Tiermedizin

[542] Tiermedizin (Veterinärmedizin, Tierheilkunde, Tierarzneikunde, veraltet Zooiatrik), die medizinische Wissenschaft in ihrer Anwendung auf Tiere, namentlich auf die nutzbaren Haustiere. Die T. beruht auf derselben Grundlage und umfaßt dieselben Fächer wie die auf Menschen angewandte medizinische Wissenschaft; die wissenschaftliche Forschung in der einen hat sich niemals von der andern trennen lassen. Die physiologischen Versuche haben von Anfang an bis heute in erster Linie am Tiere gemacht werden müssen. Das im Altertum und Mittelalter allgemeine Verbot der Leichenöffnung veranlaßte Hippokrates, Aristoteles, Galenus u. a., anatomische Studien an Tieren zu machen, wobei sie schon manche Tierkrankheiten fanden und benannten (soz. B. Aristoteles den Rotz u. a.). Erst als Vesalius (1514–64) der Kenntnis des menschlichen Körpers die Bahn gebrochen hatte, wurde das Öffnen von Tierkadavern verschmäht, und erst jetzt entwickelte sich jenes eigentümliche Vorurteil dagegen, das schließlich in der Beschäftigung mit Tierleichen lediglich eine Henkersarbeit sehen wollte, und erst in der Neuzeit der zu einer breiten Wissenschaft erwachsenen Tiermedizin gegenüber das Feld hat räumen müssen. Eine tierärztliche Wissenschaft gab es bis zum Ende des 18. Jahrh. nicht. Zwar sind schon aus dem griechischen und römischen Altertum tierärztliche Werke überliefert (so von Vegetius im 4. Jahrh. und die vom Kaiser Konstantin Porphyrogeneta im 10. Jahrh. n. Chr. veranstalteten Sammelwerke). Jordanus Rufus, der Oberstallmeister Friedrichs II. von Deutschland, schrieb 1250: »De medicina equorum« (4 Bde.), und der Senator Ruini von Bologna gab 1598 eine mit prachtvollen Kupfern ausgestattete Anatomie des Pferdes heraus, die in ihrer Art dem Werke Vesals nicht nachsteht. Allein es gab keine Schulen zur Ausbildung von Tierärzten und jene Werke blieben daher ohne Wirkung. Die Behandlung von Tierkrankheiten blieb Hirten und Schmieden überlassen, namentlich kam die Behandlung kranker Pferde in eine immer engere Verbindung mit dem Hufbeschlag, die sich auch, namentlich in den Armeen, noch lange erhalten hat, als schon wirkliche Tierärzte ausgebildet wurden. Diese ersten Berufstierärzte hießen daher auch in Frankreich maréchal vétérinaire, in Deutschland Kurschmied. Neben jenen tierkurierenden Handwerkern befaßten sich aber namentlich literarisch mit der Haltung und daher auch mit den Krankheiten des Pferdes und deren Behandlung vornehme Herren, Gestütbesitzer, Liebhaber und Stallmeister (Stallmeisterperiode der Tierheilkunde), und namentlich aus dem 16. und 17. Jahrh. stammen eine Anzahl zum Teil prächtiger Werke, die das Pferd im ganzen und daher auch dessen Krankheiten oder auch bloß diese behandeln. Aus Deutschland sind namentlich zu nennen die Werke von Marx Fugger, Herrn v. Kirchberg und Weißenborn (Gestütkunde und Heilkunde 1578) und Simon Winter v. Adlersflügel (zahlreiche Bücher). Der kurbrandenburgische Roßarzt Böhme schrieb 1618 ein »neues und bewährtes Buch von der Roßarznei«. Ein Prachtwerk ersten Ranges schuf im 18. Jahrh. Etienne Lafosse in seinem »Cours d'hippiatrique« (1772). In dieser Zeit begann auch mit der Begründung von Unterrichtsanstalten (s. Tierärztliche Hochschulen) eine allgemeine Ausbildung von Tierärzten und eine allmähliche zusammenhängende Entwickelung einer tierärztlichen Lehre. Freilich vergingen noch einige Jahrzehnte, ehe diese Lehre über ihre empirische Wurzel hinauswuchs und der Unterricht das Handwerksmäßige abstreifte. Um eine Wissenschaft zu werden, mußte die