Lied

[536] Lied im weitesten Sinne des Wortes ist jede für den Vortrag (sei es Gesang, sei es Rezitation) bestimmte, mit lyrischen Bestandteilen versehene Dichtung; so entstanden die großen Volksepen der meisten Kulturvölker aus einzelnen Liedern, die von fahrenden Sängern verbreitet wurden, und noch neuerdings werden in sich abgeschlossene, für den Vortrag bestimmte und teilweise lyrisch gehobene Dichtungen, wie Schillers »Glocke«, Lieder genannt. Im engern Sinne versteht man unter L. eine Hauptart der lyrischen Poesie, und wiederum eine solche, die für den Vortrag und in der Regel auch für die musikalische Komposition bestimmt erscheint: in ihr kommt das lyrische Element der Poesie reiner und als das herrschende zur Geltung, d.h. es treten die reflektierenden, beschreibenden, erzählenden und dramatischen Züge der poetischen Kunst gegenüber den Äußerungen eines schwellenden und innigen Affekts in den Hintergrund, die Gefühle, nicht die Vorstellungen, bilden den Hauptinhalt, der das poetisch gestimmte Gemüt bewegt. Aber nicht jede Art derartiger Affekte schafft die Grundlage des Liedes, sondern nur diejenige, welcher der ästhetische Charakter des Schönen oder der Sehnsucht nach dem Schönen zukommt; auf dem durch den Charakter des Erhabenen ausgezeichneten lyrischen Affekt beruht dagegen die Ode, das Seitenstück des Liedes im engern Sinne. Je nachdem das L. den Gefühlen des Einzelnen oder denen einer Gemeinschaft Ausdruck verleiht, unterscheidet man individuelle Lieder und Chorlieder; entsprechend der Tatsache, daß die Entwickelung des Gesamtbewußtseins derjenigen individueller Regungen voranzugehen pflegt, bildet sich die chorische Lyrik meist vor der individuellen aus. Mit dieser Unterscheidung chorischer und individueller Lieder kreuzt sich die der geistlichen und weltlichen. Das chorische geistliche L. ist das Kirchenlied, das individuelle wird meist schlechthin geistliches L. genannt. Lieder der ersten Art traten in deutscher Sprache zuerst im 13. Jahrh. auf; das echte deutsche Kirchenlied aber wurde erst durch Luther ins Leben gerufen, und das Beste und Meiste von dieser Art des geistlichen Liedes hat überhaupt das Reformationszeitalter hervorgebracht (s. Kirchengesang und Kirchenlied). Seit dem 17. Jahrh. hat das Kirchenlied nicht mehr recht gedeihen wollen, und selbst Gellerts beim Gottesdienst vielgesungene Lieder gehören, wie alle verwandten Dichtungen der neuern Zeit, dem geistlichen L. nur im weitern Sinn an. Die Anfänge des letztern (in deutscher Zunge) reichen in die Zeit des beginnenden Minnegesanges, aus der wir von dem Kürenberger, von Spervogel u.a. geistliche Dichtungen in Liedform besitzen. Reichlicher tritt das geistliche L. im 14. und 15. Jahrh. auf. Der fruchtbarste geistliche Liederdichter des 15. Jahrh. war Heinrich von Laufenberg. Im 17. Jahrh. ragen als Verfasser geistlicher Lieder die Katholiken Friedrich Spee und Johann Scheffler (Angelus Silesius) hervor. In der neuern und neuesten Zeit sind als bedeutendste Dichter auf diesem Gebiet außer Gellert zu nennen: Klopstock, Hermes, Hiller, Claudius, Lavater, Kosegarten, Schenkendorf, Arndt, Novalis, Spitta, Sturm, Gerok, A. Knapp sowie die Frauen Luise Hensel und Annette v. Droste-Hülshoff.[536]

Das weltliche L. tritt in den mannigfaltigsten Gattungen auf, unter denen das Liebeslied numerisch weit überwiegt. Neben ihm begegnen wir am häufigsten Trink-, Tanz-, Vaterlands-, Natur-, Wiegenliedern etc. In Deutschland erscheint das L. in Blüte seit dem 13. Jahrh. Die Erzeugnisse des Minnegesanges gehören der Mehrheit nach der Gattung des Liedes an; dagegen ist den Meistersingern die Fähigkeit, wirkliche Lieder zu dichten, nicht eigen, und bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrh. gelang es nur wenigen Kunstdichtern, den echten Liederton zu treffen. Von ihnen sind Paul Fleming, Simon Dach, Günther, Hagedorn mit besonderer Auszeichnung zu erwähnen. Im Volk selbst aber hat auch während der Zeit des Verfalls der Kunstpoesie die Freude am weltlichen L. und der schöpferische Trieb zur Hervorbringung des Volksliedes (s. d.) fortgedauert, und wir besitzen in den vortrefflichen Sammlungen von Arnim und Brentano, Uhland, Erk, Simrock, Soltau, R. v. Liliencron u.a. einen Schatz köstlicher Volkslieder, wie ihn keine andre Nation aufzuweisen hat. Die vollendetsten Schöpfungen im Bereich des Kunstliedes sind Goethes Lieder, die an Innigkeit, melodischer Klangfülle, herzbewegender Einfachheit und formeller Vollendung nicht nur in der deutschen, sondern in der Literatur aller Völker ihresgleichen suchen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. fand das L. besondere Pflege bei den Angehörigen des Göttinger Dichterbundes, namentlich durch Hölty, Voß, Bürger (Molly-Lieder) u.a.; daneben sind als treffliche Liederdichter aus gleicher Zeit zu nennen: Matth. Claudius, Salis, Maler Müller u.a. Unter den Romantikern und ihren Nachfolgern zeichneten sich als Liederdichter besonders aus: Brentano, Eichendorff, Wilh. Müller, Hauff, Uhland, Heine und Rückert, von Neuern: Hoffmann von Fallersleben, Herwegh, Geibel, Lenau, Mörike, Storm, Scheffel, Rud. Baumbach, D. v. Liliencron, Bierbaum, E. v. Wolzogen, Falke, Dehmel u.a.

