Künste; Schöne Künste

[609] Künste; Schöne Künste.

Der, welcher diesen Künsten zuerst den Namen der schönen Künste gegeben hat, scheint eingesehen zu haben, daß ihr Wesen in der Einwebung des Angenehmen in das Nützliche, oder in Verschönerung der Dinge bestehe, die durch gemeine Kunst erfunden worden. In der That läßt sich ihr Ursprung am natürlichsten aus dem Hang, Dinge, die wir täglich brauchen, zu verschönern, begreifen. Man hat Gebäude gehabt, die blos nützlich waren, und eine Sprache zum nothdürftigen Gebrauche, ehe man daran dachte, jene durch Ordnung und Symmetrie, diese durch Wohlklang angenehmer zu machen.

Also hat ein, feineren Seelen angebohrner Trieb zu sanften Empfindungen, alle Künste veranlasset. Der Hirte, der zuerst seinem Stok, oder Becher eine schöne Form gegeben, oder Zierrathen daran geschnitzt hat, ist der Erfinder der Bildhauerey; und der Wilde, dem ein glüklicheres Genie eingegeben hat seine Hütte ordentlich einzurichten und ein schikliches Verhältniß der Theile daran zu beobachten, hat die Baukunst erfunden. Der sich zuerst bemühet hat, das, was er zu erzählen hatte, mit Ordnung und Annehmlichkeit zu sagen, ist unter seinem Volke der Urheber der Beredsamkeit.

In dieser Verschönerung aller dem Menschen nothwendiger Dinge, und nicht in einer unbestimmten Nachahmung der Natur, wie so vielfältig gelehret wird, ist also auch das Wesen der schönen Künste zu suchen.

Aus jenen schwachen in der Natur liegenden Keimen hat der menschliche Verstand durch wohl überlegte Wartung nach und nach die schönen Künste selbst heraus getrieben, und zu fürtreflichen, mit den herrlichsten Früchten prangenden Bäumen, gezogen. Es ist mit den Künsten, wie mit allen menschlichen Erfindungen. Sie sind oft ein Werk des Zufalles und in ihrem ersten Anfange sehr geringe; aber durch allmählige Bearbeitung bekommen sie eine Nutzbarkeit, die sie höchst wichtig macht. [609] Die Geometrie war im Anfange nichts, als eine sehr rohe Feldmesserey, und die Astronomie eine, aus bloßer Neugier entstandene Beschäftigung müßiger Menschen. Zu der Höhe und dem ausnehmenden Nutzen, den diese Wissenschaften dem menschlichen Geschlechte leisten, sind sie durch anhaltende, vernünftige Erweiterung ihrer ursprünglichen Anlage, gestiegen.

Wenn wir also gleich mit völliger Zuversichtlichkeit wüßten, daß die schönen Künste in ihren Anfängen nichts anders, als Versuche gewesen, das Aug oder andre Sinnen zu ergötzen, so sey es ferne von uns, daß wir darinn ihre ganze Nutzbarkeit und ihren höchsten Zwek suchen sollten. Wir müssen, um von dem Werthe des Menschen richtig zu urtheilen, ihn nicht in der ersten Kindheit, sondern in dem vollen männlichen Alter betrachten.

Hier ist also zuerst die Frage zu untersuchen, was die Künste in ihrem ganzen Wesen seyn können, und was von ihnen zum Nutzen der Menschen zu erwarten sey. Wenn schwache, oder leichtsinnige Köpfe uns sagen, sie zielen blos auf Ergötzlichkeit ab, und ihr letzter Endzwek sey die Belustigung der Sinne und Einbildungskraft, so wollen wir erforschen, ob die Vernunft nichts grösseres darinn entdecke. Wir wollen sehen, wie weit die Weisheit den Hang zur Kunst gebohrnen Menschen, alles reizend zu machen, und die bey allen Menschen sich zeigende Anlage vom Schönen gerührt zu werden, nutzen könne.

Es ist nicht nothwendig, daß wir uns, um diese Absicht zu erreichen, in tiefsinnige und weitläufige Untersuchungen einlassen. Wir finden in der Beobachtung der Natur einen weit näheren Weg, das, was wir suchen, zu entdeken. Sie ist die erste Künstlerin, und in ihren wunderbaren Veranstaltungen entdeken wir alles, was den menschlichen Künsten die höchste Vollkommenheit und den größten Werth geben kann.

In der ganzen Schöpfung stimmt alles darinn überein, daß das Aug und die andern Sinnen von allen Seiten her durch angenehme Eindrüke gerührt werden. Jedes zu unserm Gebrauch dienende Wesen hat ausser seiner Nutzbarkeit auch Schönheit. Selbst die, welche uns nicht unmittelbar angehen, scheinen blos darum, weil wir sie täglich vor Augen haben, nach schönen Formen gebildet und mit schönen Farben bekleidet zu seyn.

Ohne Zweifel wollte die Natur durch die von allen Seiten auf uns zuströhmenden Annehmlichkeiten unsre Gemüther überhaupt zu der Sanftmuth und Empfindsamkeit bilden, wodurch das rauhe Wesen, das eine übertriebene Selbstliebe und stärkere Leidenschaften geben, mit Lieblichkeit gemäßiget wird. Diese Schönheiten sind einer in uns liegenden feineren Empfindsamkeit angemessen; durch den Eindruk, den die Farben, Formen und Stimmen der Natur auf uns machen, wird sie beständig gereizt, und dadurch wird ein zarteres Gefühl in uns rege, Geist und Herz werden geschäftiger und nicht nur die gröbern Empfindungen, die wir mit den Thieren gemein haben, sondern auch die sanften Eindrüke werden in uns würksam. Dadurch werden wir zu Menschen; unsre Thätigkeit wird vermehret, weil wir mehrere Dinge interessant finden, es entsteht eine allgemeine Bestrebung aller in uns liegenden Kräfte, wir heben uns aus dem Staub empor, und nähern uns dem Adel höherer Wesen. Wir finden nun die Natur nicht mehr zu der bloßen Befriedigung unsrer thierischen Bedürfnisse, sondern zu einem feinern Genuß und zu allmähliger Erhöhung unsers Wesens eingerichtet.

Aber bey dieser allgemeinen Verschönerung der Schöpfung überhaupt, hat die Natur es noch nicht bewenden lassen. Vorzüglich hat diese zärtliche Mutter den vollen Reiz der Annehmlichkeit in die Gegenstände gelegt, die uns zur Glükseligkeit am nöthigsten sind. Sie wendet Schönheit und Häßlichkeit an, um uns das Gute und Böse kennbar zu machen; jenem giebt sie einen höhern Reiz, damit wir es lieben; diesem eine widrige Kraft, daß wir es verabscheuen. Was ist zum Glük des Menschen und zu Erfüllung seiner wichtigsten Bestimmung nothwendiger, als die gesellschaftlichen Verbindungen mit andern Menschen, die durch gegenseitig verursachtes Vergnügen geknüpft wird? Besonders die seelige Vereinigung, wodurch der auch in der grössern Gesellschaft noch einzele Mensch eine, ihm so unentbehrliche Mitgenoßin aller seiner Güter findet, die seine Freuden durch den Mitgenuß vergrössert, seinen Kummer mildert, und alle seine Mühe erleichtert? Und wohin hat die Natur mehr Annehmlichkeit und mehr Reiz gelegt, als in die menschliche Gestalt, wodurch die stärksten Bande der Sympathie geknüpft werden? Aber die höchsten Reizungen der Schönheit finden sich da, wo sie, um die seeligsten Verbindungen zu bewürken, am nöthigsten waren. Die stärksten aller anziehenden [610] Kräfte, Vollkommenheit des Geistes und Liebenswürdigkeit des Herzens, sind der todten Materie selbst eingepräget.1

Aber auch dieses müssen wir nicht übersehen, daß die Natur dem, was unmittelbar schädlich ist, eine widrige zurücktreibende Kraft mitgetheilet hat. Die den Geist erdrükende Dummheit, eine verkehrte Sinnesart und Bosheit des Herzens, hat sie mit eben so eindringenden, aber Ekel oder Abscheu erwekenden Zügen, auf das menschliche Gesicht gelegt, als die Güte der Seele. Also greift sie unser Herz durch die äussern Sinne auf eine doppelte Weise an; sie reizet uns zum Guten und schrekt uns vom Bösen ab.

Dieses Verfahren der Natur läßt uns über den Charakter und die Anwendung der schönen Künste, keinen Zweifel übrig. Indem der Mensch menschliche Erfindungen verschönert, muß er das thun, was die Natur durch Verschönerung ihrer Werke thut.

Die allgemeine Bestrebung der schönen Kunst muß also dahin abzielen, alle Werke der Menschen in eben der Absicht zu verschönern, in welcher die Natur die Werke der Schöpfung verschönert hat. Sie muß der Natur zu Hülfe kommen, um alles, was wir zu unsern Bedürfnissen selbst erfunden haben, um uns her zu verschönern. Ihr kommt es zu, unsre Wohnungen, unsre Gärten, unsre Geräthschaften, besonders unsre Sprache, die wichtigste aller Erfindungen, mit Anmuth zu bekleiden, so wie die Natur allem, was sie für uns gemacht hat, sie eingepräget hat. Nicht blos darum, wie man sich vielfältig fälschlich einbildet, daß wir den kleinen Genuß einer grössern Annehmlichkeit davon haben, sondern daß durch die sanften Eindrüke des Schönen, des Wohlgereimten und Schiklichen unser Geist und Herz eine edlere Wendung bekommen.

Noch wichtiger aber ist es, daß die schönen Künste auch nach dem Beyspiele der Natur die wesentlichsten Güter, von denen die Glükseeligkeit unmittelbar abhängt, in vollem Reize der Schönheit darstellen, um uns eine unüberwindliche Liebe dafür einzuflössen. Cicero scheinet irgendwo2 den Wunsch zu äussern, daß er seinem Sohne das Bild der Tugend in sichtbarer Gestalt darstellen könnte, weil dieser alsdann sich mit unglaublicher Leidenschaft in sie verlieben würde. Diesen wichtigen Dienst können in der That die schönen Künste uns leisten. Wahrheit und Tugend, die unentbehrlichsten Güter der Menschen, sind der wichtigste Stoff, dem sie ihre Zauberkraft in vollem Maaße einzuflössen haben.

