Gradmessungen

[206] Gradmessungen, Messungen eines bestimmten Bogens auf der Oberfläche der Erde, sind schon seit alten Zeiten vorgenommen worden, um Größe und Gestalt der Erde zu ermitteln. Jede solche Messung besteht aus einer geodätischen Operation, welche die absolute Länge des Bogens in einem bekannten Längenmaß, in Meter, Toisen etc., bestimmt, und einer astronomischen, die den Bogen nach Gradmaß mißt und damit sein Verhältnis zum ganzen Umfang feststellt. Die meisten G. sind auf Meridianen vorgenommen worden; der astronomische Teil der Arbeit besteht dabei in der Ermittelung des Breitenunterschiedes der beiden Endstationen; bei G. in der Richtung eines Parallelkreises oder Längengradmessungen ist auf astronomischem Wege der Längenunterschied der Endstationen zu bestimmen, was man erst in neuerer Zeit, namentlich seit Anwendung des elektrischen Telegraphen, mit befriedigender Genauigkeit ausführen kann.

Den ersten Versuch einer Bestimmung des Erdumfanges machte Eratosthenes (276–195 v. Chr.). Er beobachtete zur Zeit des Sommersolstitiums in Alexandria die mittägige Zenitdistanz der Sonne = 7°12´, während an demselben Tag in der oberägyptischen Stadt Syene die Sonne im Zenit stand, Da er beide Orte auf demselben Meridian voraussetzte, so schloß er hieraus, daß ihre Entfernung ebenfalls 7°12´ oder der 50. Teil des Erdumfanges sei. Nun schätzte er aber diese Entfernung = 5000 Stadien und erhielt somit für den Erdumfang den Wert von 250,000 Stadien. Posidonius bestimmte um 50 v. Chr. aus Beobachtungen von Kanopus den Breitenunterschied zwischen Rhodos und Alexandria gleich dem 48. Teil eines Kreises und schätzte die Entfernung nach der Dauer der Seereise = 5000 Stadien, was 240,000 Stadien für den Erdumfang gab. 1525 bestimmte Fernel den Breitenunterschied zwischen Paris und Amiens, ermittelte die Entfernung mittels Meßrades und erhielt, durch den Zufall begünstigt, den nahezu richtigen Wert von 56,746 Toisen für den Meridiangrad. Bis dahin stand der geodätische Teil der Gradmessung, die Ermittelung der Entfernung, an Genauigkeit erheblich hinter dem astronomischen zurück. Bei diesem handelte es sich nur um Winkelmessungen, die von den Arabern bereits mit einer Genauigkeit von 6 Minuten ausgeführt wurden. Zur Ermittelung der Entfernung aber mußte man sich der direkten Messung bedienen, die immer mit vielen Fehlerquellen behaftet ist. Eine neue Periode begann, als Snellius (1615) zeigte, wie man durch eine Triangulation, mittels Dreieckskette, auf dem Wege der Rechnung die Entfernung zweier weit entlegener Punkte ermitteln kann, nachdem man eine verhältnismäßig kurze Grundlinie und außerdem nur Winkel gemessen hat. Mit Hilfe einer Grundlinie von 326,4 Ruten rheinisch und Anwendung von 33 Dreiecken maß Snellius 1615 den Bogen Alkmar-Bergen op Zoom, erlangte indessen nur das ungenaue Resultat von 55,021 Toisen für den Meridiangrad. Eine spätere Revision durch Musschenbroek (1719) ergab den genauern Wert von 57,033 Toisen.

