Cervantes Saavedra

[846] Cervantes Saavedra (spr. ßawédra), Miguel de, berühmter span. Dichter, geb. Anfang Oktober 1547 in Alcalá de Henares aus altadligem galicischen Geschlecht, gest. 23. April 1616 in Madrid, studierte zwei Jahre in Salamanca, sodann um 1568 in Madrid anfangs Theologie, später aus Neigung die schönen Wissenschaften. Aus Verdruß über die geringe Teilnahme. die seine ersten dichterischen Versuche fanden, ging er 1569 nach Italien, wurde hier aus Not Kammerdiener des Kardinals Giulio Aquaviva in Rom, nahm 1570 Dienste bei den spanisch-neapolitanischen Truppen im Kriege gegen die Türken und afrikanischen Korsaren und kämpfte mit großer Tapferkeit in der Schlacht von Lepanto (7. Okt. 1571), wo er drei Schußwunden erhielt, durch deren eine er die linke Hand verlor und der linke Arm dauernd gelähmt wurde. Nachdem er bis Mai 1574 in Sardinien gestanden, begab er sich über Genua zum Heer des Don Juan d'Austria in der Lombardei und kehrte mit jenem in dem berühmten dritten flandrischen Regiment des Lope de Figueroa nach Sizilien zurück. Im Juni 1575 nahm er in Neapel Urlaub zur Heimreise nach Spanien, ward aber unterwegs 26. Sept. 1575 von algierischen Seeräubern aufgegriffen und nach Algier in die Gefangenschaft geschleppt, in der er, zuerst als Sklave des grausamen Ali Mami, sodann des venezianischen Renegaten Hassan Pascha, der sich vom Ruderknecht zum Dei von Algier emporgeschwungen hatte, fünf Jahre zubrachte. Mehrere ebenso verwegene wie abenteuerliche Versuche, sich und seine Leidensgefährten durch die Flucht zu befreien, scheiterten, worauf er den kühnen Plan faßte, sich mittels einer Sklavenverschwörung in den Besitz von Algier zu setzen. Verraten, wurde er in Fesseln gelegt, doch zwang seine Kühnheit selbst den Mauren Achlung und Schonung seiner Person ab. Endlich 19. Sept. 1580 von seinen nächsten Verwandten (Mutter und Schwester) sowie einigen Freunden losgekauft, kehrte C. nach Spanien zurück, trat nochmals in sein altes Regiment ein und machte die Expebitionen gegen Portugal und nach den Azoren mit, die Philipp II. den Gehorsam verweigerten, und wurde Ende 1583 für immer der Heimat und den Musen zurückgegeben. Bald darauf vermählte er sich mit D. Catalina de Palacios Salazar aus einer angesehenen, aber armen Familie in Esquivias. Da er nun auf Erwerb denken mußte, schrieb er noch in den Flitterwochen seinen Schäferroman »Galatea« (Madr. 1584) und wandte sich dann der dramatischen Dichtung zu, die damals in ihren Anfängen war. Von den 20–30 Dramen dieser Zeit, im alten Stile des Cueva, Argensola und Virues, wurden manche mit Beifall aufgenommen; doch sind nur zwei davon erhalten: »Los tratos de Argel«, ein Gemälde der Leidenszeit in Algier, und das heroische Schauspiel vom Untergang der Stadt »Numancia«, das noch Goethe mit Bewunderung erfüllt hat (gedruckt erst 1784). Dann verließ er gegen eine kleine Anstellung in Sevilla die Stellung eines Bühnendichters und verfaßte wahrscheinlich hier jene Reihe von »vorbildlichen« oder »Musternovellen«, worin er das Treiben und die Laster dieser Stadt so trefflich zeichnet. Mit dem Tode Philipps II. verschwindet er aus Sevilla, und wir sehen ihn einige Jahre später (1603) in Valladolid wieder auftauchen, wohin ihn das Hoflager Philipps III. führte. In diese Zeit (1598–1603) muß eine amtliche Reise als Steuereinzieher durch die öde Provinz La Mancha und seine Gefangennahme in dem Städtchen Argamasilla fallen, in dessen Kerkermauern er seinen »Don Quijote« begonnen haben soll, dies Buch für Weise und für Männer. Über den Grund der Gefangennahme ist nichts Sicheres bekannt; ja es steht nicht einmal fest, daß die unsterbliche Geschichte vom sinnreichen Junker aus der Mancha hier begonnen ward, da C. auch in Sevilla und in Valladolid, gleichfalls aus unbekannten Ursachen, von kurzer Freiheitsberaubung betroffen ward. Nur das wissen wir, daß 1605 der erste Teil des Romans im Druck erschien, und daß das unvergleichliche Buch sofort großen Anklang fand. Fünf Ausgaben im ersten Jahr (zwei in Madrid, zwei in Lissabon, eine in Valencia) sind ein unbestreitbarer Erfolg. Auch dramatische