Auch darin müssen sie ihrer großen Lehrmeisterin nachfolgen, daß sie allem, was schädlich ist, eine Gestalt geben, die lebhaften Abscheu erwekt. Bosheit, Laster, und alles, was dem sittlichen Menschen verderblich ist, muß durch Bearbeitung der Künste eine sinnliche Form bekommen, die unsre Aufmerksamkeit reizt, aber so, daß wir es recht in die Augen fassen, um einen immerwährenden Abscheu davor zu bekommen. Dieses unvergleichliche Kunststük hat die Natur zu machen gewußt. Wer kann sich enthalten, Menschen von recht verworfener Physionomie, mit eben der neugierigen Aufmerksamkeit zu betrachten, die wir für Schönheit selbst haben? Die Lehrerinn der Künstler wollte, daß wir von dem Bösen das Auge nicht eher abwenden sollten, als bis es den vollen Eindruk des Abscheues erregt hätte.

In diesen Anmerkungen liegt alles, was sich von dem Wesen, dem Zwek und der Anwendung der schönen Künste sagen läßt. Ihr Wesen besteht darinn, daß sie den Gegenständen unsrer Vorstellung sinnliche Kraft einprägen; ihr Zwek ist lebhafte Rührung der Gemüther, und in ihrer Anwendung haben sie die Erhöhung des Geistes und Herzens zum Augenmerke. Jeder dieser drey Punkte verdient näher bestimmt und erwogen zu werden.

Daß das Wesen der schönen Künste in Einprägung sinnlicher Kraft bestehe, zeiget sich in jedem Werke der Kunst, das diesen Namen verdienet. Wodurch wird eine Rede zum Gedichte, oder der Gang eines Menschen zum Tanze? Wenn verdienet eine Abbildung den Namen des Gemähldes? Das anhaltende Klingen eines Instrumentes den Namen eines Tonstüks? Und wie wird ein Haus zu dem Werke der Baukunst? Jedes dieser Dinge wird alsdann von den schönen Künsten als ihr Werk angesehen, wenn es durch die Bearbeitung des Künstlers unsre Vorstellungskraft mit sinnlichem Reize an sich loket. Der Geschichtschreiber erzählt eine geschehene Sache nach der Wahrheit, wie sie sich zugetragen hat; der Dichter aber so, wie er glaubet, daß sie nach seinen Absichten uns am lebhaftesten rühre. Der gemeine Zeichner stellt uns einen sichtbaren Gegenstand in der völligen Richtigkeit vor Augen; der Mahler aber so, wie es unsre äussern [611] und innern Sinnen auf das kräftigste reizet. Wenn der gemeine Mensch die in ihm sitzende Empfindung unüberlegt durch Gang und Gebehrden äussert; so giebt der Tänzer diesem Gang und diesen Gebehrden Schönheit und Ordnung. Also bleibet über das Wesen der schönen Künste kein Zweifel übrig.

Eben so gewiß besteht ihr unmittelbarer erster Zwek in einer lebhaften Rührung. Sie begnügen sich nicht damit, daß wir das, was sie uns vorlegen, schlechtweg erkennen, oder deutlich fassen; es soll Geist und Herz in einige Bewegung setzen. Darum bearbeiten sie jeden Gegenstand so, wie er den Sinnen und der Einbildungskraft am meisten schmeichelt. Selbst da, wo sie schmerzhafte Stacheln in die Seele steken wollen, schmeicheln sie dem Ohr durch Wolklang und Harmonie, dem Auge durch schöne Formen, durch reizende Abwechslung des Lichts und Schattens und durch den Glanz der Farben. Sie lachen selbst da, wo sie unser Herz mit Bitterkeit erfüllen wollen. Dadurch zwingen sie uns, uns den Eindrücken der Gegenstände zu überlassen, und bemächtigen sich also aller sinnlichen Kräfte der Seele. Sie sind die Syrenen, deren Gesang niemand zu widerstehen vermag.

Aber diese Feßlung der Gemüther ist noch einem höhern Zwecke untergeordnet, der nur durch eine gute Anwendung der Zauberkraft der schönen Künste erreicht wird. Ohne diese Lenkung zum höhern Zweck, wären die Musen verführerische Buhlerinnen. Wer kann einen Augenblick daran zweifeln, daß die Natur das Gefühl des sinnlichen Reizes unserm Geist nicht in einer höhern Absicht gegeben, als uns zu schmeicheln, oder uns blos zum unüberlegten Genuß desselben zu locken? Wenn sich kein Mensch untersteht zu behaupten, daß die Natur uns das Gefühl des Schmerzens, in der Absicht gegeben habe, uns zu quälen; so muß man sich auch nicht einbilden, daß das Gefühl des Angenehmen, blos einen vorübergehenden Kützel zur letzten Absicht habe. Nur schwachen Köpfen kann es unbemerkt bleiben, daß in der ganzen Natur alles auf Vollkommenheit und Würksamkeit abzielt. Und nur durchaus leichtsinnige Künstler können sich einbilden, ihren Beruf erfüllt zu haben, wenn sie ohne ein höheres Ziel die sinnlichen Kräfte der Seele mit angenehmen Bildern gereizt haben.

Wir haben vorher angemerkt, was auch ohnedem offenbar am Tage liegt, wozu die Natur den Reiz der Schönheit anwendet. Ueberall ist sie das Zeichen und die Lockspeise des Guten. So bedienen sich auch die schönen Künste ihrer Reizungen, um unsre Aufmerksamkeit auf das Gute zu ziehen und uns mit Liebe für dasselbe zu rühren. Nur durch diese Anwendung werden sie dem menschlichen Geschlecht wichtig und verdienen die Aufmerksamkeit des Weisen und die Pflege des Regenten. Durch die Vorsorge einer weisen Politik, werden sie die vornehmsten Werkzeuge zur Glükseligkeit der Menschen.

Man setze, daß die schönen Künste in der Vollkommenheit, deren sie fähig sind, bey einem Volke eingeführt und allgemein worden seyen, und überlege, was für mannigfaltige Vortheile ihm daher zufließen würden. Alles was man in einem solchen Lande um sich sieht, und was man höret, hat das Gepräge der Schönheit und Anmuthigkeit. Die Wohnplätze der Menschen, ihre Häuser, alles was sie brauchen, was sie um sich und an sich haben, und fürnehmlich das unentbehrliche und wunderbare Werkzeug, seine Gedanken und Empfindungen andern mitzutheilen, ist hier durch den Einfluß des guten Geschmaks und Bearbeitung des Genies schön und vollkommen. Nirgend kann sich das Auge hinwenden, und nichts kann das Auge vernehmen, daß nicht zugleich die innern Sinnen von dem Gefühl der Ordnung, der Vollkommenheit, der Schiklichkeit gerührt werde. Alles reizt den Geist zu Beobachtung solcher Dinge, wodurch er selbst seine Ausbildung bekommt, und alles flößet dem Herzen durch die angenehmen Empfindungen, die von jedem Gegenstand erwekt werden, ein sanftes Gefühl ein. Was in den paradiesischen Gegenden des Erdbodens die Natur thut, das thun die schönen Künste da, wo sie sich in ihrem unverdorbenen Schmuk zeigen.3 In dem Menschen, dessen Geist und Herz so unaufhörlich von allen Arten des Vollkommenen gereizt und gerührt werden, entsteht nothwendig eine Entwiklung und allmählige Verfeinerung aller Seelenkräfte. Die Dummheit und Unempfindlichkeit des rohen natürlichen Menschen verschwindet nach und nach; und aus einem Thier, das vielleicht eben so wild war, als irgend ein anderes, wird ein Mensch gebildet, dessen Geist reich an Annehmlichkeiten und dessen Gemüthsart liebenswürdig ist. [612] So wenig es erkannt wird, so wahr ist es, daß der Mensch das wichtigste seiner innern Bildung dem Einflusse der schönen Künste zu danken hat. Wenn ich auf der einen Seite den Muth und die Vernunft bewundre, womit die alten cynischen Philosophen unter einem durch den Mißbrauch der schönen Künste in Ueppigkeit und Weichlichkeit versunkenen Volke, wieder gegen den ursprünglichen Zustand der rohen Natur zurückgekehret sind; so erregt auf der andern Seite ihr Undank gegen die schönen Künste meinen Unwillen. Woher hattest du Diogenes den feinen Witz, womit du die Thorheiten deiner Mitbürger so schneidend verspottetest? Woher kam dir das feine Gefühl, daß dir jede Thorheit, wenn sie auch die völlige Gestalt der Weisheit an sich hatte, so lebhaft zu empfinden gab? Wie konntest du dir einbilden, in Athen oder Corinth, völlig zu der rohen Natur zurücke zu kehren? Ist es nicht offenbar widersprechend, in einem Lande, wo die schönen Künste ihren vollen Einfluß schon verbreitet haben, ein Cyniker seyn zu wollen? Erst hättest du durch einen Trunk aus dem Lethe in deinem Geist und in deinem Herzen jeden Eindruk der schönen Künste auslöschen sollen; alsdann aber hättest du nicht mehr unter den Griechen leben können; sondern hättest dein Faß bis zu der kleinsten und verächtlichsten Horde der scythischen Völker hinwälzen müssen, um einen Aufenthalt zu finden, wo du nach deinen Grundsätzen denken und leben konntest. Und du besserer Diogenes unter den neuern Griechen, verehrungs- und bewundrungswürdiger Rousseau, hättest den Musen erst alles zurücke geben sollen, was du ihnen schuldig bist, ehe du deine öffentliche Anklage gegen sie vorbrachtest. Dann würde sie gewiß niemanden gerührt haben. Dein sonst großes Herz fühlte nicht, wie viel du denen zu danken hast, die du des Landes verweisen wolltest.

Diese Anmerkungen gehen nur auf die allgemeineste Würkung der schönen Künste überhaupt, die in einer verfeinerten Sinnlichkeit, in dem, was man den Geschmak am Schönen nennt, bestehet. Und dieses allein wäre schon hinlänglich, den dankbaren Menschen zu vermögen, den Musen Tempel zu bauen und Altäre aufzurichten. Ein Volk, das den Geschmak am Schönen besitzt, besteht, überhaupt betrachtet, immer aus vollkommnern Menschen, als das, welches den Einfluß des Geschmaks noch nicht empfunden hat.

