Totentanz

[638] Totentanz, seit dem 14. Jahrh. in Aufnahme gekommene bildliche Darstellungen, die in allegorischen Gruppen unter dem vorherrschenden Bilde des Tanzes die Gewalt des Todes über das Menschenleben veranschaulichen sollen. Ursprünglich ward dieser Stoff zu dramatischer Dichtung und Schaustellung benutzt und in kurzen, meist vierzeiligen Wechselreden zwischen dem Tod und anfangs 24 nach absteigender Rangfolge geordneten Personen verarbeitet. Wahrscheinlich war darin den sieben makkabäischen Brüdern mit ihrer Mutter und Eleasar (2. Makk. 6,7) eine hervorragende Rolle zugeteilt, und es fand die Ausführung an deren Gedächtnisfest zu Paris im Kloster der unschuldigen Kindlein (aux Innocents) statt; daher der in Frankreich von alters her übliche lateinische Name Chorea Machabaeorum (franz. la danse Macabre). In Paris war bereits 1407 die ganze Reihe jener dramatischen Situationen nebst den dazugehörigen Versen an die Kirchhofsmauer des genannten Klosters gemalt, und hieran schlossen sich bald weitere Malereien, Teppich- und Steinbilder in den Kirchen zu Amiens, Angers, Dijon, Rouen etc. sowie seit 1485 auch Holzschnitt- und Druckwerke. Reime und Bilder des Totentanzes verpflanzten sich von Frankreich aus auch nach England; die mannigfaltigste und eigentümlichste Behandlung aber ward ihm in Deutschland zuteil. Eine Darstellung in einer Kapelle der Marienkirche zu Lübeck, deren niederdeutsche Reime teilweise erhalten sind, zeigt den T. noch in seiner einfachsten Gestalt: 24 menschliche Gestalten, Geistliche und Laien in absteigender Ordnung, von Papst, Kaiser, Kaiserin, Kardinal, König bis hinab zu Klausner, Bauer, Jüngling, Jungfrau, Kind, und zwischen je zweien eine springende oder tanzende Todesgestalt als verschrumpfte Leiche mit umhüllendem Grabtuch; das Ganze zu einem einzigen Reigen verbunden und von einer einzelnen, pfeifend voranspringenden Todesgestalt geführt (vgl. Mantels, Der T. in der Marienkirche zu Lübeck, Lübeck 1861). Noch älter ist der um 1400 entstandene, um die Mitte des 19. Jahrh. zerstörte T. im Kreuzgang des Klingenthals, eines ehemaligen Frauenklosters der Kleinstadt Basel (Bilder und Reime bei Maßmann: »Baseler Totentänze«, Stuttg. 1847). Hier sind 39 einzelne Paare aufgelöst. Ein andrer wiederholt gedruckter T. mit 37 tanzenden Paaren (»der doten dantz mit figuren«) zeigt[638] sowohl in den Figuren als in den Strophen Nachahmung der erwähnten französischen Danse Macabre. Seit der Mitte des 15. Jahrh. werden die Bilder des Totentanzes immer mehr vervielfältigt, während die Verse wechseln oder ganz weggelassen werden, und zuletzt gestalten sich beide, Bilder und Verse, völlig neu. Zunächst ward der T. von Kleinbasel in Großbasel an der Kirchhofsmauer des Baseler Dominikanerklosters (nicht vor der Mitte des 15. Jahrh.) mit geringen Veränderungen kopiert. Erst Hans Hug Kluber, der 1568 das Bild restaurierte, fügte die neuen Figuren des Pfarrers (Ökolampadius) und seiner Zuhörer, der Mutter mit dem Kind und des den Zug beschließenden Malers hinzu. Bei dem Abbruch der Kirchhofsmauer 1805 ist das Original bis auf geringe Fragmente (im Baseler Historischen Museum) zugrunde gegangen; doch haben sich Nachbildungen nebst den Reimen erhalten, namentlich in den Handzeichnungen Em. Büchels (bei Maßmann a. a. O.). Der