Einen weit höhern Grad von Genauigkeit erlangten die Messungen durch Anwendung des Fernrohrs mit Fadenkreuz. So maß 1669 Picard den Meridianbogen Amiens-Malvoisine und fand die Größe eines Grades = 57,060 Toisen, also den Erdumfang = 20,541,600 Toisen. Dieses Resultat diente Newton zur Grundlage bei seinen Arbeiten, die zur Entdeckung der allgemeinen Gravitation führten. – Während man bei den bisherigen G. aber die Erde als kugelförmig vorausgesetzt und nur ihre Größe gesucht hatte, trat nun ein neues Problem auf, als die Untersuchungen von Richer, Huygens und Newton zu der Ansicht geführt hatten, daß die Erde die Gestalt eines an den Polen abgeplatteten Rotationsellipsoids habe. Da der von Picard gemessene Bogen zu klein war, um eine Bestätigung oder Widerlegung dieser Ansicht zu liefern, veranlaßte die französische Akademie eine Fortsetzung der Picardschen Gradmessung nördlich bis Dünkirchen und südlich bis Collioure, zusammen 81/3°. Lahire und Cassini führten dieselbe 1683 bis 1718 aus, und es ergab sich aus ihr eine Abnahme der Meridiangrade mit wachsender Breite, während auf einem an den Polen abgeplatteten Rotationsellipsoid die Meridiangrade nach den Polen hin an Größe zunehmen mußten. Die Franzosen schlossen daher, daß die Erde nicht an den Polen abgeplattet, sondern gerade umgekehrt in Richtung der Achse verlängert sei. Der hierdurch veranlaßte Streit führte zu zwei in der Breitenlage weit auseinander liegenden[206] Expeditionen: die eine, am Äquator, aus Bouguer, La Condamine, Godin bestehend, maß unter Teilnahme des Spaniers Ulloa 1735–41 einen Bogen von 3°7´ (Tarqui-Couteschi) in Peru; die andre, Maupertuis, Clairaut, Lemonnier, Camus, Outhier, maß 1736 unter Mitwirkung von Celsius einen Gradbogen bei Torneå in Lappland. Diese einen entschieden größern Wert (57,438 Toisen) für den Meridiangrad liefernde Messung machte die Abplattung der Erde an den Polen gewiß. Die Messung in Peru ergab, dies Resultat bestätigend, am Äquator 56,753 Toisen. Von dieser Gradmessung hat die Toise du Pérou ihren Namen, die seitdem die Maßeinheit der höhern Geodäsie bildete. Es wurde nämlich der eiserne Maßstab, der bei dieser Messung benutzt worden war, zum Normalmaßstab erklärt, und zwar sollte eine Toise seine Länge bei 13° R. sein. Inzwischen hatten Cassini de Thury und Lacaille bei einer Revision der ältern Messungen 1740 als mittlere Größe des Meridiangrades in Frankreich 57,012 Toisen gefunden, auch eine Zunahme der Größe der Grade mit wachsender Breite erkannt. Lacaille nahm die erste Gradmessung auf der südlichen Halbkugel vor, indem er 1751–53 am Kap der Guten Hoffnung einen Bogen von etwa 11/4° maß. Mason und Dixon maßen 1768 in Pennsylvanien einen Bogen von 1° 28´ 45´´ mit der Kette; in demselben Jahre nahm auch Beccaria bei Turin eine Meridianmessung vor. Alle diese Arbeiten umrden aber an Ausdehnung wie Genauigkeit übertroffen von der großen französischen Gradmessung, die, 1792 von Méchain und Delambre begonnen, 1808 von Arago und Biot zu Ende geführt, einen Bogen von 12°22´, von Dünkirchen bis Formentera umfaßt. Hauptzweck dieses Unternehmens war die genaue Ermittelung der neuen französischen Längeneinheit, des Meters, das nach Dekret vom 26. März 1791 der zehnmillionte