Tierarzneikunde den Anschluß an die Medizin finden und auf der Grundlage der allgemeinen medizinischen Lehre als ein Spezialgebiet derselben ausgebaut werden. Dies erkannte[542] zuerst Gurlt als Professor der Anatomie an der Tierarzneischule zu Berlin und schuf 1822 eine Anatomie der Haustiere, ausgehend von dem streng durchgeführten Vergleich des tierischen mit dem menschlichen Körper. Die Physiologie entwickelte sich von Anfang an als Gemeingut der Medizin und T., weil die ihre Lehrsätze begründenden Versuche stets an Tieren zuerst ausgeführt werden müssen und so für die Erkenntnis des tierischen Lebens von vornherein nutzbar werden. Auf dieser wissenschaftlichen vergleichend anatomisch-physiologischen Grundlage entwickelten sich dann, von nun ab in enger Fühlung mit den Fortschritten der Menschenheilkunde, die eigentlichen tiermedizinischen, resp. chirurgischen Fächer. An Gurlts Seite wirkten dafür in Berlin Hertwig (1798–1881) und Spinola. In den 1850er Jahren trat ein allgemeines Aufblühen der Tierarzneischulen und der T. ein, in Deutschland namentlich gefördert, außer von den schon genannten, durch Friedrich Günther in Hannover (1794–1858, großer Chirurg), Haubner in Dresden (1806–82) und v. Hering in Stuttgart (1799–1881). Aus der ihnen folgenden Generation sind in Deutschland namentlich hervorgetreten Gerlach, welcher der Bahnbrecher des öffentlichen Veterinärwesens (Veterinärpolizei, Fleischbeschau und gerichtliche T.) geworden ist, Franck in München (Geburtshilfe), Fürstenberg in Eldena und Dieckerhoff in Berlin (klinische Fächer). Um die Entwickelung des gesamten Veterinärwesens in Österreich erwarb sich hohe Verdienste Röll (geb. 1818, Tierarzneischuldirektor und Ministerialreferent in Wien). Ende der 1870er Jahre war die wissenschaftliche Entwickelung der T. vollendet und es begann die moderne Epoche, die seit einem Menschenalter zu einer völligen Umgestaltung des tierärztlichen Berufes geführt hat (s. Tierarzt, Tierärztliche Hochschulen, Fleischbeschau, Gerichtliche T., Militärveterinärwesen, Veterinärpolizei, Viehseuchengesetz). die öffentlichen Aufgaben desselben sind in den Vordergrund getreten, namentlich die staatliche Tierseuchenbekämpfung und die im Interesse der menschlichen Gesundheit eingeführte, aber von Tierärzten ausgeübte Fleischbeschau. Die hygienische Kontrolle der animalischen Nahrungsmittel ist zu einem umfangreichen Spezialgebiet geworden, auf dem Medizin und T. zusammen arbeiten. Die Begründung der Bakteriologie durch Robert Koch hat auf die T. einen ebenso tiefgehenden Einfluß ausgeübt wie auf die Medizin, auch auf diesem Gebiet gehen beide Wissenschaften Hand in Hand. Die erste berühmte Arbeit Kochs (1877) betraf den Milzbrandbazillus, einen Tierseuchenerreger, der von Brauel am Veterinärinstitut zu Dorpat zuerst gesehen worden ist (1855). Es folgten die Entdeckung des Tuberkelbazillus durch Koch (1882), der infektiös für Menschen und Tiere ist, des Bazillus des (auch für Menschen höchst gefährlichen) Pferderotzes 1886 und des Schweinerotlaufes 1885. Die gesteigerte Erkenntnis des Wesens der Tierseuchen hat zu ausgiebiger Anwendung von Schutzimpfungen geführt, die namentlich beim Rotlauf einen durchschlagenden Erfolg gebracht haben. Die Tierchirurgie beobachtet mit entsprechend gesteigertem Erfolge in den Kliniken der Hochschulen alle Regeln der Antisepsis und Apsesis, die sich natürlich in der Landpraxis nicht allenthalben durchführen lassen, und auch auf dem Gebiet der innern Krankheiten sind große grundsätzliche Erfolge errungen (z. B. bei Gebärparese).

