Frauenstudium

[44] Frauenstudium. Die Frage, ob Frauen zum Studium der Wissenschaften zuzulassen seien, ist ein wesentlicher Teil der Frauenfrage (s.d.) wie diese der vielverhandelten sozialen Frage überhaupt. Die Behauptung der Gegner des Frauenstudiums, daß dem weiblichen Geschlecht die Befähigung zur selbständigen wissenschaftlichen Forschung abgehe, ist abzulehnen. Die Erfahrung lehrt, daß Frauen ganz wohl mittlern Ansprüchen der Berufsstudien gerecht zu werden vermögen, und nicht wenige Frauen haben sich in der Ausübung wissenschaftlicher Berufsarbeiten wie auch sonst auf dem Gebiete des geistigen Lebens hervorgetan. Das griechische Altertum kannte einzelne Ärztinnen und brachte noch zum Schluß in Alexandria die berühmte, 415 n. Chr. vom Pöbel ermordete Philosophin Hypatia hervor. Berühmt als lateinische Schriftstellerinnen sind die sächsische Nonne Hroswitha (gest. gegen 1000) in Gandersheim und die Äbtissin Herrad von Landsberg in Odilienberg (Elsaß; um 1170). Fast jede Nation Europas hatte einzelne gelehrte Frauen im Mittelalter und vorzüglich in der Zeit des Humanismus. Der Franzose Pierre Dubois, im-Anfang des 14. Jahrh., wünschte, daß Frauen zu Ärztinnen für Kinder und Frauen akademisch ausgebildet würden. In Deutschland weist das Jahrhundert von 1750–1850 eine Reihe weiblicher Doktoren in der medizinischen und philosophischen Fakultät und andre gelehrte Frauen auf, unter denen Christiane Erxleben, geborne Leporin (1754), die auch eine »Gründliche Untersuchung der Ursachen, welche das weibliche Geschlecht vom Studio der Medizin abhalten«, geschrieben hat, Christiane Dilthey, spätere Frau Büsching (1755), Dorothea Schlözer, spätere Frau Rodde (1787), Karoline Herschel sowie Mutter und Tochter v. Siebold (1815 u. 1817) vor andern bekannt sind. Das ehedem verbreitete Vorurteil gegen das F. an Universitäten schwindet in der Gegenwart immer mehr. Unter den akademischen Berufsfächern sind beim weiblichen Geschlecht vorzugsweise Medizin (Frauen- und Kinderkrankheiten) und Schulwissenschaften (Sprachen, Geschichte, Erdkunde, Mathematik: Lehramt an höhern Mädchenschulen) beliebt. Die Besorgnis, daß das Studium unter der weiblichen Jugend eine allgemeine Verbreitung erlangen und so die Erfüllung der besondern sozialen Aufgaben und Pflichten des weiblichen Geschlechts beeinträchtigen könnte, ist mindestens übertrieben. Das berufsmäßige F. wird aus naheliegenden Gründen stets auf engere Kreise beschränkt bleiben. Wo es einmal über das natürliche Bedürfnis, durch besondere Umstände ermuntert oder agitatorisch gepflegt hinausgreift, bleibt die Reaktion gewiß nicht aus. Eigne Frauenuniversitäten oder Frauenhochschulen, wie sie von manchen Seiten empfohlen wurden, können den Anhängern des Frauenstudiums nicht genügen, da sie die Gefahr oder mindestens den Verdacht ermäßigter Ansprüche an die Studentinnen nahelegen.