Bearbeitungen, Gedichte, Allusionen blieben ebensowenig aus wie Kritik, Satire, Parodien und Verleumdungen. Auf den zweiten Teil ließ C. volle zehn Jahre warten: erst als 1614 ein Aragonier unter dem Pseudonym Alonso Fernandez de Avellaneda eine geschmacklose Fortsetzung des »Don Quijote« veröffentlicht hatte (abgedruckt in der »Bibl. de Aut. Españoles«, Bd. 17), vollendete und druckte C. den zweiten Teil seines Meisterwerkes (1616). Er steht dem ersten an satirischer Kraft nach, übertrifft ihn aber an philosophischem Geist. In der Zwischenzeit war C. jedoch keineswegs müßig gewesen. Eine wichtige verbesserte Neuausgabe des ersten »Don Quijote« ließ er 1608 drucken, besorgte die Herausgabe seiner Novellen (1613), schrieb die »Reise nach dem Parnaß, eine Satire in Terzinen«, in der er sein dichterisches Glaubensbekenntnis niedergelegt und die zeitgenössischen Poeten je nach ihrem Werte mit großem Wohlwollen lobt oder milde tadelt (»Viaje del Parnaso«, 1614, neu 1879). Auch verfaßte er, sich neidlos vor dem dramatischen Genius Lopes beugend und ihm folgend, eine Reihe von Komödien und kleinen Zwischenspielen voll Laune und Witz. Das letzte Werk, an das er Hand legte, ist der Roman von den »Leiden des Persiles und der Sigismunda« (1616). Seit 1606 lebte er mit wenigen Unterbrechungen in Madrid. Seine Züge verewigte in einem Porträt der Maler Jauregui. Seine Büste (von Don [846] Antonio Sola) wurde 1835 an dem von ihm bewohnten Haus in der Calle de Cervantes (Ecke der Calle de Leon) zu Madrid aufgestellt. Seit dem 260. Jahrestage seiner Geburt feiert man in Spanien alljährlich ein Cervantesfest.

Was die Werke des C. betrifft, so sind unter den bereits genannten zwölf NovellenNovelas ejemplares«) fünf hervorzuheben: »Der freche Neugierige«, den er in den »Don Quijote« verwebt hat; »Rinconete und Cortadillo«, ein stark ausgetragenes, aber wahres Gemälde von sevillanischen Gaunern; »Die Macht des Blutes«, das interessanteste und am besten ausgeführte Stück; ferner »Das Zwiegespräch zweier Hunde«, eine ergötzliche Kritik voll Philosophie und Munterkeit; und »Die kleine Zigeunerin«, die dem deutschen Publikum durch Webers Tondichtung »Preziosa« besonders vertraut ist. Sie tragen, dem reichen Boden des Volkscharakters entsprossen, die ganze Fülle echt spanischer Lebendigkeit und Anmut an sich, wodurch sie noch heute unerreicht sind. Eine dreizehnte, etwas heikle Novelle, »Die falsche Tante«, ward später aufgefunden und wird seit 1819 mit den übrigen gedruckt. Zahllose Neuausgaben und Übersetzungen zeugen von der unverwelklichen Frische dieser Erzählungen (vgl. Apraiz, Estudio sobre las Novelas de C., Madr. 1901). Von den acht Dramen im Lopeschen Stil sind »El gallardo Español« und »Los baños de Argel« die gelesensten (erste Ausg., Madr. 1615, »Ocho Comedias y ocho Entremeses«; Neuausgabe als »Teatro Completo« 1899, Bd. 198 u. 199 der Bibl. Clasica). Höher geschätzt als die großen Dramen waren die acht kleinern, »Entremeses« genannten Stücke, die sich vielfach durch phantastische Komik bei oft drastischer Natürlichkeit auszeichnen. Die »Trabajos de Persíles y Sigismunda« sind ein langer, mit Abenteuern überladener Roman, der für uns, obschon ihn der Dichter selbst für seine beste Schöpfung hielt, nur noch literarhistorisches Interesse hat. Auch der ohne den verheißenen zweiten Teil gebliebene Schäferroman, »Galatea«, ist ein schwer genießbares, spanischen und italienischen Mustern nachgebildetes Produkt, dessen Hauptwert in den darein verwebten lyrischen Gedichten besteht (Neuausgabe 1883). Dagegen ist C. ' Hauptwerk: »El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha«, ein europäisches Buch geworden und wird es bleiben, solange die Luft an sinnreicher Erfindung, lebendiger Darstellung, poetischer Wahrheit und echtem Humor fortbesteht. Es ist zunächst eine gegen den Unsinn der Ritterromane gerichtete und diese vernichtende Satire, dann ein ironisches Spiegelbild des abenteuerlich stolzen, hochfliegenden spanischen Nationalgeistes und in noch höherm Sinn eine großartige Allegorie, welche die Gegensätze zwischen Geist und Materie, Ideal und Wirklichkeit, Poesie und