Soziologie

[643] Soziologie (Sozialwissenschaft, Sozialphilosophie), die Wissenschaft vom sozialen Leben als solchem. Wesen, Formen, Ursachen, Wirkungen und Zwecke des Gesellschaftlichen bilden den Gegenstand dieser noch jungen Disziplin, durch die der Zusammenhang zwischen den besondern Sozialwissenschaften hergestellt wird. Insofern sie die Tatsachen des Gesellschaftslebens, seine mannigfachen Formen und Zustände, seine ursachlichen Faktoren und konstanten Bedingungen aufzeigt, ist sie soziale Statik, deren Ergänzung die soziale Dynamik, der Versuch der Schilderung der Gesetzmäßigkeit sozialer Entwickelung bildet. Die allgemeine S. hat es mit den sozialen Prinzipien überhaupt, die spezielle mit der sozialen Bedeutung der einzelnen Produkte des Gesellschaftslebens (Wirtschaft, Recht, Sitte, Technik etc.) zu tun. Die Kompliziertheit der sozialen Faktoren, die Bedeutung des Individualitätsmoments und der Charakter schöpferischer Synthese, der dem im Gesellschaftlichen zum Ausdruck kommenden Geistigen eignet. verhindert zwar eine Vorausberechenbarkeit historisch-sozialer Ereignisse und Zustände sowie die Ausstellung exakter Gesetze im Sinne der Physik, indes sind doch gewisse soziale Rhythmen, Regelmäßigkeiten, Konstanten, Typen zu konstatieren, die auf das Walten bestimmter Kräfte, Bedürfnisse, Tendenzen, Motive hinweisen, die unter analogen Umständen ähnlich wirken. Die S. ist in erster Linie eine Geisteswissenschaft, muß aber, da sie die natürlichen Faktoren des Gesellschaftslebens zu berücksichtigen hat, auch die Ergebnisse und Methoden der Naturwissenschaft, insbes. der Biologie, verwerten. Die Erklärung des Sozialen freilich darf nicht, wie das in der Schule der Organiker gern geschieht, mittels biologischer Analogien erfolgen, sondern muß in erster Linie psychologischer (psychogenetischer) Art sein, ohne aber die historische und nationalökonomische Methode zu vernachlässigen. Hilfswissenschaften der S. sind außer Geschichte, Nationalökonomie und Völkerpsychologie noch die allgemeine Rechtswissenschaft, die Völkerkunde, die Anthropologie, die vergleichende Religionswissenschaft u. dgl. Außer der Theorie des sozialen Seins und Geschehens will die S. auch eine soziale Technik und Ethik, die Idee und die Richtlinien einer zweckvoll-vernünftigen, gerechten sozialen Organisation geben. Als selbständige Wissenschaft ist die S. erst im 19. Jahrh. aufgetreten. Vorher sind es die Rechts- und Staatsphilosophie, Ethik, Geschichtsphilosophie und Nationalökonomie, die soziologische Fragen erörtern. In Betracht kommen diesbezüglich besonders Schriften von Platon, der zum erstenmal ein Staatsideal aufstellt, Aristoteles, der die soziale Natur des Menschen lehrt, die Stoiker, ferner Lehren des Epikur und Lucrez, die schon den Staat aus einem Vertrag ableiten. In neuerer Zeit wird dieser Gedanke von Hobbes und Spinoza durchgeführt. Während Th. Morus, Campanella u. a. als Verfasser von »Staatsromanen« (s. d.) auftreten, weisen Shaftesbury, Ferguson u. a. auf die Bedeutung der sozialen Gefühle hin. Geschichtsphilosophen, wie Montesquieu, Vico u. a., bahnen eine soziale Dynamik an, die von Fichte, Hegel u. a. in andrer Weise fortgeführt wird. Die Vertragstheorie erneuert Rousseau. Seit dem Ende des 18. Jahrh. arbeitet der Sozialismus der eigentlichen, theoretischen S. vor, für die der »ökonomische Materialismus« von K. Marx und Fr. Engels von Bedeutung wird. Beeinflußt von Saint-Simon, begründet