Teil des Erdmeridianquadranten sein sollte. Aus den Messungen von Méchain und Delambre ergab sich das Meter = 443,296 Pariser Linien = 0,5130740 Toisen, und diese Länge wurde durch einen in Paris aufbewahrten Platinmaßstab bei der Temperatur von 0° fixiert. Bessel hat indessen später gezeigt, daß dieser Wert nicht ganz den Bestimmungen jenes Dekrets entspricht; es hat nämlich der Erdquadrant in Wirklichkeit 10,000,856 m statt 10 Mill. und das Meter müßte, um der gesetzlichen Bestimmung zu genügen, 443,334 Pariser Linien betragen. – Im 19. Jahrh. sind eine große Anzahl umfangreicher G. ausgeführt worden, von denen besonders zu erwähnen sind: die Revision der Maupertuisschen Gradmessung durch Svanberg (1801–1803), die englischen Messungen, die sich über einen Bogen von 10° (von Dunnose auf der Insel Wight bis Saxaford [Shetlandinseln]) erstrecken und mit der französischen in Verbindung gesetzt worden sind, beide zusammen umfassen einen Bogen von 22°. Ferner die ostindischen G., die einen Bogen von 21° umfassen; G. von Schumacher zwischen Lauenburg und Lyssabbel (1°32´), die von Gauß zwischen Göttingen und Altona (2°1´) und die von Bessel und Baeyer in Ostpreußen zwischen Trunz und Memel (1°30´); die etwa 41/2° umfassen de Gradmessung am Kap der Guten Hoffnung (1842–52); die russisch-skandinavischen G. (1817–53), die von Fuglenaes bei Hammerfest (70°40´ nördl. Br.) bis an die Donau, Staro-Nekrassowska bei Ismail (45°20´ nördl. Br.) sich erstrecken. Aus der neuesten Zeit sind die folgenden Breitengradmessungen hervorzuheben, die z. T. noch in Ausführung begriffen sind: Die von Rußland und Schweden seit 1898 gemeinsam ausgeführte Gradmessung auf Spitzbergen; die Neumessung eines peruanischen Gradbogens von 5°53´ durch Frankreich (seit 1901) von Tulcan bis Payta; die Meridianmessung der Vereinigten Staaten von Nordamerika längs des 98. Meridians von Mexiko bis Kanada mit einer Ausdehnung von 43°; die von Gill begonnene Breitengradmessung durch Zentralafrika von Kapstadt bis Ägypten.

Die erste Längengradmessung wurde 1733–34 von Cassini de Thury und Maraldi auf dem Parallel von Paris ausgeführt, denen andre in Frankreich und Ostindien folgten. Die erste größere derartige Messung wurde 1811 von Marennes (Gironde) nach Fiume durch Largeteau, Plana und Carlini in einer Ausdehnung von 15°32´ ausgeführt. Auch in Spanien und Großbritannien sind bei Gelegenheit der allgemeinen Triangulation mehrere Parallelkreisbogen gemessen worden. In Frankreich wurde 1818–43 der Parallelbogen Paris-Brest gemessen und später nach Osten über Straßburg, München bis Wien fortgesetzt, so daß diese Messungen sich über einen Bogen von 20°44´ erstrecken. Endlich ist noch die große europäische Bogengradmessung nach W. Struves Plan unterm Parallel von 52° von Valentia an der Westküste Irlands bis nach Orsk im russischen Gouv. Orenburg, 69 Längengrade, zu erwähnen. Vgl. Helmert, Die europäische Längengradmessung in 52° Breite von Greenwich bis Warschau (Berl. 1893–96). In neuester Zeit wurde in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eine Längengradmessung von 4225 km Ausdehnung auf 39° nördl. Br. vom Atlantischen zum Stillen Ozean durchgeführt. Über die Resultate der G. vgl. Erde, S. 906.