Prosa zur Darstellung bringt. Treffende und konsequente Charakterzeichnung, unversiegliche Ursprünglichkeit und tiefhumoristische Lebensansicht, aus dem edelsten und mitleidigsten Gemüt entspringend, die rascheste Auffassung des komischen Elements selbst auf der Nachtseite menschlicher Erscheinungen und wiederum ein stets durchscheinendes Gefühl von echter und rechter Menschlichkeit und Liebe offenbaren sich hier auf das innigste, verbunden mit dem höchsten Zauber der Darstellung, in einer der edelsten Sprachen, deren sich je ein Volk bediente, voll Würde und Naivität. »Don Quijote« war der erste eigentliche Roman und ist zugleich einer der vollendetsten, ein Buch für alle Zeiten und Völker und gehört zu den am häufigsten gedruckten und am meisten übersetzten der Weltliteratur. In den Jahren 1605–1857 wurden erwiesenermaßen von dem Roman in Spanien selbst nicht weniger als 400 Ausgaben veranstaltet; von Übersetzungen erschienen 200 ins Englische, 168 ins Französische, 96 ins Italienische, 80 ins Portugiesische, 70 ins Deutsche, 13 ins Schwedische, 8 ins Polnische, 6 ins Dänische, 2 ins Russische und 1 ins Lateinische. In den letzten 30 Jahren haben sich die Abdrücke des Originals und seiner Übertragungen und Bearbeitungen natürlich noch beträchtlich vermehrt. Außer einer Prachtausgabe (Madr. 1780, 4 Bde.) und der von Pellicer (das. 1798, 9 Bde.) sind als die besten neuern Ausgaben zu nennen die der Akademie mit dem Leben des Dichters von Navarrete (das. 1819, 5 Bde.), die mit dem vollständigen Kommentar von Clemencin (das. 1833–39, 6 Bde.), die von Hartzenbusch (im Kellergefängnis von Argamasilla de Alba gedruckt, 1863, 4 Bde.), die von L. Ramon Mainez (mit Anmerkungen, Cadiz 1875, 2 Bde.) und die kritische von Fitzmaurice Kelly und I. Ormsby (Lond. 1896). Eine Reproduktion der ersten Ausgabe veranstaltete Lopez Fabra (Barcelona 1872, 2 Bde.). Eine gute Handausgabe ist die in Brockhaus' »Coleccion de aut. españoles« (1882, 2 Bde.) erschienene. Gesamtausgaben von C.' Werken erschienen zu Madrid 1803–1805 (16 Bde.), ohne die Komödien und ohne die »Reisenach dem Parnaß« (das. 1820, 11 Bde.). Einen Wiederabdruck sämtlicher Werke ohne die Komödien enthalten auch die »Coleccion de los mejores aut. españ.« (Par. 1840–41), Rivadeneyras »Bibl. de aut. españoles« (Madr. 1853, Bd. 1) und Fitzmaurice Kellys Ausgabe der »Complete Works« (Lond. 1901). Eine Auswahl gab Ag. Garcia de Arrieta heraus (Par. 1826–32, 10 Bde.); einen Band unveröffentlichter Werke (»Varias obras inéditas de C.«) Adolfo de Castro (Madr. 1874). Vgl. Gallardo, Ensayo de una Biblioteca española, Bd. 1 (S. 1246 bis 1404). Unter den deutschen Übersetzungen des »Don Quijote« sind hervorzuheben die von Bertuch (Leipz. 1780, 6 Bde.), Tieck (Berl. 1799–1801, 4 Bde.; 3. Aufl. 1853, 2 Bde.; mit den Zeichnungen von Doré, das. 1875), Soltau (Königsb. 1800, 6 Bde.; 2. Aufl., Leipz. 1837, 2 Bde.), Zoller (Hildburgh. 1867, 2 Bde.), Braunfels (Stuttg. 1884, 4 Bde.), E. v. Wolzogen (Berl. 1884). Der Roman »Persiles und Sigismunda« wurde von Butenschön (Heidelb. 1798; Leipz. 1837, 2 Bde.), die »Zwischenspiele« von H. Kurz (Hildburgh. 1867) verdeutscht. Eine Übersetzung sämtlicher Romane und Novellen lieferten Förster (Quedlinb. 1825, 12 Bde.), Keller und Notter (Stuttg. 1840–42, 10 Bde.); in Auswahl Baumstark (Regensb. 1868, 2 Bde.). Vgl. E. Chasles, Michel de C., sa vie, son temps, son œuvre (2. Aufl., Par. 1866); P. Mérimée, La vie et l'œuvre de C. (das. 1877); Diaz de Benjumea, La verdad sobre el Don Quijote (Madr. 1878); L. Ramon Mainez, Vida de C. (Cadiz 1878); Baumstark, Cervantes Saavedra (Freiburg 1875); A. I. Duffield, Don Quixote, his critics and his commentators, and minor works (Lond. 1881); Asensio, C. y sus obras (Madr. 1902); P. Pastor, Documentos Cervantinos (1897); L. Rius, C., Bibliogr. Critica (1900); R. Marin, Cervantes estudióen Sevilla (1900); Fitzm. Kelly, Life of Miguel de C. (1892); Dorer, C. und seine Werke nach deutschen Urteilen (mit Bibliographie, Leipz. 1881).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1905, S. 846-847.
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