Das L. in musikalischer Bedeutung ist die Verbindung eines lyrischen Gedichts mit Musik, wobei an Stelle des gesprochenen Wortes das gesungene tritt, indem die der Sprache eignen musikalischen Elemente des Rhythmus und Tonfalls zu wirklicher Musik, zur rhythmisch geordneten Melodie gesteigert werden. Das musikalische L. ist entweder Strophenlied, bei dem sämtliche oder eine Anzahl Strophen des Gedichts nach derselben Melodie gesungen werden, oder durchkomponiert, wobei jede Strophe in andrer, dem Inhalt derselben entsprechender Weise komponiert wird. Die Geschichte des musikalischen Liedes weist bisher drei Blüteperioden auf, die erste zur Zeit der Minnesinger und Troubadoure, aus der uns eine große Zahl Dichtungen nebst den Melodien erhalten sind; letztere sind nur der Tonbewegung nach notiert, der Rhythmus ist noch wie bei den Griechen (von deren Liedern und Hymnen nur wenige erhalten sind) und bei den mittelalterlichen kirchlichen Hymnen v am Metrum des Textes abhängig (vgl. Runge, »Die Sangesweisen der Colmarer Handschrift«, Leipz. 1896, und Riemann, »Die Melodik der Minnesänger«, das. 1897; im »Musikalischen Wochenblatt«). Die überaus zahlreichen Lieder der zweiten Blüteperiode im 15. 16. Jahrh. sind durchweg mehrstimmig, meist 3–4stimmig gesetzt. Der Satz ist im Anschluß an die kurzzeiligen, volksmäßigen Strophen der Texte deutlich gegliedert, und die modernen Tonarten sind bereits ziemlich scharf ausgeprägt. Besonders gilt das von den Chansons (Canzoni, Canzonette, deutsch »Liedlein«), den noch einfachern Frottolen, Villanellen, Villoten (»Gassenhäwerlin«), während die Madrigale das Kunstlied jener Zeit repräsentieren. Eine höchst bemerkenswerte Vorblüte des ein- und mehrstimmigen begleiteten Kunstliedes im 14. Jahrh. in Florenz ist erst jüngst erkannt worden (Madrigal, Caccia und Ballade; vgl. Joh. Wolf, Geschichte der Mensuralnotation, Leipz. 1905). Obgleich sich seit 1600 der begleitete Sologesang in neuer Weise entwickelte (s. Oratorium und Oper), dauerte es doch geraume Zeit, ehe derselbe auch die schlichte Form des Liedes mit neuem Leben erfüllte. Das Absterben der echten Lyrik in der Poesie mußte verhängnisvoll auch für die Liedkomposition werden. Erst als das Genie Goethes eine neue Epoche der lyrischen Dichtung heraufbeschwor, indem er die Form des Volksliedes bewußt nachbildete und damit den Komponisten (Zelter, Reichardt) die rechten Wege wies, brach ein neuer Morgen an. Doch bedurfte es der speziell für das L. begabten Naturen eines Schubert und Schumann, um den Gehalt der Goetheschen Lyrik ganz zu erschließen und den herrlichen Liederfrühling zu zeitigen, der in den Liedern eines Jensen, Franz, Brahms etc. noch heute fortblüht. Auf den Einfluß der Wagnerschen Musikdramen ist die neueste Wendung der Liedkomposition zurückzuführen, welche die Singstimme mehr auf deklamatorisches Wesen verweist und die musikalische Themengestaltung der Begleitung überträgt (Liszt, Cornelius, Al. Ritter, Hugo Wolf, H. Sommer, Richard Strauß, S. v. Hausegger, Max Reger etc.). Vgl. Schneider, Das musikalische L. in geschichtlicher Entwickelung (Leipz. 1863–65, 3 Bde.); Böhme, Altdeutsches Liederbuch (das. 1877) und Volkstümliche Lieder der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert (das. 1895); O. Lindner, Geschichte des deutschen Liedes im 18. Jahrhundert (das. 1871); Reißmann, Geschichte des deutschen Liedes (2. Aufl., Berl. 1874); Friedländer, Das deutsche L. im 18. Jahrhundert (Stuttg. 1902, 2 Bde., mit Musikbeilagen); Rietsch, Die deutsche Liedweise (Wien 1904); Kretzschmar, Geschichte des deutschen Liedes (Leipz. 1905). – L. ohne Worte ist die seit Mendelssohn sehr gebräuchliche Benennung für kürzere melodiöse Instrumentalstücke aller Art (früher Spielarie genannt).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 12. Leipzig 1908, S. 536-537.
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