Und doch ist dieser höchstschätzbare Einfluß der schönen Künste nur noch als eine Vorbereitung zu ihrer höhern Nutzbarkeit anzusehen; sie tragen herrlichere Früchte, die aber nur auf diesem durch den Geschmak bearbeiteten Boden wachsen können.4 Ein Volk, das glüklich seyn soll, muß zuerst gute, seiner Größe und seinem Lande angemessene Gesetze haben. Diese sind ein Werk des Verstandes. Dann müssen gewisse Grundbegriffe, gewisse Hauptvorstellungen, die den wahren Nationalcharakter unterstützen, jedem einzelen Bürger, so lebhaft als möglich ist, immer gegenwärtig seyn, damit er seinen Charakter beständig behaupte. Bey grössern Gelegenheiten aber, wo Trägheit und Leidenschaft sich der Pflicht widersetzen, müssen Mittel vorhanden seyn, dieser höhern Reiz zu geben. Diesen Dienst können die schönen Künste leisten. Sie haben tausend Gelegenheiten jene Grundbegriffe immer zu erweken und unauslöschlich zu machen; und nur sie können, bey jenen besondern Gelegenheiten, da sie einmal das Herz zur feinen Empfindsamkeit schon vorbereitet haben, durch innern Zwang den Menschen zu seiner Pflicht anhalten. Nur sie können, vermittelst besonderer Arbeiten, jede Tugend, jede Empfindung eines rechtschaffenen Herzens, jede wohlthätige Handlung in ihrem vollen Reize darstellen. Welche empfindsame Seele wird ihnen widerstehen können? Oder wenn sie ihre Zauberkraft anwenden, uns die Bosheit, das Laster, jede verderbliche Handlung in der Häßlichkeit ihrer Natur und in der Abscheulichkeit ihrer Folgen darzustellen; wer wird sich noch unterstehen dürfen, nur einen Funken dazu in seinem Herzen glimmen zu lassen.

In Wahrheit, aus dem Menschen, dessen Einbildungskraft zum Gefühle des Schönen, und dessen Herz zur Empfindsamkeit des Guten hinlänglich gestimmt ist, kann man durch eine weise Anwendung der schönen Künste alles machen, dessen er fähig ist. Der Philosoph darf nur die von ihm entdekten praktischen Wahrheiten, der Stifter der Staaten seine Gesetze, der Menschenfreund seine Entwürfe, dem Künstler übergeben. Der gute Regent kann ihm seine Anschläge, dem Bürger sein wahres Interesse werth zu machen, nur mittheilen; er, den die Musen lieben, wird, wie ein andrer Orpheus, die Menschen selbst wider ihren Willen, aber mit sanftem liebenswürdigen Zwange, zu fleißiger Ausrichtung [613] alles dessen bringen, was zu ihrer Glükseeligkeit nöthig ist.

Also müssen wir die schönen Künste, als die nothwendigen Gehülfen der Weisheit ansehen, die für das Wohlseyn der Menschen sorget. Sie weiß alles, was der Mensch seyn soll; sie zeichnet den Weg zur Vollkommenheit und der nothwendig damit verbundenen Glückseligkeit. Aber die Kräfte, diesen oft steilen Weg zu besteigen, kann sie nicht geben; die schönen Künste machen ihn eben, und bestreuen ihn mit Blumen, die durch den lieblichsten Geruch den Wanderer zum weitern Fortgehen unwiderstehlich anlocken.

Und dieses sind nicht etwa rednerische Lobeserhebungen, die nur auf einen Augenblik täuschen und wie leichter Nebel verschwinden, wenn die Strahlen der Vernunft darauf fallen; es ist der menschlichen Natur gemäß; der Verstand würkt nichts als Kenntniß, und in dieser liegt keine Kraft zu handeln. Soll die Wahrheit würksam werden, so muß sie in Gestalt des Guten nicht erkannt, sondern empfunden werden, denn nur dieses reizt die Begehrungskräfte. Dieses sahen selbst die Stoiker ein, obgleich ihre Grundmaxime war, alle Empfindung zu verbannen, und die ganze Seele blos zu Vernunft zu machen.5 Dennoch war ihre Physiologie6 voll von Bildern und Erdichtungen, die durch die Einbildungskraft die Empfindung rege machen sollten; und keine andre Sekte war sorgfältiger als diese, die Aussprüche der Vernunft mit ästhetischer Kraft zu beleben. Der rohe Mensch ist blos grobe Sinnlichkeit, die auf das thierische Leben abzielt; der Mensch, den der Stoiker bilden wollte, aber nie gebildet hat, wäre blos Vernunft, ein blos erkennendes und nie handelndes Wesen; der aber, den die schönen Künste bilden, steht zwischen jenen beyden gerad in der Mitte; seine Sinnlichkeit besteht in einer verfeinerten innern Empfindsamkeit, die den Menschen für das sittliche Leben würksam macht.

Aber wir müssen alles gestehen. Die reizende Kraft der schönen Künste kann leicht zum Verderben der Menschen gemißbraucht werden; gleich jenem paradiesischen Baum, tragen sie Früchte des Guten und des Bösen, und ein unüberlegter Genuß derselben kann den Menschen ins Verderben stürzen. Die verfeinerte Sinnlichkeit kann gefährliche Folgen haben, wann sie nicht unter der beständigen Führung der Vernunft angebauet wird. Die abentheuerlichen Ausschweifungen der verliebten, oder politischen, oder religiösen Schwärmereyen, der verkehrte Geist fanatischer Sekten, Mönchs-Orden und ganzer Völker, was ist er anders, als eine von Vernunft verlassene und dabey noch übertriebene feinere Sinnlichkeit. Und auch daher kommt die sybaritische Weichlichkeit, die den Menschen zu einem schwachen, verwöhnten und verächtlichen Geschöpfe macht. Es ist im Grund einerley Empfindsamkeit, die Helden und Narren, Heilige und verruchte Bösewichter bildet.

Und wann die Kraft der schönen Künste in verrätherische Hände kommt, so wird das herrlichste Gesundheitsmittel zum tödtlichen Gifte, weil die liebenswürdige Gestalt der Tugend auch dem Laster eingeprägt wird. Dann läuft der betrogene Mensch im Schwindel der Trunkenheit gerade in die Arme der Verführerin, wo er seinen Untergang findet. Darum müssen die Künste in ihrer Anwendung nothwendig unter der Vormundschaft der Vernunft stehen.

Wegen ihres ausnehmenden Nutzens verdienen sie von der Politik durch alle ersinnliche Mittel unterstützt und ermuntert, und durch alle Stände der Bürger ausgebreitet zu werden; und wegen des Mißbrauchs, der davon gemacht werden kann, muß eben diese Politik sie in ihren Verrichtungen einschränken. Schon allein in Rüksicht auf die Vortheile des guten und den Schaden des schlechten Geschmaks sollte eine wahrhaftig weise Gesetzgebung keinem Bürger erlauben, durch seine Häuser oder Gärten, wo von außen und innen anlokende Pracht, aber zugleich Mangel der Ueberlegung, Unschiklichkeit, Thorheit, oder gar Wahnwitz herrscht, den Geschmak seiner Mitbürger zu verderben. Keinem Künstler sollte erlaubt seyn seine Kunst zu treiben, bis er außer den Proben seiner Kunst, auch Proben [614] von Verstand und rechtschaffenen Gesinnungen gegeben hat.7 Es muß dem Gesetzgeber eine wichtige Angelegenheit seyn, daß nicht nur öffentliche Denkmäler und Gebäude, sondern jeder sichtbare Gegenstand selbst aller mechanischen Künste das Gepräge des guten Geschmaks trage; so wie man dafür sorget, daß nicht nur das Geld, sondern auch die metallenen Geräthschaften, das Gepräge der ächten Haltung bekommen. Ein weiser Regent sorget nicht blos dafür, daß öffentliche Feste und Feyerlichkeiten und öffentliche Gebräuche, sondern selbst jedes häusliche Fest, jeder Privatgebrauch, durch den Einfluß der schönen Künste kräftiger und vortheilhafter auf die Gemüther der Bürger würke.

Vornehmlich aber verdienet das allgemeineste und wichtigste Instrument unsrer vornehmsten Verrichtungen, die Sprache, eine besondere Aufmerksamkeit derer, denen die Besorgung der Wohlfahrt der Bürger anvertrauet ist. Es ist einer ganzen Nation höchst nachtheilig, wenn ihre Sprache barbarisch, ungelenkig, zum Ausdruke feinerer Empfindungen und scharfsinniger Gedanken ungeschikt ist. Wächst nicht Vernunft und guter Geschmak, und wird nicht ihr Gebrauch gerad in dem Maaße erleichtert, nach welchem die Vollkommenheit der Sprache gemessen wird? Denn im Grunde ist sie nichts anders, als Vernunft und guter Geschmak in körperliche Zeichen verwandelt. Warum sollte denn eine so gar wichtige Sache dem Zufall überlassen oder gar der Verpfuschung jedes wahnwitzigen Kopfes Preis gegeben werden. Wenn es wahr ist, daß die so berühmte Academie der Vierziger in Paris, blos darum gestiftet worden, daß durch die Verbesserung der Sprache der Ruhm der französischen Ration sollte ausgebreitet werden, so hat der Stifter die Sache in dem schwächesten Lichte gesehen. Hier war mehr als Ruhm und Schimmer zu gewinnen. Ausbreitung und Vermehrung der Vernunft und des guten Geschmaks für die ganze Nation.8 Fast alle Künste vereinigen ihre Würkung in den Schauspielen, daraus allein könnte das fürtreflichste aller Mittel, den Menschen zu erhöhen, gemacht werden, und doch ist es an den meisten Orten gerade das, was Geschmak und Sitten am meisten verderbt. Sollten nicht gegen die Verfälschung der Kunst Strafgesetze gemacht seyn, wie gegen die Verfälschung des Geldes? Wie können die schönen Künste ihre wahre Nutzbarkeit erreichen, wenn jedem Thoren erlaubt ist, sie zu mißbrauchen.

Wenn sie, so wie sie in ihrer Natur sind, als Mittel zur Beförderung der menschlichen Glückseligkeit sollen gebraucht werden, so muß nothwendig ihre Ausbreitung bis in die niedrigen Hütten der gemeinesten Bürger dringen, und ihre Anwendung, als ein wesentlicher Theil in das politische System der Regierung aufgenommen werden, und ihnen gehört ein Antheil an den Schätzen, die durch die Arbeitsamkeit des Volks, zu Bestreitung des öffentlichen Aufwandes jährlich zusammen getragen werden.

Dieses wird freylich manchen vermeinten Staatsweisen wenig einleuchten, und Philosophen selbst werden solche Vorschläge für Hirngespinste halten. In der That sind sie es, so lange wir den gegenwärtigen Geist der meisten politischen Verfassungen, als etwas in seinen Grundsätzen unveränderliches voraussetzen. Wo äußere Macht, baarer Reichthum, und das, was beyde befördert, für die erste Angelegenheit des Staates gehalten werden, so rathen wir die schönen Künste zu verbannen, und rufen denen, die die Geschäfte des Staates verwalten, mit dem römischen Dichter zu:


O! Cives cives, quaerenda pecunia primum est

Virtus post nummos.


