Strasburg

Strasburg
Strasburg

[313] Strasburg (an der Stelle des alten Argentoratum, wie die Stadt noch auf lateinisch heißt) im Elsaß, an der Ill, [313] nicht weit von dem Einflusse derselben in den Rhein, jetzt die Hauptstadt des franz. Departements Niederrhein, war früher eine freie deutsche Reichsstadt, und blieb auch in ungeändertem Verhältnisse zum deutschen Reiche, als 1648 der Elsaß durch den westfäl. Frieden französisch wurde.

Erst 1681 bemächtigten sich die Franzosen auch der Stadt und erhielten den Besitz derselben im ryswicker Frieden (1697) bestätigt. Für unwiederbringlich verloren kann man indessen diesen Edelstein unter den Städten Deutschlands erst nach dem utrechter Frieden (1713) betrachten; denn in dem span. Erbfolgekriege waren die letzten Versuche zu ihrer Wiedergewinnung gemacht worden, wenn auch nur auf diplomatischem Wege. Für Frankreich ist S. als eine bedeutende Festung sehr wichtig. Außer den eigentlichen Festungswerken um die Stadt findet man noch eine 1684 von Vauban angelegte Citadelle, östl. derselben, welche sich bis fast zum Rheine, über den hier eine Schiffbrücke nach Kehl führt, erstreckt. Die Stadt ist unregelmäßig und altmodisch gebaut, mit engen Straßen und wenigen freien Plätzen, und hat auch nur wenige ausgezeichnete Gebäude. Unter diesen ist aber eins der großartigsten und bewunderungswürdigsten Bauwerke Europas und der ganzen Erde der berühmte Münster. Dies ist die katholische Hauptkirche mit dem schönen und schlanken Thurme, nächst der Kuppel der Peterskirche das höchste Bauwerk in Europa. Die Kirche wurde an der Stelle einer früher hölzernen und dann von Karl dem Großen zum Theil aus Stein aufgeführten in ihrer jetzigen Gestalt in den Jahren 1015–1275 gebaut. Nun fehlte noch ihre Hauptzierde, der Vorbau mit der Hauptfaçade, den Haupteingängen und den Thürmen. Der Bau desselben begann 1276, unter dem Bischofe Konrad III., durch Erwin von Steinbach (s.d.). Nach dessen Tode wurde der Bau von seinem Sohne Johann fortgesetzt, und endlich, nach mehren Unterbrechungen, 1365 von Johann Hülz aus Köln so weit vollendet, als wir ihn jetzt sehen. Hinter dem ursprünglichen Plane Erwin's ist er weit zurückgeblieben. Nicht allein, daß der zweite Thurm nur bis zur Höhe von 200 F., sodaß er sich nur wenige Fuß über die Plateform des Vorbaus erhebt, aufgeführt wurde, so hat auch der vollendete eine um 100 F. geringere Höhe, als ihm Erwin bestimmt hatte. Selbst das ungeübte Auge entdeckt dies Abgehen von der ersten Anlage an der plötzlichen Abnahme seiner Pyramide. Der Vorbau schließt sich, in der Gestalt eines Rechtecks, an die westl. schmale Seite der Kirche, deren Dach er weit überragt, und besteht aus drei Stockwerken, deren unteres den Haupteingang und die beiden Seitengänge ausmachen. Jener führt in das Schiff der Kirche, diese in die Abseiten. In dem zweiten Stockwerke befinden sich über dem Haupteingange ein radförmiges, herrlich gearbeitetes Fenster von 45 F. Durchmesser, mit gemalten Scheiben, über den Seiteneingängen eine längliche Fensteröffnung, mit schlanken Säulen davor. In dem dritten Stockwerke sind in der Mitte zwei, an jeder Seite drei ähnliche Fensteröffnungen. Das Dach des Vorbaus bildet [314] eine Plateform, die an schönen Tagen von vielen Fremden und Einheimischen besucht wird. Hier erhebt sich nun auf der nördl. Seite der Thurm bis zu einer Höhe von 443 par. F. vom Boden. Man ersteigt denselben von der Plateform aus auf den sogenannten Schneckenstiegen, welche in den vier ganz durchbrochenen Ecken des eigentlichen Körpers des Thurms angebracht sind, sodaß sie wie in der Luft zu schweben scheinen und man überall im Innern bis tief hinunter sehen kann. So gelangt man zur zweiten Plateform, von der man schon die herrlichste Aussicht über den Elsaß und das Rheinthal bis zum Schwarzwalde hat. Von hier erhebt sich in sieben Abstufungen die Pyramide, welche man auf ähnlichen Wendeltreppen ersteigt. Von da kann man noch, wiewol mit einiger Gefahr, vermittels von außen angesetzter Leitern bis zu dem Gange oder der Krone gelangen, welche den obern Theil der Spitze umgibt. [315] Dieses herrliche Gebäude nun gewährt in gleich hohem Grade Genuß und Belehrung. Genuß, weil das Ungeheure und das Zierliche daran auf eine so vollkommene Weise vereinigt sind und die Großartigkeit und die Schönheit sich gegenseitig so glücklich ergänzen und heben, wie die Kunst es nur in ihrer höchsten Entwickelung und nach der vollständigsten Bewältigung des