Zillerthal

[802] Zillerthal (das) ist ein vordem zu Salzburg gehörig gewesenes, 12 St. langes Hauptthal von Tirol und hat seinen Namen vom durchfließenden Flusse Ziller, der unterhalb Schwez in den Inn mündet. Es wird gegen S. und südwestl. von hohen Gletschern begrenzt, die zu den norischen Alpen gehören und hier »Tauern« heißen, im N. aber öffnet es sich nach dem Innthale. Der Flächeninhalt wird zu 141/2 ! M. angenommen und die etwa 14,000 Einw. zeichnen sich auch in Tirol durch ihr stattliches, kräftiges Äußere aus. Sie treiben wichtige Viehzucht und führen jährlich gegen 5000 Stück Vieh aus; allein das Thal gewährt der dichten Bevölkerung doch nicht hinreichende Erwerbsquellen, und gegen 700 Männer suchen deshalb den Sommer über auswärts bei der Landwirthschaft Beschäftigung, noch weit mehre aber gehen mit selbstverfertigten Handschuhen, mit Kräutern und Essenzen weit und breit hausiren. In den letzten Jahren machte sich auch eine Gesellschaft zitterthaler Sänger durch ihre ansprechenden Alpenlieder in den meisten europ. Hauptstädten vortheilhaft bekannt; allgemeine Aufmerksamkeit erregte aber die 1837 erfolgte Auswanderung von 399 Zillerthalern nach Preußen, um der unerträglichen religiösen Bedrückung zu entgehen, die sie in Tirol trotz der von der deutschen Bundesacte den Protestanten und Katholiken in allen deutschen Bundesstaaten zugesicherten gleichen Rechte zu erdulden hatten, weil sie sich der protestantischen Lehre zuwendeten. Ungewiß ist, wie früh der Anfang dazu gemacht wurde, indeß mögen sie die erste Einsicht wol von den vor 1731 im Salzburgischen zahlreichen Protestanten erhalten und später, durch Lesen der Bibel, des lutherischen Katechismus, des augsburgischen Religionsbekenntnisses und einiger evangelischer Erbauungsschriften erweitert haben, welche zum Theil von in Deutschland hausirenden Zillerthalern mit nach Hause gebracht wurden. Ihre Entfernung von den Gebräuchen und Lehren der römischen Kirche erfolgte jedoch nur allmälig, darum aber mit desto größerm Bewußtsein und um so gründlicherer Überzeugung. Sie schlossen sich anfänglich vom Gottesdienste nicht aus, gingen namentlich zu Beichte und Abendmahl und ließen erst davon ab, als ihnen die Priester, weil sie die Ohrenbeichte verwarfen und nur ein Sündenbekenntniß im Allgemeinen ablegen wollten, die Absolution vorenthielten. Mit der entschiedenen Gestaltung ihrer Glaubensmeinungen verwarfen sie auch die Verehrung der Maria und der Heiligen, den Ablaß, das Fegefeuer u. dgl. m. und weder die von den katholischen Priestern gegen sie gehaltenen Predigten, noch daß man sie ihrer Bücher beraubte und sonst auf sie einwirkte, machte sie in ihren Überzeugungen wankend. Vielmehr meldeten sich 1826 mehre von ihnen bei ihren Pfarrern zu dem sechswöchentlichen Unterrichte, welcher für Diejenigen gesetzlich vorgeschrieben ist, welche zu einem andern Glaubensbekenntnisse übertreten wollen. Allein die Geistlichen gingen darauf gar nicht ein, meldeten jedoch die Sache bei der Landesstelle in Innsbruck, wo die evangelischen Zillerthaler zugleich als unwissende, thörichte, eingebildete und sogar sehr unsittliche Leute geschildert wurden, obgleich selbst[802] ihre katholischen Nachbarn ihnen deshalb ein ganz anderes Zeugniß ertheilten. Anstatt ihrem gesetzlichen Wunsche zu entsprechen, wurden sie nur auf vielfältige Art bedrückt; die Einsegnung der Ehe und selbst die bürgerliche Erlaubniß zu heirathen ward ihnen verweigert, der Ankauf von Grundeigenthum ihnen auf alle Art erschwert. Ihre Kinder wurden nur unter Zuziehung katholischer Pathen getauft, welche sich für deren Erziehung in der röm. Kirche verbürgen mußten; sie mußten die katholischen Schulen besuchen und ihre Kranken wurden mit Bekehrungsversuchen gepeinigt, ihre Verstorbenen nur im Beisein eines Policeibeamten im Felde oder im Walde beerdigt; selbst dahin brachten es die Geistlichen, daß die Evangelischen keine Arbeit mehr bei ihren katholischen Nachbarn bekamen. Vergeblich benutzten sie 1832 die Anwesenheit des Kaisers Franz zu Innsbruck, um demselben mündlich und schriftlich ihre Klagen und die Bitte um religiöse Duldung und Bildung einer Filialgemeinde augsburgischer Confession vorzulegen, welche von einem der nächsten evangelischen Pfarrer im Östreichischen jährlich mit dem Sacrament versehen werden sollte. Der tiroler Landtag widersprach diesem Gesuch, weil in Tirol nie ein anderer als der katholische Glaube geduldet worden sei und es ward endlich im Apr. 1834 den evangelischen Zillerthalern von Wien aus eröffnet, daß sie entweder in die katholische Kirche zurücktreten oder nach Siebenbürgen auswandern müßten, wo nichtkatholische Gemeinden bestünden.