Es kann von einigem Nutzen seyn, wenn wir eine kurze Abbildung des Schiksals der schönen Künste, und ihres gegenwärtigen Zustandes machen, [615] und es gegen das Gemählde halten, das wir nach dem Ideal derselben, so eben entworfen haben.

Man muß sich nicht einbilden, daß die Künste, wie gewisse mechanische Erfindungen, durch einen glüklichen Zufall, oder durch methodisches Nachdenken von Männern von Genie erfunden worden, und sich von dem Ort ihrer Geburt aus in andre Länder verbreitet haben. Sie sind in allen Ländern, wo die Vernunft zu einiger Entwiklung gekommen ist, einheimische Pflanzen, die ohne mühsames Warten hervorwachsen; aber so, wie die Früchte der Erde, nehmen sie nach Beschaffenheit der Himmelsgegend, wo sie aufkeimen, und der Wartung, die auf sie gewendet wird, sehr verschiedene Formen an, bleiben in wilden Gegenden unansehnlich und von geringem Werthe.

So wie noch gegenwärtig jedes Volk der Erde, das den Verstand gehabt hat, sich aus der ersten Wildheit herauszuwinden, Musik, Tanz, Beredsamkeit und Dichtkunst kennet, so ist es ohne Zweifel in allen Zeitaltern gewesen, seitdem die Menschen zu einer vernunftmäßigen Besonnenheit gekommen sind. Man hat nicht nöthig, um die schönen Künste in ihrem ersten Ursprunge und in ihrer rohesten Gestalt zu sehen, durch die Geschichte der Menschen, bis in das finstere Alterthum herauf zu steigen; sie sind bey den ältesten Aegyptern und Griechen das gewesen, was sie noch itzt bey den Huronen sind. Der allgemeine Hang der Menschen, die Gegenstände sinnlicher Eindrüke, die sie in ihrer Gewalt haben, zu verfeinern und angenehmer zu machen, ist jedem Beobachter des menschlichen Genies bekannt. Wie dieser durch natürliche und zufällige Veranlassungen, die ersten rohen Versuche in jedem Zweige der Kunst hervorgebracht habe, läßt sich leicht begreifen, und ist in einigen Artikeln dieses Werks, besonders in denen über die einzelen Künste9 etwas näher entwikelt worden.

Man findet nicht blos die Hauptzweige der schönen Künste, wenigstens im ersten Keime, sondern sogar einzele Sprößlinge derselben bey Völkern die keine mittelbare oder unmittelbare Gemeinschaft mit einander gehabt haben. Man weiß, daß die Chineser ihre Comödie und ihre Tragödie haben, und selbst die ehemaligen Einwohner in Peru hatten diese doppelte Art des Schauspiels, da sie in der einen die Thaten ihrer Yucas, in der andern die Scenen des gemeinen Lebens vorstellten.10 Die Griechen, die der Nationalstolz zu großen Prahlereyen verleitet hat,11 schreiben sich die Erfindung aller Künste zu; aber einer der verständigsten Griechen warnet uns ihnen in Ansehung der ganz alten Nachrichten zu trauen.12 Es ist leicht zu erachten, daß die Griechen, die sich noch von Eicheln genährt haben, als andre Völker schon in großem Flor waren, die Künste gewiß nicht zuerst getrieben haben.

Ob wir aber gleich den ersten Keim der Künste unter allen Völkern anzutreffen glauben, so ist doch der Weg, von den ersten Versuchen darinn, die der noch rohen Natur zuzuschreiben sind, nur bis dahin, wo ihre Ausübung anfängt methodisch zu werden, und wo die Künstler anfangen, sie als eine erlernte Kunst zu treiben, so weit entfernt, daß man noch immer fragen könnte, welches Volk der Erde ihn zuerst gemacht hat.

Aber wir haben von dem Ursprunge, von den Einrichtungen und den Künsten der ältesten Völker zu wenig Nachrichten, als daß diese Frage könnte beantwortet werden. Man hält insgemein, doch ohne völlige Zuverläßigkeit, die Chaldäer, bisweilen auch die Aegypter für die ersten, welche die verschiedenen Zweige der zeichnenden Künste methodisch getrieben haben. So viel ist gewiß, daß sowol bey diesen Völkern als bey den Hetruriern die schönen Künste schon zu den Zeiten, in welche das, was wir von der wahren Geschichte der Menschen wissen, noch kein merkliches Licht verbreitet, im Flor gewesen. Zu Abrahams Zeiten scheinen die zeichnenden Künste in Chaldäa schon aufgekeimt zu haben, und in Aegypten war die Baukunst unter der Regierung des Sesostris, der um die Zeiten des [616] jüdischen Gesetzgebers Moses gelebt hat, in großem Flor.13

Wie weit diese Völker vor den Griechen die schönen Künste getrieben haben, läßt sich nicht bestimmt sagen. Die Aegypter und die Perser haben Gebäude und Gärten gehabt, die wenigstens an äusserlicher Pracht und Größe alles übertroffen, was die Griechen hernach gemacht haben. Und das jüdische Volk hat fürtrefliche Proben der Beredsamkeit und Dichtkunst aufzuweisen, die älter als die griechischen Werke dieser Art sind.

Das eigentliche Griechenland scheinet die schönen Künste erst durch seine in Jonien und in Italien verbreitete Colonien bekommen zu haben; Jonien hatte sie ohne Zweifel von den benachbarten Chaldäern, Großgriechenland aber von den benachbarten Hetruriern bekommen.14 Die Ueberbleibsel der ältesten griechischen Baukunst in dem alten Poestum scheinen einen ägyptischen Geschmak anzuzeigen. Und man findet in den Schriften der Alten Spuren genug, daß die Dichtkunst einer Seits von Abend her, andrer Seits aber aus dem Orient und selbst von Norden her nach dem eigentlichen Griechenland hinüber gekommen sey.

Ob aber gleich die Künste als ausländische Früchte auf den griechischen Boden verpflanzet worden; so haben sie unter diesem glüklichen Himmelsstriche und durch die Wartung des bewundrungswürdigen Genies der Griechen eine Schönheit und einen Geschmak bekommen, den sie in keinem andern Lande, weder vorher, noch nachher gehabt haben. Alle Zweige der schönen Kunst hat Griechenland im höchsten Flor und in der größten Schönheit gesehen, auch Jahrhunderte lang darin erhalten, und es könnten tausend Beyspiele zum Beweis angeführt werden, daß sie eine Zeitlang zu ihrem wahren Zwek angewendet worden. Darum kann dieses Land immer als das vorzügliche Vaterland derselben angesehen werden.

Nachdem dieses an allen Gaben des Geistes und des Herzens ausserordentliche Volk seine Freyheit verlohren hatte, und den Römern dienstbar worden war, haben auch die Künste ihren Glanz verlohren. Das Genie der Römer, welche nach dem Verfalle der griechischen Staaten einige Jahrhunderte lang das herrschende Volk in der Welt gewesen, war zu roh, um die Künste in ihrem Glanze zu erhalten; obgleich die griechischen Künstler und Kunstwerke mitten unter dasselbe verpflanzt worden waren. Dieses Volk hat nie, wie die Griechen, die völlige Besonnenheit der menschlichen Vernunft besessen, weil die Begierde zu herrschen allezeit das Uebergewicht in seinem Charakter behauptet hat. Also war die Cultur der schönen Künste dem Plane, nach welchem die Römer handelten, ganz fremd, und wurde dem Zufalle überlassen. Die Musen sind nie nach Rom gerufen, sondern als dahin geflüchtete Fremdlinge blos geduldet worden.

Zwahr scheinet Augustus sie in seinem Plan aufgenommen zu haben. Aber die Zeiten waren, wegen der innern Gährung die von der gehemmten Liebe zur Freyheit in den Gemüthern würkte, noch zu unruhig, um den Künsten die griechische Schönheit wieder zu geben. Alles, was den Menschen an Gemüthskräften übrig war, wurde auf ganz andre Gegenstände gerichtet, als die Bearbeitung des Genies. Die herrschende Parthey hatte genug zu thun, um ihre Gewalt durch die nächsten äußern Zwangsmittel zu behaupten; die, welche die Unterdrükung mit Unwillen fühlten, konnten auf nichts denken, als auf heimliche Untergrabung jener Gewalt, und die dritte Parthey, die ein Zuschauer dieser fürchterlichen Gährung war, suchte in einer so fatalen Lage der Sachen, sich in so viel Ruhe zu erhalten, als möglich war. In den Händen dieser Parthey war das Genie zur Kunst, und wurd um Geld verkauft. Die, welche eine noch nicht sicher genug befestigte Gewalt in den Händen hatten, wendeten die Bemühungen feiler Künstler an, die Tyranney mit Annehmlichkeit zu bekleiden, und durch ihren Befehl wurde die Aufmerksamkeit desjenigen Theils des Volks, der sich blos leidend verhielte, von der Freyheit abgelenket, und auf Lustbarkeiten gerichtet. Dieses mußte nothwendig den Erfolg haben, daß die Künste nicht nur von ihrem wahren Zweke mußten abgeführet, sondern auch in den Grundsätzen, auf die ihre Vollkommenheit beruhet, verdorben werden.

Von dieser Zeit an also wurden sie allmählig zu Grunde gerichtet und fielen in die Erniedrigung, in welcher sie so viele Jahrhunderte geblieben sind, und aus der sie sich jetzt noch nicht wieder empor geschwungen haben.

Zwar blieben sie diese ganze Zeit hindurch dem äussern Scheine nach in einigem Flor, das Mechanische jeder Kunst erhielt sich in den Werkstätten der Künstler; [617] aber Geist und Geschmak verschwanden allmählig daraus: die Künstler in jeder Art pflanzten sich fort; für die zerstörten Tempel heydnischer Gottheiten wurden Kirchen gebauet; in die Stelle der Statuen der Götter und Helden traten die Bilder der Heiligen und der Märtyrer. Die Musik wurde von der Schaubühne in die Kirchen versetzt, und die Beredsamkeit kam von den Rednerbühnen auf die Kanzeln. Kein Zweig der schönen Künste fiel ab; aber alle verwelkten allmählig, bis sie ein Ansehen gewannen, aus dem man sich von ihrer ehemaligen Schönheit keinen Begriff machen konnte.