Gegenstandes zu leisten vermag. Besonders zeigt sich diese Kunst in der Symmetrie zwischen dem Ganzen und den einzelnen Theilen und zwischen den einzelnen Theilen unter sich, welche sowol beim Eindrucke des bloßen Gefühls als beim tiefern Nachdenken darüber in Erstaunen versetzt. Eine der schönsten Zierden der Façade ist das schon erwähnte radförmige Fenster über dem Haupteingange, aber die Façade ist gleichsam ganz und gar aus solchen Zierathen zusammengesetzt, welche sich zu einem wahrhaft prachtvollen Ganzen vereinigen. Vortretende Bogen ruhen auf hohen, rohrähnlichen Säulen, Thürmchen, mannichfache Windungen, Blätterbüschel und andere Ausschmückungen sind, durchbrochen und freistehend, aus festem, hartem Steine herausgemeißelt und bilden in mannichfaltigen Verschränkungen zierliche Gruppen; einzelne Flächen sind mit sinnbildlichen und kirchengeschichtlichen Darstellungen geschmückt, Statuen von Heiligen sind unter den Spitzbogen zwischen den Säulen an den passendsten Stellen angebracht, mit Leichtigkeit strebt Alles empor, die Durchsichten und Durchbrechungen lassen das mächtige Ganze, und besonders die ungeheure Masse des Thurms sich als ein leichtes Werk spielender Anmuth erheben. Von den Zierathen, deren einige von Erwin's Tochter Sabina herrühren, sind viele zur Zeit der franz. Revolution, wo man auch daran dachte, den ganzen Thurm als einen Störer des Gleichheitsgefühls abzutragen, zerstört, später aber wiederhergestellt worden. Belehrung findet man an dem strasburger Münster besonders wegen des daran wahrzunehmenden Fortschrittes der Baukunst. Während nämlich die ältesten Theile der Kirche, namentlich der hohe Chor sowie die unterirdische Kapelle nebst dem Portale an der Südseite, noch den byzant. Styl zeigen, in kurzen, starken Säulen, mit Würfelknäufen bedeckt, in halbkreisrunden Bogen und Gewölben, und während das Schiff uns in das Zeitalter des Übergangs aus dem ältern in den neuern Styl führt, tritt in der Façade und dem Thurme der sogenannte gothische Styl in seiner größten Erhabenheit und Schönheit ein, bis derselbe in dem höchsten Theile des Thurms, in der zuletzt gebauten Pyramide, immer mehr und mehr den Charakter des Gekünstelten annimmt. So steht dies Bauwerk unter den übrigen Denkmälern der gothischen Baukunst, dem Dome in Köln, dem Dome in Freiburg, dem Stephansthurme in Wien und andern, unbestritten als das merkwürdigste da. Unter den Zierden des Innern ist besonders der Taufstein und die Kanzel, beide kunstvoll aus Stein gehauen, zu erwähnen. Die Länge des Schiffs beträgt 314 F. und die Breite 116 F. Auf dem Thurme entgegengesetzten östl. Ende des Kirchendachs befindet sich ein Telegraph. Der Thurm, an dem früher Gewitter oft große Verwüstungen angerichtet haben, ist jetzt mit einem Blitzableiter versehen. Das Material zu dem Ganzen ist feinkörniger röthlicher Sandstein, der um so besser der Zeit und dem Wetter trotzt, da vermöge der beobachteten abschüssigen Lage der Steinplatten das Wasser überall abfließen kann. Das überaus künstliche, mit vielen beweglichen allegorischen Figuren geschmückte Uhrwerk auf der Südseite der Kirche, das den Lauf der Sonne und der Planeten andeutete und 1571 vollendet wurde, ist im vorigen Jahrhunderte in Stocken gerathen. Unter den andern Kirchen S.'s ist die zu St.-Thomas die merkwürdigste, und darin besonders das von Pigal gearbeitete marmorne Grabmal des Marschalls Moritz von Sachsen sehenswerth.

Die Zahl der Einwohner von S. beläuft sich auf 50,000 (darunter über ein Drittheil Protestanten), welche viele Fabriken unterhalten in Wolle, Leinen, Fayence, Gewehren und ganz besonders in Taback. Auch die in S. verfertigten Wagen sind berühmt, und bekannt genug die strasburger Gänseleberpasteten. Unter den wissenschaftlichen Anstalten steht die Universität obenan, welche eine der besten Frankreichs ist; an diese schließen sich eine Gesellschaft der Wissenschaften, eine Artillerieschule, eine Gemäldegalerie, eine Antiquitäten- und Naturaliensammlung und zwei Bibliotheken. Auch an der Erfindung der Buchdruckerkunst (s.d.) hat S. Antheil. Die Sprache ist in S. wie im ganzen Elsaß beiweitem vorherrschend die deutsche, obwol man hier wegen der höhern Beamten und des Militairs noch verhältnißmäßig am meisten Französisch hört. Die Umgebungen der Stadt sind sehr fruchtbar und angenehm und reich an schönen Spaziergängen.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 313-316.
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