Inzwischen hatte sich unter allem Drucke die Zahl der Evangelischen beständig vermehrt, und da sie jetzt durch gesteigerten Zwang gedrängt, ja ihnen sogar Pässe nach Wien abgeschlagen wurden, um ihre Bitten beim Kaiser wiederholen zu können, so nahmen sie sich vor, beim Könige von Preußen Hülfe in ihrer Noth zu suchen. Die deshalb im Mai 1837 von ihnen nach Berlin geschickten Abgeordneten hatten in Tirol zu diesem Vorhaben kein Hinderniß gefunden und Friedrich Wilhelm III. bewilligte den verfolgten Glaubensgenossen gern die erbetene Freistätte. Nachdem hierauf der evangelische Hofprediger Strauß mit der östreich. Regierung in Wien das Erfoderliche wegen ihrer Auswanderung verabredet hatte, verkauften die evangelischen Zillerthaler ihre Besitzthümer und traten 399 Köpfe stark, dabei eine 105 Jahre alte Frau und ein 83jähriger, blinder Greis, in fünf Abtheilungen die Reise durch Böhmen und Mähren nach Schlesien an, wo am 2. Oct. Alle in Schmiedeberg glücklich angelangt und untergebracht waren, bis die auf der Domaine Erdmannsdorf zu ihrer Aufnahme angeordneten Vorbereitungen beendigt sein würden. Die östreich. Regierung hatte ihre Auswanderung sehr erleichtert und den Aermsten noch Unterstützung dazu reichen lassen. Ihr neuer Wohnsitz hat auch den Namen Zillerthal erhalten und der König bewilligte 35,000 Thlr., davon 12,500 für Kirche und Schule, zu ihrer Einrichtung. Die ganze Ansiedelung ist in Hoch-, Mittel- und Niederzillerthal getheilt und zählte vor zwei Jahren 64 Wohnstellen, von welchen 45 von den Zillerthalern gekauft, die andern gepachtet waren. Die Einwanderer hatten sich als fleißige, redliche Leute bewährt und ihre Beharrlichkeit in der gewonnenen religiösen Überzeugung wie der Muth, mit welchem sie um derselben Alles ertragen haben, verdient ausgezeichnete Achtung. Wie sehr man ihnen aber auch die neue Lage angenehm zu machen suchte, und so wohl sie sich bei der gewonnenen Religionsfreiheit fühlten, lag es doch auch in der Natur der Sache, daß die veränderte Lebensweise und Umgebung und manche zu Anfang unvermeidliche Entbehrungen bei Einzelnen das Heimweh und eine Sehnsucht nach ihrem rauhen Alpenlande rege machten. Ausführlichere Nachrichten enthalten »Kurze Geschichte der Auswanderer der zillerthaler Protestanten« (Nürnb. 1838) und »Die Evangelischgesinnten im Zillerthale« (4. Aufl., Berl. 1838.).

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 802-803.
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