Es gieng damit wie mit gewissen Feyerlichkeiten, die in ihrem Ursprunge wichtig und sehr bedeutend gewesen, allmählig aber sich in Gebräuche verwandelten, von denen man keinen Grund und keine Bedeutung mehr anzugeben weiß. Was itzt die Ritterorden gegen die ehemaligen Orden sind, das waren in diesen Zeiten die Künste gegen das, was sie in alten Zeiten gewesen; die äußerlichen Zeichen, Bänder und Sterne blieben allein übrig. Eben darum fehlte es den Werken der Kunst nicht nur an äusserlicher Schönheit, sondern auch an innerlicher Kraft.

Einige Schriftsteller sprechen von der Geschichte der Kunst auf eine Art, die uns glauben machen könnte, sie seyen Jahrhunderte durch völlig verlohten gewesen. Aber dieses streitet gegen die historische Wahrheit. Von den Zeiten des Augustus, bis auf die Zeiten Pabst Leo des X, ist kein Jahrhundert gewesen, das nicht seine Dichter, seine Mahler, seine Bildhauer, Steinschneider, Tonkünstler, und seine Schauspieler gehabt. Es scheinet sogar, daß in zeichnenden Künsten hier und da ein glüklichers Genie Versuche gemacht, Schönheit und Geschmak wieder in die Künste einzuführen15 Aber die Würkung davon erstrekte sich nicht weit. Wie die Verderbniß der Sitten in dem zwölften und einigen folgenden Jahrhunderten zu einem fast unbegreiflichen Grade herabgefallen, so waren auch die schönen Künste in ihrer Anwendung unter alles, was sich itzt begreifen läßt, niedergesunken. Man trift in Gemählden geistlicher Bücher, in Bildschnitzereyen, womit Kirchen und Canzeln ausgezieret waren, eine Schändlichkeit des Innhalts an, die gegenwärtig an Oertern, wo die wildeste Unzucht ihren Sitz hat, anstößig seyn müßten. Aber vermuthlich war dieser Mißbrauch unschädlich, weil es diesen Mißgeburten der Kunst an allem ästhetischen Reize fehlte.

Doch brach mitten in dieser Barbarey die Morgenröthe eines bessern Geschmaks in einigen Zweigen der Künste hier und da aus. Dieses erhellet aus dem, was über die Geschichte der Dichtkunst und der Baukunst angemerkt worden.16 Aber erst mit dem sechszehnten Jahrhunderte erschien der helle Tag wieder, und verbreitete sein Licht über den ganzen Umfang der schönen Künste. Schon lange vorher hatte der Reichthum, den sich verschiedene italiänische Freystaaten durch Handlung erworben, sie auf einige Zweige der angenehmen Künste aufmerksam gemacht. Stüke von griechischen Werken der Baukunst und Bildschnitzerey wurden aus Griechenland nach Italien, besonders nach Pisa, Florenz und Genua gebracht, und man fieng an die Schönheit daran zu fühlen, auch hier und da nachzuahmen. Aber eine weit wichtigere Würkung thaten die Werke der griechischen Dichtkunst und Beredsamkeit, [618] die bald hernach durch die aus dem Oriente nach Italien geflüchteten Griechen allmählig bekannt wurden. Da sah man die Früchte des Geschmaks dieser Zweige der Kunst wieder in ihrer Reife, und dadurch wurde man angetrieben auch das, was in andern Gattungen noch hier und da übrig geblieben war, aus den Ruinen wieder hervor zu suchen. Der Geschmak der Künstler wurde wieder geschärft; der Beyfall und Ruhm, den einige durch Nachahmung alter Werke erhalten, zündete auch in andern das Feuer der Nacheiferung an, und so erhoben sich die Künste wieder aus dem Staub empor, und breiteten sich aus Italien allmählig in dem ganzen Occident, und auch bis nach Norden aus. Man merkte durchgehends, daß die Werke der alten Kunst die Muster wären, an die man sich zu halten hätte, um allen schönen Künsten ihre beste Gestalt wieder zu geben. Da zugleich eine gesundere Politik mehr Ruhe in die Staaten eingeführet, denen sie eine grössere Festigkeit gegeben hatte, so nahm auch die Liebe zu den schönen Künsten dadurch zu, und so bekamen sie allmählig den Flor, in welchem wir sie gegenwärtig sehen.

Damit wir uns einen bequemen Standort bereiten, aus welchem wir eine freye Aussicht über den gegenwärtigen Zustand der schönen Künste haben, müssen wir wieder zu allgemeinen Betrachtungen über ihre Natur und Anwendung zurükekehren.

Wir haben gesehen, was sie in ihrer vollen Kraft seyn können. Die eigentlichsten Mittel, die Gemüther der Menschen mit Zuneigung für alles Schöne und Gute zu erfüllen, – die Wahrheit würksam zu machen, und der Tugend Reizung zu geben, – den Menschen zu jedem Guten anzutreiben, und von allen schädlichen Unternehmungen zurück zu halten – und überhaupt ihm, wenn er einmal durch die Vernunft hinlänglich von seinem wahren sittlichen Interesse unterrichtet worden, jede Kraft zu unaufhörlicher Bewürkung desselben in seine Seele zu legen.

Daß sie jemals unter irgend einem Volke diese Vollkommenheit erreicht haben, kann mit Gewißheit nicht behauptet werden; daß aber eine Zeit gewesen sey, wo sie sich derselben genähert haben, scheinet gewiß. Die Griechen hatten von den schönen Künsten den richtigen Begriff, daß sie zu Bildung der Sitten und zu Unterstützung der Philosophie, und selbst der Religion dienen. Darum ließen sie es auch an Aufmunterung der Künstler durch Ehre, Ruhm und andre Belohnung, nicht ermangeln. In einigen griechischen Staaten war der größte Redner oft der Mann, der mit der höchsten Würde des Staats bekleidet wurde. Die Gesetzgeber und Regenten sahen große Dichter als wichtige Personen an, die den Gesetzen selbst Kraft geben könnten. Homer wurde für den besten Rathgeber des Staatsmannes und des Heerführers, und für den besten Hofmeister des Privatmannes angesehen, und in dieser Absicht schrieb Lykurgus die zerstreuten Gesänge dieses Dichters in Kreta zusammen. Eben dieser Gesetzgeber gewann den Dichter und Sänger Thales, daß er aus dieser Insel mit ihm nach Sparta zog, und dort durch seine Gesänge die Gesetzgebung erleichterte.17 Die Alten, sagt ein griechischer Philosoph18 hielten dafür, daß die Dichtkunst einigermaaßen die erste Philosophie sey, die uns von Kindheit an den Weg zu einem richtigen Leben weise, und auf eine angenehme Weise Sitten, Empfindungen und Thaten lehre,19 die unsrigen aber (die Pythagoräer) lehren, daß allein der Dichter der wahre Weise sey.« Daher haben auch die Griechen ihre Kinder zuerst in der Dichtkunst unterrichten lassen. Keinesweges zur Belustigung, sondern zur Bildung des Gemüthes. Dieses Verdienstes rühmen sich auch die Tonkünstler – sie halten sich für Lehrer und Verbesserer der Sitten – darum nennet auch Homer die Sänger Hofmeister. Ueberhaupt kann man von den Griechen sagen, was ein Römer vielleicht mit weniger Recht von seinen Vorältern rühmet, daß sie alle Künste zum gemeinen Besten angewendet haben.20

Aber von der Ehre, dem Ruhme und den großen Belohnungen, die in Griechenland allen rechtschaffenen Künstlern zu Theil geworden, sind die Nachrichten in den Schriften der Alten so bekannt, daß es unnöthig ist hier besondere Fälle anzuführen.21 [619] Man brauchte sie jede Feyerlichkeit, jede öffentliche Veranstaltung, jedes wichtige öffentliche Geschäft zu unterstützen. Die öffentlichen Berathschlagungen, die durch Gesetze verordneten feyerlichen Lobreden auf Helden und auf Bürger, die ihr Leben im Dienste des Staats verlohren hatten, die öffentlichen Denkmäler, womit große Thaten belohnet wurden, die große Menge religiöser Feste, die mit so viel Ceremonien begleitet waren, und die Schauspiele, die zu einigen dieser Feste gehörten, und auf die von Seiten der Regierung so viel Sorgfalt gewandt und so großer Aufwand gemacht worden; alles dieses verschaffte den Künstlern Gelegenheit, ihr Genie und die Kraft der schönen Künste auf die Gemüther der Menschen in voller Würkung zu zeigen. Es wurden Gesetze gemacht, um den guten Geschmak zu befördern, das Einreissen des schlechten Geschmaks, und die noch schädlichere Uebertreibung des Feinen zu hemmen.22

Eben so aufmerksam waren auch die Hetrusker, den Einfluß der Künste auf die Sitten zu befördern. Wir wissen zwar wenig von den politischen Verfassungen dieses durch die Römer zernichteten Volks. Aber die mannichfaltigen Ueberbleibsel der hetruskischen Künste, beweisen hinlänglich, wie unmittelbar sie in alle Verrichtungen des gemeinen Lebens verwebt gewesen seyn. Man geräth dabey auf die Vermuthung, daß auch der gemeine Mann in seinem Hause kaum etwas vor sich gesehen, oder in die Hand genommen habe, das nicht durch den Einfluß der zeichnenden Künste ihn auf eine nützliche Weise an seine Götter und an seine Helden erinnert, und das nicht seiner Religion, und seinen patriotischen und Privatgesinnungen einen vortheilhaften Stoß gegeben hätte.