Um eine möglichst genaue Kenntnis von der Krümmung der Erdoberfläche im mittlern Europa und den angrenzenden Meeresteilen zu erlangen, machte der General Baeyer 1861 den Vorschlag zu einer mitteleuropäischen Gradmessung. Im wesentlichen lief der Vorschlag auf eine Meridiangradmessung zwischen Christiania und Palermo hinaus, die durch Längengradmessungen mit der russisch-skandinavischen und der französischen Meridianmessung verbunden werden sollte. (Vgl. Baeyer, Über die Größe und Figur der Erde, Berl. 1861.) Die verschiedenen Regierungen gingen bereitwillig auf den Plan ein; schon 1862 fand eine Konferenz der preußischen, österreichischen und sächsischen Kommissare in Berlin statt, und 1864 wurde in Berlin die erste allgemeine organisierende Konferenz abgehalten, auf der 14 Staaten vertreten waren. Die wissenschaftliche Leitung wurde einer »permanenten Kommission« übertragen, der als ausführendes Organ das »Zentralbureau der mitteleuropäischen Gradmessung« mit General Baeyer an der Spitze zur Seite gestellt wurde. 1867 fand die zweite Konferenz in Berlin statt, und da inzwischen alle Staaten Europas, mit Ausnahme der Türkei und Griechenlands, ihre Teilnahme zugesagt hatten, so wurde der Name »Europäische Gradmessung« für das Unternehmen angenommen. Zwei Jahre darauf wurde in Preußen das »Geodätische Institut« gegründet, das die Arbeiten des Zentralbureaus unter Mitwirkung der permanenten Kommission ausführt (vgl. Geodätisches Institut). Weitere allgemeine Konferenzen fanden 1871 in Wien, 1874 in Dresden, 1877 in Hamburg, 1880 in München, 1883 in Rom, 1886 in Berlin, 1889 in Paris, 1892 in Brüssel, 1895 in Berlin, 1898 in Stuttgart, 1900 in Paris und 1903[207] m Kopenhagen statt. Seit 1886 ist dem Unternehmen der Name internationale Erdmessung beigelegt worden, da der Beitritt verschiedener außereuropäischer Staaten eine abermalige Erweiterung nötig machte. Von den umfangreichen Arbeiten, welche die Aufgabe der internationalen Erdmessung bilden, seien erwähnt: die schon ausgeführte Revision der französischen Messungen und deren Fortsetzung nach Algerien, eine völlige Ummessung des Mittelländischen Meeres, eine Gradmessung durch Zentralafrika von Kapstadt bis Ägypten, eine Verbindung und Ausgleichung aller bereits vorhandenen geodätischen Arbeiten, namentlich derjenigen Triangulierungen, die von der Gradmessung mitbenutzt werden, Präzisionsnivellements und nivellitische Verbindung der Pegelnullpunkte zur Ermittelung der relativen Meereshöhen, umfassende Pendelbeobachtungen in allen Teilen der Erde über die Größe und Störungen der Schwerkraft (im Herbst 1903: 1744 Schwerstationen), Untersuchungen über lokale Lotablenkungen, Untersuchungen der Polhöhenschwankungen, über die terrestrische Refraktion etc. Über die Fortschritte der Arbeiten geben die »Verhandlungen«, die allgemeinen Konferenzen und die auf denselben erstatteten »Berichte« der einzelnen Staaten nähere Mitteilungen.

Die Präzisionsnivellements stehen in Verbindung mit einer großen Anzahl Meereshöhenbeobachtungen mittels Marcographen (automatischen Flutmessern). Deutschland hat seit 1880 sich einen »Normalnullpunkt« für sämtliche Höhenermittelungen an der Sternwarte zu Berlin festgestellt. Nach dem Beschluß der allgemeinen Konferenz in Rom 1883 gilt der Meridian von Greenwich als Einheitsmeridian für alle internationalen Längenbestimmungen. Vgl. Boersch, Geodätische Literatur (Berl. 1889); Bauernfeind, Elemente der Vermessungskunde (7. Aufl., Stuttg. 1890) und Die Bedeutung moderner G. (Münch. 1866); Jordan, Handbuch der Vermessungskunde (5. Aufl., Stuttg. 1904 ff.); Helmert, Die mathematischen und physikalischen Theorien der höhern Geodäsie (Leipz. 1880–84, 2 Teile); Orff, Über die Hilfsmittel, Methoden und Resultate der internationalen Erdmessung (Münch. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 206-208.
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