zum Volkssprichwort gewordene »Tod von Basel« gab neuen Anstoß zu ähnlichen Darstellungen, obschon die Dichtkunst den Stoff ganz fallen ließ. So ließ Herzog Georg von Sachsen noch 1534 längs der Mauer des dritten Stockwerks seines Dresdener Schlosses ein steinernes Relief von 24 lebensgroßen Menschen- und 3 Todesgestalten ausführen, ohne Reigen oder tanzende Paare und nach Auffassung wie nach Anordnung durchaus neu und eigentümlich. Dieses Bild ward bei dem großen Brand von 1701 stark beschädigt, aber wiederhergestellt und auf den Kirchhof von Neustadt-Dresden übertragen (abgebildet bei Naumann: »Der Tod in allen seinen Beziehungen«, Dresd. 1844). Von der Baseler Darstellung abhängig ist das aus dem 15. Jahrh. herrührende Gemälde in der Predigerkirche zu Straßburg, verschiedene Gruppen, aus deren jeder der Tod seine Opfer zum Tanze holt (abgebildet bei Edel: »Die Neue Kirche zu Straßburg«, Straßb. 1825). Aus den Jahren 1470–90 stammt der T. in der Turmhalle der Marienkirche zu Berlin (hrsg. von W. Lübke, Berl. 1861, und von Th. Prüfer, das. 1888). Einen wirklichen T. malte von 1514–22 Nikolaus Manuel an die Kirchhofsmauer des Predigerklosters in Bern, dessen 46 Bilder, die jetzt nur noch in Nachbildungen vorhanden sind, an den Baseler T. wie an den erwähnten »doten dantz mit figuren« erinnern. Eine durchaus neue und künstlerische Gestalt erhielt aber der T. durch H. Holbein d. J. Indem dieser nicht nur veranschaulichen wollte, wie der Tod kein Alter und keinen Stand verschont, sondern vielmehr, wie er mitten hereintritt in den Beruf und die Lust des Erdenlebens, mußte er von Reigen und tanzenden Paaren absehen und dafür in sich abgeschlossene Bilder mit dem nötigen Beiwerk, wahre »Imagines mortis«, wie seine für den Holzschnitt bestimmten Zeichnungen genannt wurden, liefern. Sie erschienen seit 1530 und als Buch seit 1538 in großer Menge und unter verschiedenen Titeln und Kopien (volkstümliche Ausgabe von Springer, Berl. 1907). Holbeins »Initialbuchstaben mit dem T.« wurden in Nachschnitten von Lödel neu herausgegeben von Ellissen (Götting. 1849). Im Laufe des 16., 17. und 18. Jahrh. entstanden noch andre Totentänze in Chur (erzbischöflicher Palast mit Benutzung der Holbeinschen Kompositionen), Füssen, Konstanz, Luzern, Freiburg und Erfurt, und Holzschneide- wie Kupferstecherkunst nahmen den Stoff wieder auf, dessen sich auch die Dichtkunst wieder bemächtigte, z. B. Bechstein (»Der T.«, Leipz. 1831). Auch im 19. Jahrh. hat man wieder Totentänze gezeichnet, so namentlich A. Rethel, W. Kaulbach und in neuester Zeit Hans Meyer (s. d. 36), Joseph Sattler; auch G. Spangenbergs »Zug des Todes« ist zu erwähnen. Vgl. Peignot, Recherches sur les danses des morts (Par. 1826); Douce, Dissertation on the dance of death (Lond. 1833); Langlois, Essai sur les danses des morts (Rouen 1851, 2 Bde.); Maßmann, Literatur der Totentänze (Leipz. 1840); W. Wackernagel, Der T. (in den »Kleinen Schriften«, Bd. 1, das. 1874); Wessely, Die Gestalten des Todes etc. in der darstellenden Kunst (das. 1876); Seelmann, Die Totentänze des Mittelalters (Norden 1893); Goette, Holbeins T. und seine Vorbilder (Straßb. 1897); Vigo, Le danze macabre in Italia (Rom 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 638-639.
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