So war es mit den schönen Künsten in den goldenen Zeiten der griechischen und hetruskischen Freyheit beschaffen. Aber, so wie sich allmählig die edeln Empfindungen für den allgemeinen Wohlstand verlohren, wie die Regenten und Vornehmen ihr Privatinteresse von den Angelegenheiten des Staats absonderten, als Liebe zum Reichthum, und Geschmak an einer üppigen Lebensart die Gemüther geschwächt hatten; wurden die schönen Künste von dem öffentlichen Dienste des Staats abgerufen, blos als Künste der Ueppigkeit getrieben, und allmählig verlohr man ihre Würde aus dem Gesichte. Es ist für das Beyspiel unserer Zeiten wichtig, daß dem Leser der erstaunliche Mißbrauch, den die ausgearteten Griechen von den schönen Künsten gemacht haben, vor Augen gelegt werde. Da ich die Versuchung fühle darüber weitläuftiger zu seyn, als es sich hier schiken würde, will ich mich begnügen, nur eine allgemeine Abschilderung davon, die ein verständiger Engländer verfertiget hat, zu geben.23 »Da die Athenienser, sagt er, sich von dem Feinde, der sie so sehr in Athem gehalten hatte,24 befreyt sahen, überließen sie sich dem Genusse der Ergötzlichkeiten, und dachten an nichts, als an Spiel und Feste. Dieses trieben sie bis zur größten Ausschweifung, und für die Schaubühne hatten sie eine Leidenschaft, die alle Staatsgeschäfte hemmte, und alle Empfindung des Ruhms erstikte. Dichter und Schauspieler genossen allein die Gunst des Volks, und ihnen gab man den frohlokenden Beyfall und die Hochachtung, die denen gebührte, die ihr Leben zur Vertheidigung der Freyheit gewagt hatten. Die Schätze, die zum Unterhalt der Flotte und der Heere bestimmt gewesen, wurden auf Schauspiele verwandt. Tänzer und Sängerinnen führten das wollüstigste Leben, da die Heerführer darbten, und auf ihren Schiffen kaum Brod, Käse und Zwiebeln hatten. Der Aufwand auf die Schaubühne war so groß, daß nach dem Berichte des Plutarchus die Vorstellung eines Trauerspiels vom Sophokles, oder Euripides, dem Staate mehr gekostet hat, als der Krieg gegen die Perser. Dazu nahm man den Schatz, der einige Zeit zuvor als ein Heiligthum für die äußerste Nothdurft des Staates, mit dem Gesetze der Todesstrafe für den, der sich unterstehen würde, eine Veräußerung desselben anzutragen, zurücke gelegt worden.«

Was also in seinem Ursprunge bestimmt war, die Gemüther der Menschen mit patriotischer Kraft zu erfüllen, dienete jetzt den Müßigang zu befördern, und jeden auf das allgemeine Beste gerichteten Gedanken zu unterdrüken. Bald hernach hatten die Großen Künstler um sich, wie sie Köche um sich hatten; die Künste, die vorher stärkende und heilende Arzeneyen für die Gemüther zubereitet hatten, mußten nun Schminke und wohlriechende Salben bereiten. Und in diesem Zustande trafen die Römer die schönen Künste in Griechenland und in Aegypten an, als sie diese Länder eroberten; darum behielten sie diesen Geist auch hernach in Rom. In den goldenen Zeiten der Kunst, gab der edle Gebrauch derselben dem Künstler Würde; Sophokles, ein Dichter [620] und Schauspieler, war zugleich Archon in Athen: aber schon zu Cäsars Zeit hielte sich ein Römischer Ritter mit Recht für gebrandmarket, da er sich auf dem Theater zu zeigen gezwungen ward.25

Wenn man die schwachen Versuche ausnimmt, die Augustus machte, die Künste wieder zu ihrer edlern Bestimmung zurük zu führen, wovon wir an Virgil und Horaz die Proben noch haben, so fielen sie unter seinen Nachfolgern in die tiefste Erniedrigung. Unter Nero war der Beruf eines Dichters oder Tonkünstlers, oder Schauspielers nicht viel edler als der Beruf eines Seiltänzers. Und so verschwand in Griechenland und Rom die Würde der schönen Künste allmählig aus dem Gesichte der Menschen. Der Liebe zur Pracht und Ueppigkeit ist man in den neuern Zeiten die Wiederherstellung der schönen Künste selbst schuldig; und man wird schwerlich finden, daß ihre neuen Beschützer und Beförderer jemals aus wahrer Kenntniß ihres hohen Werthes, etwas zu ihrer Vervollkommnung und Ausbreitung gethan haben. Darum sind sie noch gegenwärtig ein bloßer Schatten dessen, was sie seyn könnten. Ueberhaupt sind ihnen nach den heutigen Verfassungen viel von den ehemaligen Gelegenheiten, ihre Kraft zu zeigen, benommen. Unsern politischen Festen fehlet die Feyerlichkeit, wobey die Künste sich in ihrem besten Lichte zeigen könnten. Selbst unsre gottesdienstlichen Feste fallen nicht selten sehr ins kleine. Es geschieht blos zufälliger Weise, daß der ursprünglichen Bestimmung der schönen Künste bey gottesdienstlichen Festen etwas übrig geblieben ist. Die Art aber, wie es geschieht, verräth doch allemal ein gänzliches Verkennen ihres wahren Zweks. Gelinget es einem Künstler, welches nur gar zu selten geschiehet, ein Werk zu machen, in dem die wahre Kraft der Kunst sich zeiget, so ist es mehr eine Würkung seines zufälliger Weise von Vernunft geleiteten Genies, als die Absicht, auf die er durch die geleitet worden, die ihm das Werk aufgetragen haben. Also kommen die Künste bey öffentlichen Feyerlichkeiten wenig in Betrachtung.

Dann scheinet es auch, daß man überhaupt von ihrer Wichtigkeit und ihrer Anwendung die wahren Begriffe verlohren habe. Der deutlichste Beweis hiervon ist die so gar unüberlegte Wahl der zu bearbeitenden Materien. Auf unsern Schaubühnen sieht man hundertmal den Apollo, die Diana, den Oedipus, Agamemnon, und andere erdichtete oder uns vollkommen gleichgültige Götter oder Helden, gegen einen, dem wir etwas zu danken haben. Man weiß dem Mahler eben so viel Dank, wenn er eine abgeschmakte und nicht selten auf Verderbniß der Sitten abzielende Anekdote aus der Mythologie mahlt, als wenn er einen edlen Innhalt gewählt hätte; wenn nur die Arbeit gut ist; und so denkt man auch über andre Zweige der Kunst. Sogar in den Kirchen – Was sind die meisten Gemählde der Römischen Kirche anders als eine andächtige Mythologie, die vielleicht im Grunde noch mehr gegen die gesunde Vernunft streitet, als die heidnische?

Um sich von dem Geiste, der gegenwärtig die Künste mehr schwächt als belebt, einen richtigen Begriff zu machen, darf man nur dasjenige von unsern Schauspielen betrachten, bey dem sich doch eigentlich alle schönen Künste vereinigen, die Oper. Ist es wohl möglich, etwas unbedeutenderes, abgegeschmakteres und dem Zweke der Künste weniger entsprechendes zu sehen? Und doch könnte das Schauspiel, das itzt kaum der Aufmerksamkeit der Kinder würdig ist, gerade das erhabenste und nützlichste seyn, was die Künste hervorzubringen im Stande sind.26

Daß die Neuern überhaupt die göttliche Kraft der schönen Künste ganz verkennen und von ihrem Nutzen niedrige Begriffe haben, erhellet am deutlichsten daraus, daß sie kaum zu etwas anderm, als zum Staat und zur Ueppigkeit gebraucht werden. Ihren Hauptsitz haben sie in den Pallästen der Großen, die dem Volke auf ewig verschlossen sind; braucht man sie zu öffentlichen Festen und Feyerlichkeiten, so geschieht es nicht in der Absicht, einen der ursprünglichen Bestimmung dieser Feyerlichkeiten gemäßen Zwek desto sicherer zu erreichen, sondern dem Pöbel die Augen zu blenden und die Großen einigermaaßen zu betäuben, damit sie den Eckel elend ausgesonnener Feyerlichkeiten nicht fühlen. In so fern sie dazu dienen, werden sie geschützt und genährt; aber wo sie noch aus Beybehaltung eines alten Herkommens zu ihrer wahren Bestimmung sich einfinden, bey dem Gottesdienste, bey öffentlichen Denkmälern, bey den Schauspielen, da werden sie für unbedeutend gehalten, und jedem wahnwitzigen Kopfe, dem es einfällt, sie zu mißhandeln, Preis gegeben. Wenn noch hier und da auf unsern [621] Schaubühnen etwas Gutes gesehen wird; wenn unsre Dichter noch bisweilen auf den wahren Zwek arbeiten, so geschieht es doch ohne alle Mitwürkung öffentlicher Veranstaltungen. Man betrachte mit einigem Nachdenken unsre Gebäude und Wohnungen, unsre Gärten, alles um uns, woran die schönen Künste ihren Antheil haben, und sage dann, ob der tägliche Gebrauch aller dieser Dinge, in irgend einem Menschen, Erhöhung seines Geschmaks, Erhebung seiner Sinnes- und Gemüthsart bewürken könne? In diesem Gesichtspunkte betrachtet, wird Rousseau in seinem Unwillen gegen die schönen Künste den Beyfall der Vernunft behalten, und man wird es dem Lord Littleton nicht übel nehmen können, wenn er den guten Cato sagen läßt, er wollte lieber in den Zeiten des Fabricius und Cincinnatus gelebt haben, die kaum schreiben und lesen gekonnt, als unter dem Augustus, da die Künste blüheten.27

Wir sind in Ansehung der Talente und des Kunstgenies, nicht so weit hinter den Alten zurüke, als man uns bisweilen zu bereden versucht. Das Mechanische der Künste besitzen wir, und in manchem Theile besser, als die Alten. Der Geschmak am Schönen ist bey manchem neuen Künstler eben so fein, als bey dem Besten unter den Griechen. Das Genie der Neuern überhaupt ist durch die Ausbreitung der Wissenschaften und eine viel weiter gehende Kenntniß der Natur und der Menschen eher erweitert, als ins Kleine getrieben worden. Also sind die Kräfte, die Künste wieder in dem schönsten Glanze zu zeigen, noch da; aber weil die Politik ihnen nicht die erforderliche Aufmunterung giebt, und versäumet, sie zu ihrem wahren Zweke zu lenken, oder sie gar blos zur Ueppigkeit und einer raffinirten Wollust anwendet; so ist auch der Künstler, wie groß man auch von seinen Talenten spricht, nicht viel besser als ein feinerer Handwerksmann; er wird als ein Mensch angesehen, der die Großen oder das Publicum angenehm unterhält, und den reichen Müßiggängern die Zeit vertreibet.

Wo nicht irgendwo eine weise Gesetzgebung die Künste aus dieser Erniedrigung herausreißt, und Anstalten macht, sie zu ihrem großen Zweke zu führen, so sind auch die einzelen Bemühungen der besten Künstler, der Kunst aufzuhelfen, ohne merklichen Erfolg. Von der Schuld des schlechten Zustandes der Sachen, ist mancher Künstler, der sich gerne höher schwingen möchte, frey: Aber durch seltene und einzele Bemühungen dafür richtet man wenig aus.

Der große Haufe der Künstler kennet, nach dem gemeinen Vorurtheile, das die Großen nur zu sehr unterhalten, keinen andern Beruf, als müßige Leute zu vergnügen. Wie soll aber das glüklichste Genie, auf dieses schwache Fundament gestützt, sich in die Höhe heben können? Woher soll es seinen Schwung nehmen? Große Kräfte werden nie durch kleines Interesse gereizt, und so bleiben die herrlichsten Gaben des Genies, die die Natur den Neuern, nicht mit kargerer Hand, als den Alten ausgetheilet hat, meist ungebraucht liegen.