Aug. Comte die S. als Statik und Dynamik des Gesellschaftslebens nach »positivistischer« Methode und auf Grundlage der Biologie. Während Quételet die statistische Methode auf das soziale Leben anwendete, wurde Herbert Spencer zum Haupte der »organisistischen« Schule, welche die Gesellschaft als eine Art Organismus betrachtet, so bei P. v. Lilienfeld, Schäffle, Espinas, Novicow u. a., gemäßigter auch bei Fouillée. Letzterer vertritt schon die psychologisierende Richtung der S., der auch Giddings, L. F. Ward, J. S. Mackenzie, Tarde, de Greef, Lavrow, Karejew, Tönnies, L. Stein, Simmel, P. Barth u. a. angehören. Die Ergebnisse der Ethnologie verwerten außer Spencer Maine, Morgan, Bachofen, Laveleye, Letourneau, Schurtz, H. Post, J. Kohler, Steinmetz, Vierkandt, Westermarck u. a. Die Gesetzmäßigkeit des sozialen Lebens suchen zu bestimmen Carey, Buckle, B. Kidd u. a. Während Durkheim rein induktiv vorgeht, betonen die Anhänger des Marxismus (s. d.) streng den ökonomischen Materialismus, den andre kritisieren. Den Rassen- und Gruppenkampf betonen Bagehot, Gumplowicz, Ratzenhofer u. a. In Beziehung zum Darwinismus, zur Biologie bringen die S. Huxley, A. Tille, Ferri u. a., ferner O. Ammon, L. Woltmann, E. H. Ziegler, Schallmeyer, Matzat u. a. Namhafte Soziologen sind ferner noch R. Worms, Lacombe, G. Richard, M. Bernès, Wachsweiler, J. Vanni, M. Kowalewsky, Loria u. a. Vgl. Comte, Cours de philosophie positive (Par. 1830–42, 6 Bde.; 5. Aufl. 1893) und Système de politique positive (das. 1852–54, 4 Bde.; neue Ausg. 1890–94); Quételet, Essai de physique sociale (Par. 1835; neue Ausg., Brüssel 1869, 2 Bde.; deutsch, Stuttg. 1838); Spencer, Principles of Sociology (Lond. 1876–96, 3 Bde.; deutsch, Stuttg. 1877–91, 4 Bde.); Lilienfeld, Gedanken über die Sozialwissenschaft der Zukunft (Bd. 1–4, Mitau 1873–79; Bd. 5, Hamb. 1881); Schäffle, Bau und Leben des sozialen Körpers (Tübing. 1875–78, 4 Bde.; neue Ausg. 1896, 2 Bde.); Gumplowicz, Der Rassenkampf (Innsbr. 1883) und Grundriß der S. (2. Aufl., Wien 1905); Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (Leipz. 1887); Simmel, Über soziale Differenzierung (das. 1890); Ammon, Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen (Jena 1895); Barth, Die Philosophie der Geschichte als S. (das. 1897); Ratzenhofer, Die soziologische Erkenntnis (das. 1898); Goldscheid, Zur Ethik des Gesamtwillens (das. 1902); Eisler, S. (das. 1903); L. Stein, Die soziale Frage im Lichte der Philosophie (2. Aufl., Stuttg. 1903); Schallmeyer, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker (Jena 1904); Durkheim, Éléments de sociologie (Par. 1889); Tarde, La logique sociale (das. 1894); Worms, Organisme et société (das. 1896); Giddings, Principles of Sociology (2. Aufl., New York 1896); L. F. Ward, Outlines of Sociology (das. 1898). Seit 1892 besteht in Paris ein »Institut International de Sociologie«. Zeitschriften: »Zeitschrift für Sozialwissenschaft« (hrsg. von Wolf, Berl. 1898 ff.); »Revue internationale de sociologie« (Par. 1892 ff.); »Annales de l'Institut International de Sociologie« (das. 1897 ff.), »L'année sociologique« (das. 1896 ff.); »The American Journal of Sociology« (Chicago 1895 ff.); »Rivista italiana di sociologia« (Rom 1894 ff.). Vgl. auch die Artikel: »Sozialismus, Gesellschaft, Völkerkunde«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 18. Leipzig 1909, S. 643.
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