[Literatur.] Anatomie und Physiologie etc.: Ellenberger und Baum, Handbuch der vergleichenden Anatomie der Haustiere (11. Aufl., Berl. 1906); P. Martin, Lehrbuch (Stuttg. 1901–04, 2 Bde.); Struska, Lehrbuch (Wien 1903); Sußdorf, Lehrbuch (Stuttg. 1891–95); Leisering, Atlas (3. Aufl., Leipz. 1898); Schmaltz, Atlas der Anatomie des Pferdes (2. Aufl., Berl. 1905); Ellenberger u. a., Handbuch der vergleichenden Histologie und Physiologie (das. 1884–92, 2 Bde.) und Grundriß (mit Günther, 2. Aufl., das. 1901); Bonnet, Grundriß der Entwickelungsgeschichte der Haussäugetiere (das. 1891); Gurlt, Über tierische Mißgeburten (das. 1877). Pathologie etc.: Kitt, Bakterienkunde und pathologische Mikroskopie für Tierärzte (4. Aufl., Wien 1903) und Lehrbuch der pathologischen Anatomie der Haustiere (Bd. 1 in 3. Aufl., Stuttg. 1905; Bd. 2 in 2. Aufl. 1901); Jeß, Kompendium der Bakteriologie und Blutserumtherapie (2. Aufl., Berl. 1903); Dieckerhoff, Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie für Tierärzte (2 Bde. in 3. u. 2. Aufl., das. 1903–04); Friedberger u. Fröhner, Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der Haustiere (6. Aufl., Stuttg. 1904, 2 Bde.); Hutyra u. Marek, Spezielle Pathologie und Therapie der Haustiere (Jena 1905, Bd. 1); Lehrbücher der tierärztlichen Chirurgie von Möller u. Frick (Stuttg. 1900, 2 Bde.), L. Hoffmann (das. 1892, 2 Bde.), Stockfleth (deutsch von Steffen, Leipz. 1879–89, 2 Tle.; Supplement 1892), das von Bayer und Fröhner herausgegebene »Handbuch der tierärztlichen Chirurgie und Geburtshilfe« (Wien 1896 ff.); Möller, Lehrbuch der Augenheilkunde für Tierärzte (3. Aufl., Stuttg. 1898); Klinische Diagnostik der äußern Krankheiten der Haustiere (4. Aufl., das. 1903); Friedberger u. Fröhner, Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden (3. Aufl., das. 1900); Franck, Handbuch der tierärztlichen Geburtshilfe (4. Aufl. von Albrecht und Göring, Berl. 1900); Harms, Lehrbuch der tierärztlichen Geburtshilfe (3. Aufl. mit Eggeling und Schmaltz, das. 1896); Frick, Tierärztliche Operationslehre (das. 1906). – Arzneimittellehre etc.: Fröhner, Lehrbuch der Toxikologie für Tierärzte (2. Aufl., Stuttg. 1901), Arzneiverordnungslehre (3. Aufl., das. 1904), Lehrbuch der Arzneimittellehre für Tierärzte (7. Aufl., das. 1906) und Lehrbuch der allgemeinen Therapie für Tierärzte (3. Aufl., das. 1906); Dammann, Gesundheitspflege der landwirtschaftlichen Haussäugetiere (3. Aufl., Berl. 1902). – Staatsveterinärwesen: Dieckerhoff, Gerichtliche Tierarzneikunde (3. Aufl., Berl. 1902); Fröhner, Lehrbuch der gerichtlichen Tierheilkunde (2. Aufl., das. 1906); Malkmus, Handbuch der gerichtlichen Tierheilkunde (Hannov. 1907); Beyer, Viehseuchengesetze (4. Aufl., Berl. 1897); Fröhner und Wittlinger, Der preußische Kreistierarzt (das. 1904, 4 Bde.); Hafner, Das Veterinärwesen im Großherzogtum Baden (Karlsr. 1903–04, 2 Bde.); Junginger, Das Zivilveterinärwesen Bayerns (Würzb. 1889; Ergänzungsband 1897); Siedamgrotzky, Die Veterinärpolizeigesetze und Verordnungen für das Königreich Sachsen (3. Aufl., Dresd. 1896) und Schlachtversicherungsgesetze (Leipz. 1900). – Geschichte, Enzyklopädien: Eichbaum, Geschichte der Tierheilkunde (Berl. 1885); Postolka, Geschichte der Tierheilkunde (2. Aufl., Wien 1886); »Enzyklopädie der gesamten Tierheilkunde und Tierzucht« (hrsg. von Koch, das. 1884 bis 1894, 11 Bde.; kleine Ausg. als »Handwörterbuch«, 1895–1903, 2 Bde.); Schrader und Hering, Biographisch-literarisches Lexikon der Tierärzte (Stuttg. 1863); Schoetz, Literatur der Veterinärwissenschaft,[543] von 1858 ab (Berl. 1889; mit Nachträgen bis 1902). Zeitschriften: »Archiv für wissenschaftliche und praktische Tierheilkunde« (Berl., seit 1875), »Zeitschrift für Tiermedizin« (Jena, seit 1897), »Deutsche tierärztliche Wochenschrift« (Hannov., seit 1893), »Berliner tierärztliche Wochenschrift« (Berl., seit 1885), »Zeitschrift für Veterinärkunde« (das., seit 1889), »Wochenschrift für Tierheilkunde und Viehzucht« (Münch., seit 1857), »Monatshefte für praktische Tierheilkunde« (Stuttg., seit 1889), »Tierärztliches Zentralblatt« (Wien, seit 1878), »Schweizer Archiv für Tierheilkunde« (Zürich, seit 1858), »Jahresbericht über die Leistungen auf dem Gebiete der Veterinärmedizin« (hrsg. von Ellenberger und Schütz, Berl., seit 1882).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 542-544.
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