Würde der Künstler, nicht in das Cabinet des Regenten, wo dieser nichts als ein Privatmann ist, sondern an den Thron gerufen, um dort einen eben so wichtigen Auftrag zu hören, als der ist, der dem Feldherrn oder dem Verwalter der Gerechtigkeit, oder dem, der die allgemeine Landespolicey besorget, gegeben wird; wären die Gelegenheiten, das Volk durch die schönen Künste zum Gehorsam der Gesetze und zu jeder öffentlichen Tugend zu führen, in dem allgemeinen Plane des Gesetzgebers eingewebet; so würden sich alle Kräfte des Genies entwikeln, um etwas Großes hervorzubringen; und alsdann würden wir auch wieder Werke sehen, die die besten Werke der Alten vermuthlich übertreffen würden. Dort öffnet sich also der Weg, der zur Vollkommenheit der schönen Künste führet. Will man große Künstler haben, und wichtige Werke der Kunst sehen, so darf man nur Veranstaltungen machen, daß solche Werke bey einem ganzen Volke Aufsehen erweken können; daß der Künstler von Genie Gelegenheit bekomme, sich in dem hellen Lichte zu zeigen, das den redlichen Staatsmann umgiebt. Die Ehre, etwas zur Erhebung einer ganzen Nation beyzutragen, ist edeln Gemüthern eine hinlängliche Reizung, alle Kräfte des Genies anzustrengen. Und darauf kommt es allein an, um große Künstler zu haben.

Dieses sey über die Natur, die Bestimmung und den Werth der schönen Künste gesagt. Hieraus kann nun auch der Weg zu der wahren Theorie derselben eröfnet werden. Sie entsteht aus der Auflösung dieser psychologischen und politischen Aufgabe:» Wie ist es anzufangen, daß der dem Menschen angebohrne Hang zur Sinnlichkeit, zu Erhöhung seiner Sinnesart angewendet, und in besondern [622] Fällen als ein Mittel gebraucht werde, ihn unwiderstehlich zu seiner Pflicht zu reizen?« In der Auflösung dieser Aufgabe, findet der Künstler den Weg, den er zu gehen hat, und der Regent die Mittel, die er anzuwenden hat, die vorhandenen Künste immer vollkommener zu machen und recht anzuwenden.

Es ist hier der Ort nicht, diese Frage ausführlich zu beantworten. Wir wollen nur die Hauptpunkte berühren, auf die es ankommt.

Die Theorie der Sinnlichkeit ist ohne Zweifel der schwerste Theil der Philosophie. Ein deutscher Philosoph hat zuerst unternommen, sie als einen neuen Theil der philosophischen Wissenschaften unter dem Namen Aesthetik, zu bearbeiten.28 Es ist zur Ehre der Nation zu wünschen, daß sie den Ruhm der Erfindung dadurch nicht vermindere, daß sie einem andern Lande die glükliche Ausführung einer so wichtigen Wissenschaft überläßt, wodurch der Philosophie der Weg zur völligen Herrschaft über den Menschen gezeiget wird.

So viel verschiedene Wege in der Natur sind den Menschen durch sinnliche Vorstellungen zu erhöhen, so viel sind auch Hauptzweige der Kunst; und so vielerley Gattungen und Arten der ästhetischen Kraft durch jeden Weg in die Seele können gebracht werden, in so viel Nebenzweige theilet sich jede Kunst. Wir wollen versuchen, ob nach diesen Grundsätzen ein allgemeiner Stammbaum der schönen Künste könne gezeichnet werden.

Ueberhaupt ist nur ein Weg in die Seele zu dringen, nämlich die äussern Sinnen, aber er wird durch die verschiedene Natur dieser Sinnen vielfach. Eben dieselbe Vorstellung, oder derselbe Gegenstand scheinet seine Natur zu verändern, und ist in seiner Kraft mehr oder weniger würksam, nach Beschaffenheit des Sinnes, wodurch er in die Seele dringt; die nöthigsten Erläuterungen hierüber hab' ich an einem andern Orte gegeben.29

Die höchste Kraft auf die Seele, haben die niedrigern gröbern Sinnen, das Gefühl, der Geschmak und der Geruch, aber diese Wege auf die Menschen zu würken, sind für die schönen Künste unbrauchbar, weil sie allein den thierischen Menschen angehen. Wären die schönen Künste Dienerinnen der Wollust, so müßten die vornehmsten Hauptzweige derselben für diese drey Sinnen arbeiten, und die Kunst, eine wohlschmekende Mahlzeit zuzurichten, oder Salben und wohlriechende Wasser zu machen würde den ersten Platz einnehmen. Aber die Sinnlichkeit, wodurch der Werth des Menschen erhöhet wird, ist von edlerer Art; sie muß uns nicht bloße Materie, sondern Seel und Geist empfinden lassen. Nur bey besondern Gelegenheiten können die schönen Künste vermittelst der Einbildungskraft, die von gröbern Sinnen abhängenden Empfindungen, zu ihrem Vortheile anwenden, ohne es eben so grob zu machen, als Mahomet, der auf die Hoffnung sinnlicher Vergnügungen nur allzuviel gebaut hat.

Das Gehör ist der erste der Sinne, der Empfindungen, deren Ursprung und Ursachen wir zu erkennen vermögen, in unsre Seelen schiket. In dem Schalle kann Zärtlichkeit, Wohlwollen, Haß, Zorn, Verzweiflung und andre leidenschaftliche Aeußerung einer gerührten Seele liegen. Darum kann durch den Schall eine Seele der andern empfindbar werden, und erst diese Art der Empfindung kann auf unser Herz erhöhende Eindrüke machen. Da fängt also das Gebiete der schönen Künste an. Die erste und kräftigste derselben ist die, die durch das Gehör den Weg zur Seele nimmt, die Musik. Zwahr würken auch die redenden Künste auf das Ohr, aber seine Rührung ist nicht ihr Hauptzwek. Ihr Gegenstand ist von der unmittelbaren Sinnlichkeit weiter entfernt: aber der Klang der Rede ist eines der Nebenmittel, wodurch sie ihren Vorstellungen eine Beykraft, oder einen stärkern Nachdruk geben. Die Hauptkraft der redenden Künste liegt nicht in dem Schalle, sondern in der Bedeutung der Wörter.

Nach dem Gehöre kommt das Gesicht, dessen Eindrüke jenen an Stärke zwahr weichen, aber an Ausdehnung und Mannichfaltigkeit sie übertreffen. Das Auge dringt ungleich weiter als das Ohr in [623] das Reich der Geister herein; es kann beynahe alles, was in der Seele vorgeht, lesen. Das Schöne, das einen so vortheilhaften Eindruk auf die Seele macht, ist ihm fast in allen Gestalten sichtbar;30 aber es entdeket auch das Vollkommene und das Gute. Was kann nicht ein geübtes Auge in den Gesichtern, in der Form, in der Stellung und Bewegung des menschlichen Körpers lesen? Diesen Weg zur Seele nehmen die zeichnenden Künste, auf sehr mannichfaltige Art, wie hernach wird gezeiget werden.

Das Gesicht gränzet in vielen Stüken so nahe an das blos Geistige (intellektuelle), daß die Natur selbst keinen Mittelsinn zwischen dem Gesichte und den innern Vorstellungen geleget hat; oft sehen wir, wo wir blos zu denken glauben, ohne uns des Eindruks eines körperlichen Gefühls bewußt zu seyn. Also ist für die Künste kein Sinn mehr übrig. Aber das menschliche Genie, durch göttliche Vorsehung geleitet, hat sich noch ein weit reichendes Mittel erdacht, in jeden Winkel der Seele hineinzudringen. Es hat Begriffe und Gedanken, die nichts körperliches haben, in Formen gebildet, die sich durch die Sinnen durchschleichen, um wieder in andre Seelen zu dringen. Die Rede kann, vermittelst des Gehörs oder des Gesichts, jede Vorstellung in die Seele bringen, ohne daß diese Sinnen sie verstellen, oder ihr die ihrem Baue eigene Gestalt geben. Weder in dem Klange eines Worts, noch in der Art, wie es durch die Schrift sichtbar wird, liegt die Kraft seiner Bedeutung. Also ist es etwas blos Geistiges in einer zufälligen körperlichen Gestalt, um durch die Sinnen in die Seele zu dringen. Dieses bewundrungswürdigen Mittels bedienen sich die redenden Künste. An äußerlicher Kraft stehen sie den andern weit nach, weil sie, wo es nicht zufälliger Weise geschieht, daß sie das Gehör erschüttern, von der Rührung der körperlichen Sinnen keine Kraft borgen. Aber sie gewinnen an Ausdehnung, was ihnen an äußerer Kraft fehlet. Sie rühren alle Sayten der Einbildungskraft, und können dadurch jeden Eindruk der Sinnen, selbst der gröbern, ohne Hülfe der Sinnen selbst fühlbar machen.

Darum erstrekt sich ihr Gebrauch viel weiter als der, den man von andern Künsten machen kann. Von allem, was uns bewußt, in der Seele vorgeht, können sie uns benachrichtigen. Von welcher Seite, mit welcher Art der Vorstellung oder Empfindung man die Seele anzugreifen habe, dazu reichen die redenden Künste allemal die Mittel dar. Dann haben sie noch über die andern Künste den Vortheil, daß man sich vermittelst der wunderbaren Zeichen, deren sie sich bedienen, jeder Vorstellung auf das leichteste und bestimmteste wieder erinnert. Darum sind sie zwar an Lebhaftigkeit der Vorstellungen die schwächesten, aber durch ihre Fähigkeit alle Arten der Vorstellungen zu erweken, die wichtigsten. Dieses sind die drey ursprünglichen Gattungen der Künste. Man hat aber Kunstwerke ausgedacht, in welchen zwey oder drey Gattungen vereiniget werden. Im Tanze vereinigen sich die Künste, die durch Aug und Ohr zugleich rühren; in dem Gesange vereinigen sich die redenden Künste mit der Musik, und in dem Schauspiele können gar alle zugleich würken. Darum ist das Schauspiel die höchste Erfindung der Kunst, und kann von allen Mitteln die Gemüther der Menschen zu erhöhen, das vollkommenste werden.31

Jede Kunst hat wieder ihre vielfachen Nebenzweige, die vielleicht am füglichsten durch die Gattungen der darinn behandelten ästhetischen Kräfte könnten bestimmt werden. So giebt es besondere Nebenzweige in jeder Kunst, wo blos auf das Schöne gearbeitet wird. Dahin gehören alle Werke, die keine andere Absicht haben, als den Geschmak am Schönen zu ergötzen. In der Dichtkunst artige Kleinigkeiten, in der Mahlerey Blumen - Stücke, Landschaften, die blos schön, ohne bestimmten leidenschaftlichen Charakter; in der Musik Stüke, worin außer Harmonie und Rhythmus wenig Bestimmtes zu merken ist. Andre Nebenzweige arbeiten fürnehmlich auf Vollkommenheit und Wahrheit, wie in redenden Künsten die unterrichtende Rede, das Lehrgedicht, eine Art der Aesopischen Fabel und andere Arten. Noch andre Zweige bearbeiten fürnehmlich einen leidenschaftlichen Stoff, und bringen Leidenschaften in Bewegung. Dann giebt es noch Arten, wo alle Kräfte zugleich angewendet werden, und diese sind allemahl die wichtigsten.

