Artemis

[823] Artemis, in der griech. Mythologie die jungfräuliche Tochter des Zeus und der Leto (Latona), nach der gewöhnlichen Sage auf Delos als ältere Zwillingsschwester des Apollon geboren, neben dem sie an allen wichtigern Stätten des Apollondienstes verehrt ward, namentlich in Delos auf dem Berge Kynthos (daher Kynthia), Delphi, Didyma, dem Heiligtum der Zwillinge. Wie er führt sie Bogen und Pfeile und sendet mit ihren Geschossen plötzlichen Tod, namentlich Frauen und Mädchen; neben ihm kämpft sie gegen den Drachen Python und die Giganten. Wenn sie gewöhnlich als Jagdgöttin gedacht wird, so ist das nur ein in ihrem Kult fast garnicht hervortretender Nebenzug ihres Wesens. Sie ist eine in der freien Natur mit ihren Bergen und Tälern, Wäldern, Wiesen, Quellen, Bächen, Seen im Verein mit ihren Genossinnen, den Nymphen, waltende Gottheit. Als ihr liebstes Revier galt das berg- und waldreiche Arkadien. Wie die Fruchtbarkeit der Vegetation in Wald und Feld fördert sie das Gedeihen des Wildes, das sie freilich auch als seine Herrin jagt (als Jägerin heißt sie Agrotera); aber auch die Viehzucht auf freier Weide (Ziegen, Rinder, Pferde) untersteht ihrer Obhut (als Pflegerin der Rinder heißt sie Tauropolos). Als ihr Lieblingswild galt der Hirsch, daher man ihr im Frühjahr das Fest der Elaphebolien (Hirschjagd) mit Opfern von Hirschen oder Kuchen in Hirschgestalt feierte. Als waffenführende Göttin hatte sie auch kriegerische Bedeutung: von den Spartanern ward ihr vor der Schlacht eine Ziege geopfert, und in Athen opferte man ihr im Monat Boëdromion (September bis Oktober) zur Feier des Sieges von Marathon 500 Ziegen. Wie allem Werden und Wachsen in der Natur ihre Fürsorge gilt, so auch im Menschenleben. Sie gehört zu den Hochzeitsgöttern, daher ihr Bräute vor der Vermählung eine Locke, den Gürtel, das Mädchenkleid u.a. weihten; ferner ist sie eine Göttin der Entbindung, als die sie Locheia oder Eileithyia (s. d.) heißt, vor allem aber als Paidotrophos oder Kurotrophos eine Pflegerin der Jugend, insbes. der weiblichen. Ihr feierte man in Sparta ein Ammenfest, an dem die Ammen die Säuglinge in ihren Tempel brachten, opferten, schmausten und tanzten. Bei dem Fest der Brauronien zu Brauron in Attika wurden die Mädchen von 5–10 Jahren in krokusfarbenen Gewändern von ihren Müttern in Prozession der Göttin zugeführt und ihrem Schutz empfohlen. In manchen Gegenden wurde ihr am Fest der Apaturien das Haar der Knaben dargebracht. Fast überall verehrten die Mädchen die jungfräuliche Göttin als Schützerin ihrer Keuschheit. Auch zum Meer steht A. in Beziehung, indem sie als glückliche Fahrt verleihende Göttin in Häfen und an Vorgebirgen vielfach verehrt wurde. Die anfangs wohl nur lokale Auffassung der A. als Mondgöttin (s. Selene) ist zu allgemeiner Verbreitung im Volksglauben (weniger im Kult) erst allmählich gelangt, wahrscheinlich seit der. Gleichsetzung des Apollon mit der Sonne. Über ihr Verhältnis zu Hekate s. d. In alter Zeit waren der A. auch Menschenopfer dargebracht worden; an deren Stelle trat in Sparta der Brauch, jährlich die Knaben am Altar der A. Orthia (der »Aufrechten«, vielleicht von der Haltung des altertümlichen Holzbildes) bis aufs Blut zu geißeln. Wie an andern Orten (z. B. Brauron) sah man in Sparta das alte Bild der Göttin als das durch Iphigeneia und Orestes von der Taurischen Halbinsel entführte Bild der taurischen A. an, einer ursprünglich nicht griechischen Gottheit, die mit Menschenopfern verehrt wurde. Vielfach haben die Griechen die A. mit fremden Naturgöttinnen gleichgestellt, wie Anaïtis, Bendis, Britomartis-Diktynna (s. Britomartis). Dieser Art ist namentlich die von den Ioniern Asiens verehrte A. von Ephesos, eine Personifikation der auf Bergen, in Wäldern und im Feuchten wirkenden, die Vegetation, Tiere und Menschen nährenden Naturkraft, die nicht jungfräulich, sondern, wie es die vielen Brüste ihres rohen Bildes ausdrückten, mütterlich und ammenartig gedacht war. Ihr nach asiatischer Art ekstatischer Dienst wurde auf die Amazonen zurückgeführt. – Die Römer stellten der A. ihre Mondgöttin Diana (s. d.) gleich.