Unter den europäischen Staaten war es die Schweiz, wo zuerst (Zürich 1867) die Frauen zum ordnungsmäßigen Universitätsstudium zugelassen wurden. Gegenwärtig haben die Frauen an allen Schweizer Universitäten als gleichberechtigte Hörer neben den Männern Zutritt. Im Sommer 1903 gab es an den Schweizer Universitäten unter 5329 Hörern (4490 immatrikulierten Studenten) 1500 studierende Frauen, in der Mehrzahl Ausländerinnen. In England entstanden seit 1869 Frauen-Colleges als Internate, vornehmlich in Oxford und Cambridge. Au beiden Universitäten[44] sind die Frauen seit den 1880er Jahren zu den höhern Schlußprüfungen zugelassen, in London seit 1878, ebenso in Durham, Aberystwith, Manchester, Dublin. Der schottischen Universität Glasgow wurde 1892 das 1883 begründete Queen Margaret College mit ca. 300 Studentinnen einverleibt. ‚ Dublin ist eine Hauptbildungsstätte für weibliche Ärzte; ebenso die medizinischen Frauenhochschulen in London und Edinburg. Im ganzen haben sich in Großbritannien seit 1881 gegen 4000 Frauen dem Studium gewidmet. In Frankreich ist ebenfalls seit längerm das F. zugelassen. 1903 zählten die französischen öffentlichen Hochschulen unter fast 30,000 Studenten 1235 weibliche, davon 622 in Paris und 508 Ausländerinnen, vorwiegend slawischer Herkunft. In den übrigen europäischen Staaten ist den Frauen das Studium entweder ausdrücklich gestattet (Schweden und Finnland seit 1870, Dänemark 1875, Italien 1876, Belgien 1880, Norwegen 1884, Spanien und Rumänien 1888, Griechenland 1890) oder doch nicht prinzipiell verwehrt. In Österreich war ihnen wenigstens mit besonderer Genehmigung des einzelnen Falles das Studium ermöglicht. Seit 1897 werden die mit Reifezeugnis ausgestatteten Frauen als ordentliche Hörerinnen in der philosophischen Fakultät, seit 1900 auch zum medizinischen und pharmazeutischen Beruf (einschließlich Prüfungen und Doktorat) zugelassen. Ungarn hat bereits 1895 weiblichen Gymnasialabsolventen die gleichen Studien freigegeben. Rußland kannte bis vor kurzem wohl sogen. Mädchengymnasien, aber kein eigentliches Universitätsstudium der Frauen, sondern nur einzelne höhere Frauenkurse. 1897 wurde eine medizinische Frauenhochschule in Petersburg errichtet. Die früheste und weiteste Verbreitung erlangte das F. in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort haben Frauen ebensowohl Zutritt zum Studium an den allgemeinen Hochschulen, wie ihnen auch besondere Frauenuniversitäten offen stehen. Der Besuch dieser höhern Lehranstalten dient jedoch den Frauen nur teilweise als Vorbereitung auf höhere Berufe, fast mehr noch zur Erwerbung besserer Allgemeinbildung. In Deutschland suchte schon seit Mitte der 1870er Jahre eine Reihe von Anstalten, wie die Humboldt-Akademie in Berlin und verwandte Institute in Breslau, Köln, Leipzig, strebsamen Frauen höhere allgemeine Bildung zu vermitteln. Die meisten haben keinen strengen Lehrplan und Lernzwang und vermögen in ihrer ursprünglichen Gestalt als Hochschulen so wenig wie als Gymnasien zu gelten. Wissenschaftliche Fortbildungskurse, wie sie für Damen zuerst von dem Viktorialyzeum in Berlin, dann in Göttingen, Straßburg, Breslau, Königsberg eingerichtet worden sind, wollen in erster Linie den Lehrerinnen höherer Mädchenschulen Gelegenheit zu weitergehendem Studium und zur Erlangung des Oberlehrerinnenzeugnisses geben. In bezug auf die Zulassung zu Universitätsstudien,-Prüfungen und-Graden hat man in Deutschland am längsten zurückgehalten. Nur Baden und Bayern lassen bisher Frauen mit der entsprechenden Vorbildung zur Immatrikulation an der Universität zu. An den übrigen Universitäten können sie mit Beschränkung auf bestimmte Fächer als Hörerinnen zugelassen werden. Im Wintersemester 1903/1904 gab es 85 immatrikulierte Studentinnen (Heidelberg 28, Freiburg 26, München 25, Würzburg 5, Erlangen 1) und 1256 Hörerinnen, wovon 562 in Berlin. Mit der Frage des Studiums ist die der geeigneten Vorbildung aufs engste verknüpft. Um den Mädchen die für das Studium nötige Vorbildung zu ermöglichen und den aus der Unzulänglichkeit des Mädchenschulwesens hergeleiteten Einwand gegen die Zulassung der Frauen zu den Universitäten zu entkräften, sind seit 1893 in Karlsruhe, Berlin, Leipzig Gymnasialkurse für Mädchen und demnächst in Karlsruhe, Stuttgart, Hannover, Breslau, München förmliche Mädchengymnasien (meist Realgymnasien) errichtet. Unter ihnen ist die Breslauer Anstalt städtisch, die übrigen sind Vereinsschulen, z. T. des Vereins »Frauenbildungsreform« (Sitz Weimar). Auch in andern Städten plant man Ähnliches. In Rom wurde 1891 ein Mädchengymnasium vom Kultusministerium errichtet. In der Schweiz steht dem weiblichen Geschlecht der Besuch der Knabengymnasien frei. In Baden und Sachsen wird neuerdings jungen Mädchen von Fall zu Fall, wenn kein Bedenken entgegensteht, der Eintritt in höhere Knabenschulen gestattet.

Vgl. v. Scheel, Frauenfrage und F. (im »Jahrbuch für Nationalökonomie«, Bd. 22); v. Gneist, Über gemeinschaftliche Schulen von Knaben und Mädchen und über Universitätsbildung der Frauen (im »Arbeiterfreund«, 1874); Böhmert, Das Studieren der Frauen (Leipz. 1872); Waldeyer, Das Studium der Medizin und die Frauen (Tageblatt der 61. Versammlung deutscher Naturforscher etc., Köln 1889); v. Bischoff, Das Studium und die Ausübung der Medizin durch Frauen (Münch. 1872); Schwerin, Die Zulassung der Frauen zur Ausübung des ärztlichen Berufs (Berl. 1880); Mathilde Weber, Ärztinnen für Frauenkrankheiten, eine ethische und sanitäre Notwendigkeit (5. Aufl., das. 1893); »Die akademische Frau«, Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren etc. (hrsg. von Kirchhoff, das. 1897); Lassar, Das medizinische Studium der Frau (das. 1897); Baudouin, Les femmes-médecins (Par. 1901ff.); Lipinska, Histoire des femmes-médecins (das. 1902); die Monatschrift »Hochschulnachrichten« (hrsg. von P. v. Salvisberg, München) und weitere Literatur bei Artikel »Frauenfrage«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 44-45.
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