Wie nun zu jeder Gattung nicht nur ein eigenes Genie, sondern auch eine besondre Gemüthsfassung und eine eigene Stimmung der Seele erfordert wird; so könnte man vielleicht in dieser Stimmung, die der Künstler zu glüklichem Fortgange seiner Arbeit nöthig hat, die Nebenzweige jeder der schönen [624] Künste mit ziemlicher Genauigkeit bestimmen. Als ein Versuch hiervon kann das angesehen werden, was wir über die verschiedenen Gattungen des Gedichtes gesagt haben.32

Die äußerlichen Formen, unter denen die schönen Künste ihre Werke zeigen, haben so viel Zufälliges und zum Theil Willkührliches, daß auch die bestimmtesten Begriffe von der Natur und der Anwendung der Künste nicht hinlänglich sind, darüber etwas feste zu setzen. Wer wird, um nur ein Beyspiel anzuführen, alle Gestalten bestimmen, in denen sich die Ode, oder das Drama zeigen können, ohne ihre Natur zu verlieren? Man muß sich in solchen Untersuchungen vor Spitzfündigkeiten in Acht nehmen, und auch dem Genie der Künstler keine Schranken vorschreiben.33 Auf diese Weise kann man die schönen Künste und ihre Zweige entdeken.

Das allgemeine Grundgesetz, wornach der Künstler sein Werk bearbeiten muß, kann kein anderes als dieses seyn, »daß das Werk, sowohl im Ganzen, als in seinen Theilen, sich den Sinnen oder der Einbildungskraft am vortheilhaftesten einpräge, um so viel möglich die innern Kräfte zu reizen und unvergeßlich im Andenken zu bleiben.« Dieses kann nicht geschehen, wenn das Werk nicht Schönheit, Ordnung, und mit einem Worte, das Gepräge des guten Geschmaks hat. Der Mangel an dem, was zum Geschmake gehört, ist würklich der wesentlichste Fehler eines Werks der Kunst; aber nicht allemal der wichtigste.

Der allgemeine Grundsatz für die Wahl der Materie ist dieser: Der Künstler wähle Gegenstände, die auf die Vorstellungs- und Begehrungskräfte einen vortheilhaften Einfluß haben; denn nur diese verdienen uns stark zu rühren und unvergeßlich gefaßt zu werden, alles andre kann vorübergehend seyn.

Man würde diesen Grundsatz unrecht verstehen, wenn man ihn so einschränken wollte, daß die Kunst keinen andern, als unmittelbar sittlichen Stoff bearbeiten solle: er verbietet dem Künstler nicht, eine Trinkschaale, oder etwas dieser Art zu bemahlen; sondern befiehlt ihm nur, nichts darauf zu mahlen, das nicht irgend einen vortheilhaften Eindruk, von welcher Art er sey, mache.

Den wichtigsten Nutzen haben die Werke der Kunst, die uns Begriffe, Vorstellungen, Wahrheiten, Lehren, Maximen, Empfindungen einprägen, wodurch unser Charakter gewinnt, und die wir, ohne als Menschen oder als Bürger an unserm Werthe zu verlieren, nicht missen können. Sollten aber dergleichen Dinge nicht statt haben, so hat der Künstler schon genug gethan, wenn unser Geschmak am Schönen durch sein Werk befestigt oder erhöhet wird. Der Mahler also, dem ich die Verzierung meines täglichen Wohnzimmers aufgetragen hätte, würde den besten Dank von mir verdienen, wenn er den Auftrag so ausrichtete, daß die praktischen Begriffe, deren ich am meisten bedarf, mir überall wo ich hinsehe, lebhaft in die Augen leuchteten. Geht dieses nicht an, so ist seine Arbeit auch dann noch lobenswerth, wenn ich in jedem gemahlten Gegenstand etwas erblike, das meinen Geschmak am Schönen bestärkt oder erhöhet.

Hieraus erhellet auch, daß die schönen Künste nicht nur auf guten Geschmak, sondern auch auf Vernunft, auf gründliche Kenntniß des sittlichen Menschen, und auf Redlichkeit seine Talente auf das Beste anzuwenden, gegründet seyen.

1S. Schönheit.
2De Officiis Lib. I.
3S. Baukunst.
4S. Geschmak.
5Verbanne die Einbildung, sagt der große Marcus Aurelius, so bist du gerettet. In diesen Worten liegt der ganze Geist der stoischen Philosophie.
6In der Philosophie der Alten wurde das System der Lehren vom Ursprung, der Regierung und dem endlichen Schiksal der Welt und besonders des Menschen, das, was wir in Deutschland gegenwärtig, mit Ausschluß der Ontologie, die Metaphysik nennen, Physiologie genennt.
7Einige besondere hieher gehörige Anmerkungen finden sich in dem Artikel Künstler.
8Die Nachläßigkeit der deutschen Regenten in diesem Stüke, ist unglaublich. Das wichtigste aller Mittel, die Menschen über das Thier empor zu heben, wird gerade, als gar nichts geachtet. Man läßt jeden unsinnigen Kopf, dem es einfällt, dergleichen zu thun, in Zeitungen, Calendern, Wochenblättern, Büchern, Predigten, mit dem ganzen Volke in einer Sprache schwatzen, die voll Unsinn und Barbarey ist. Selbst der Majestät der Monarchen, wenn sie in Mandaten und Verordnungen, mit dem ganzen Volke, dessen Väter und Führer sie sind, sprechen, legt man nicht selten eine Sprache in den Mund, die voll Ungeschiklichkeit ist, und wo auch die kleinste Spur des guten Geschmaks und der Ueberlegung vermißt wird.
9S. Baukunst I. Th. S. 129. Dichtkunst S. 253. Mahlerey, Musik, Tanzkunst. Vers. Gesang.
10Histoire des Yncas des Garcil. da Vega Lib. II. chap. 27.
11Graeci omnia sua in immensum tollunt. Macrob. Saturn. L. I. c. 24.
12

Strabo; der sehr vernünftig anmerkt, daß die ältesten Sammler der Nachrichten durch die griechische Fabellehre, zu sehr viel Unwahrheiten verführt worden.


Πολλα και μη ὀντα λεγοσιν ὀι ἀρχαςοι συγγραφεις,

συντεϑραμμεςοι τᾳ ψευδει δια της μυϑογραφιας.

Lib. VIII.

13S. Winkelm. Gesch. der Künste des Alterthums. I. Theil. I Cap.
14Statuas Thusci primum in Italia invenerunt Cassiodor.
15Ich habe vor einigen Jahren in Hervorden ein Diploma von Kayser Heinrich IV. gesehen, auf dessen Siegel der Kopf dieses Kaysers so schön ist, als wenn er zu den Zeiten der ersten Cäsare wäre geschnitten worden. Und an alten Kirchen-Büchern aus Carls des Großen und den nachfolgenden Zeiten findet man bisweilen geschnittene Steine, denen es nicht ganz an Schönheit fehlet. Noch unerwarteter als dieses war mir eine Nachricht von der Geschiklichkeit die ein nordisches Volk von Slavischem Stamm, die Wenden, die ehemals in Pommern wohnten, in den zeichnenden Künsten besessen. In einem so eben herausgekommenen WerkA1 finde ich folgendes, das aus einer alten Lebensbeschreibung der Heil Otto Bischoffs von Bamberg, genommen ist. »Es waren in Stettin vier Tempel. Aber einer von diesen war mit bewundrungswürdiger Kunst und Zierlichkeit gebaut. Er hatte inwendig sowol, als auswendig Schnitzwerk, welches an den Wänden hervorragte und Menschen, Vögel und andre Thiere mit einer so genauen Nachahmung der Natur vorstellte, daß man fast glauben sollte, daß sie athmeten und lebten.« Der Geschichtschreiber der dieses erzählt, hatte die Sachen selbst gesehen, und war ein Mann, der den Kayserlichen Hof gesehen hatte, folglich kein verwerflicher Zeuge. (S. 290. und 291. des angezogenen Buches.)
16S. Baukunst 1. Th. S. 129. Dichtkunst S. 261. Geschnittene Steine, Bildhauerkunst.
17Plutarchus im Lykurgus.
18Strabo Lib. I.
19διδασκαλοσαν ἠϑη καμ παϑη, καμ πραξοσς
20Nullam majores nostri artem esse voluerunt, quae non aliquid reipublicae commodaret. Servius ad Aeneid. L. VI.
21Eine Menge hieher gehöriger Anekdoten hat Junius gesammelt. Man sehe besonders in seinem Werke de Pictura Veterum das XIII. Cap. des II. Buches.
22S. Baukunst 1 Th. S. 129. auch Musik.
23S. Temple Stanyan's Gesch. von Griechenl. III. Buch 3 Cap.
24Von dem Epaminondas.
25S. Aul. Gell.
26S. Opera.
27S. Littletons Todtengespräche.
28S. Artikel Aesthetik.
29In der Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindung, gegen Ende des Abschnitts, in welchem von den Empfindungen der äussern Sinnen gehandelt wird. Es müßte aus dieser Theorie hierzu vieles angeführet werden, um das, was von der verschiedenen Würksamkeit der Sinnen zu merken ist, verständlich oder einleuchtend zu machen, darum setze ich hier voraus, daß der, welcher das, was hier vorgetragen wird, völlig fassen will, die angeführte Stelle erst nachsehe.
30S. Artikel Kraft. Schön.
31S. Schauspiele.
32S. Art. Ged. S. 437, 438.
33S. Werke der Kunst.
A1 Thunmaus Untersuchungen über die Gesch. einiger nordischen Völker. Berlin, 1772. 8.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 609-625.
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