Während die ältere Kunst in A. mehr die licht- und segenspendende Göttin, die Beschützerin von Tier und Menschen widergibt, faßt die spätere Zeit sie mehr als die jungfräuliche Jägerin auf. Bogen und Fackel waren ihre gewöhnlichen Attribute; ihre Kleidung war im ältern Stil lang herabwallend und faltenreich, später kurz geschürzt und der der Amazonen verwandt. An den Füßen trägt sie häufig Jägerschuhe. Ihr Gesichtsschnitt zeigt Verwandtschaft mit dem des Apollon, nur sind die Formen zarter und rundlicher. Als[823] Jägerin erscheint A. häufig in lebhaftem Ausschritt, nach dem am Rücken hängenden Bogen greifend, an ihrer Seite ein Reh; so die berühmte A. von Versailles im Louvre (vgl. die Abbildung). Als Hegerin des Wildes mit langem Gewand und wallendem Mantel zeigt sie die archaisierende Statue von Gabii in München. Elegante Nachahmung eines ältern Kultbildes ist die Statue aus Pompeji in Neapel, mit langem, zierlichem Gewand, den Köcher auf dem Rücken. Von großer Schönheit ist auch die ebenfalls in Gabii gefundene, als Jägerin dargestellte A. im Louvre zu Paris, in der wahrscheinlich die Nachbildung eines Werkes von Praxiteles erhalten ist (s. Taf. »Bildhauerkunst V«, Fig. 6). Vgl. Roschers »Lexikon der Mythologie«, Sp. 558 ff.; Pauly-Wissowas »Real-Enzyklopädie«, Bd. 2, Sp. 1335 ff. In der neuern Kunst wurden Darstellungen der A. (Diana) und ihres Sagenkreises von den Italienern der Renaissancezeit mit Eifer aufgenommen.

Artemis (Diana von Versailles; Louvre, Paris).
Artemis (Diana von Versailles; Louvre, Paris).

Tizian hat A. und Aktäon sowie A. und Kallisto mehrere Male gemalt (Hauptbilder bei Lord Ellesmere in London). Ein Hauptwerk von Domenichino zeigt A. mit ihren Nymphen in einer Landschaft (in der Galerie Borghese zu Rom). Am häufigsten hat Rubens A. dargestellt, namentlich auf der Jagd, auf der Rückkehr von der Jagd und bei der Ruhe nach der Jagd (Hauptbilder: A. auf der Hirschjagd, im Museum zu Berlin; A. auf der Rückkehr von der Jagd, in den Galerien zu Darmstadt und Dresden; Ruhe nach der Jagd, in der Pinakothek zu München; A. und Kallisto im Museum zu Madrid). Von plastischen Werken der neuern Kunst ist die ruhende A. von Goujon im Louvre (s. Tafel »Bildhauerkunst XI«, Fig. 2) das hervorragendste. Auch später haben die französischen Künstler A. mit Vorliebe in Plastik (Tafel XI, Fig. 3) und Malerei dargestellt; in neuester Zeit hat die A. von Falguière (Tafel XX, Fig. 9), die in Nachbildungen weit verbreitet ist, den größten Erfolg gehabt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 823-824.
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