angaben s. in den Artikeln »Geisteskrankheiten« und »Irrenrecht«. Vgl. Damerow, Über die relative Verbindung der Irrenheil- und Pflegeanstalten (Leipz. 1840); Brandes, Die Irrenkolonien (Hannov. 1865); Erlenmeyer, Übersicht der öffentlichen und privaten Irren- und Idiotenanstalten in Deutschland und Österreich (2. Aufl., Neuwied 1875–76) und Die freie Behandlung der Gemütskranken und Irren in detachierten Kolonien (das. 1869); Ruëdy, Gheel, oder Kolonie und Asyl (Bern 1874), und andre Schriften über Gheel (s. d.); Kirchhoff, Grundriß einer Geschichte der deutschen Irrenpflege (Berl. 1890); Paetz, Die Kolonisierung der Geisteskranken (das. 1893); Snell, Grundzüge der Irrenpflege (das.[30] 1897); Unger, Die Irrengesetzgebung in Preußen (das. 1898); Alt, Über familiäre Irrenpflege (Halle 1899); Lähr und Lewald, Die Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke des deutschen Sprachgebietes am 1. Jan. 1898 (Berl. 1899); Guttstadt, Krankenhaus-Lexikon für das Deutsche Reich (das. 1900); Scholz, Leitfaden für Irrenpfleger (4. Aufl., Halle 1904) und Irrenfürsorge und Irrenhilfsvereine, für Ärzte und Laien (das. 1902).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 28-31.
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