Anatomīe

[486] Anatomīe (griech., »Aufschneidung«, »Zergliederung«), die Lehre von Form und Bau der Tiere und Pflanzen (theoretische A.), dann die Untersuchung des Tier- u. Pflanzenkörpers selbst in Bezug auf Form und Bau (praktische A.), endlich das besondere Gebäude, wo diese Untersuchungen vorgenommen werden und Unterricht darin erteilt wird. Gewöhnlich braucht man A. nur für Zergliederung des menschlichen Körpers (Anthropotomie), während man die Zergliederung der Tiere Zootomie, die der Pflanzen Phytotomie nennt. Die theoretische A. zerfällt in die allgemeine und spezielle A. Die spezielle oder deskriptive A. hat die Darstellung der einzelnen Teile und Organe zum Gegenstand und zerfällt in sechs Abschnitte, nämlich in 1) Osteologie oder Lehre von den Knochen und Knorpeln; 2) Syndesmologie oder Bänderlehre, die Darstellung der Bänder, Haute etc., durch welche die Knochen namentlich in den Gelenken verbunden werden; 3) Myologie oder Muskellehre; 4) Angiologie oder Gefäßlehre; 5) Neurologie oder Nervenlehre, die Beschreibung des Nervensystems (Gehirns, Rückenmarks, der Sinneswerkzeuge etc.); 6) Splanchnologie oder Lehre von den Eingeweiden, d.h. den Atmungs-, Verdauungs-, Harn- und Geschlechtswerkzeugen. Mit den Elementen, welche die Organe und Gewebe zusammensetzen, beschäftigt sich die mikroskopische A. (Gewebelehre, Histologie). Die topographische (chirurgische) A. beschäftigt sich mit der Lage der Organe im Körper und zueinander. Diese, den gesunden Körper betreffenden Disziplinen stellt man als normale der pathologischen A. gegenüber, der Lehre vom Bau des kranken Körpers. Ihre Aufgabe ist es, die Unterschiede der erkrankten von gesunden Körperteilen festzustellen und aus den Veränderungen, welche diese erlitten, die Natur der Krankheit zu erkennen. Auch bei ihr spielt das mikroskopische Studium der Gewebe und ihrer Elementarteile wie bei der normalen Histologie eine wichtige Rolle.

Die vergleichende A. entsprang dem Bestreben, für das Verständnis des menschlichen Körpers durch das Studium zunächst der Säugetiere und sodann andrer Wirbeltiere weitere Anhaltspunkte zu gewinnen. Jetzt erstreckt sie sich über das gesamte Tierreich und stellt somit einen Teil der Zoologie dar. Sie hat es mit den ausgebildeten Tieren zu tun, im Gegensatze zur vergleichenden Entwickelungsgeschichte oder Embryologie im allgemeinen, die sich mit dem Entstehen der Tiere beschäftigt. Beide zusammen bezeichnet man wohl auch als Morphologie der Tiere.

In der anatomischen Technik, die sich aus der praktischen A. entwickelte, unterscheidet man gewöhnlich, namentlich mit Bezug auf den Menschen, die Sektionen und das Präparieren. Unter Sektion versteht man die kunstgerechte Öffnung der drei großen Höhlen des menschlichen Körpers, verbunden mit der Untersuchung der in ihnen befindlichen Eingeweide und Organe. Das Präparieren besteht in der kunstgerechten Bloßlegung und Trennung der einzelnen Teile voneinander, so daß sie ihrer Gestalt und Lage nach deutlich unterschieden werden können; man erhält auf diese Weise anatomische Präparate und stellt sie in den anatomischen Sammlungen oder Museen auf, formt sie auch wohl in Wachs, Gips etc. nach und bildet sie auf den anatomischen Tafeln ab. Zu großer Vollkommenheit hat sich in den letzten Jahrzehnten in der A. die Schneidetechnik erhoben, die entweder im großen (mittels der Gefriermethode) Schnitte durch den ganzen menschlichen Körper anzufertigen gestattet oder durch Anwendung geeigneter Instrumente (Mikrotome) einzelne Teile des Körpers auf sehr kunstvolle Weise in Reihen äußerst dünner Schnitte zu zerlegen erlaubt, die dann, entsprechend gefärbt und eingeschlossen, ein genaues Studium der Struktur dieser Teile gestatten. Gerade diese Technik hat sich für die Fortschritte der normalen und pathologischen A. sowie besonders auch der Entwickelungsgeschichte, als von größter Bedeutung erwiesen.

Die Geschichte der A. zeigt, daß die A. zuerst fast nur in den Händen der Priester und Ärzte lag. Menschen wurden nicht, sondern nur Tiere zergliedert. Darauf bezügliche Angaben finden sich denn auch bereits in Aristoteles' Naturgeschichte des Tierreichs. Die A. des menschlichen Körpers war nur sehr ungenau[486] bekannt. Hippokrates kannte zwar Knochen und Gelenke gut, verwechselte aber Sehnen mit Nerven und Arterien mit Venen. In der medizinischen Schule von Alexandria (320 v. Chr.) scheint die menschliche A. ihre erste Pflegestätte gefunden zu haben. Von Galenus (geb. 131 n. Chr.) ist es zweifelhaft, ob er Leichen sezierte. Erst von Mondini in Bologna ist dies bekannt (1306); Bonifacius VIII. belegte den Zergliederer einer Leiche mit dem Kirchenbann. Eine neue Epoche der A. beginnt mit Andreas Vesalius (geb. 1514; sein Werk »De corporis humani fabrica« erschien 1543), dem sich Fallopia (mit seinen »Observationes anatomicae«, 1561) und Eustachio (gest. 1574) würdig anreihten. Von größter Wichtigkeit war die Entdeckung des Kreislaufs des Blutes durch Harvey (1578–1657). Der erste, der das Vergrößerungsglas zu anatomischen Untersuchungen anwendete und so zum Schöpfer der mikroskopischen A. wurde, ist Marcello Malpighi (1628–94); ihm reihen sich würdig an die beiden Niederländer Leeuwenhoek (gest. 1723) und Swammerdam (gest. 1680). Als eigne Wissenschaft, d.h. nicht nur im Dienst der menschlichen A., wurde später auch die vergleichende A. geübt und erfuhr besondere Förderung durch die ins Leben tretenden gelehrten Gesellschaften (Royal Society in London, Académie des sciences in Paris). Besonders hervorzuheben ist der Name Albrecht v. Hallers (gest. 1777) und sein großes Werk »Elementa physiologiae«. Nach ihm sind zu nennen: J. F. Meckel (gest. 1774), Camper (gest. 1789), John Hunter (gest. 1793) und sein Bruder William, K. F. Wolff (gest. 1764), Wrisberg (gest. 1808), Mascagni (gest. 1815), Cuvier (gest. 1832), Reil (gest. 1813), Bichat (gest. 1802). Letzterer gilt mit Recht als Begründer der Histologie (Gewebelehre), die allerdings erst seit dem Auftreten der Zellentheorie (Schleiden und Schwann) sich zu ihrer jetzigen Höhe aufgeschwungen hat. Im 19. Jahrhundert sind als bedeutende Anatomen zu nennen: Sömmering, Scarpa, Hildebrandt, Rosenmüller, Langenbeck, Tiedemann, E. H. Weber, Meckel, Henle, Arnold, Reichert, Hyrtl, Luschka. Die beiden letztern haben auch auf dem Gebiete der chirurgischen A. viel geleistet, während diese Richtung bis dahin vorzugsweise von den Franzosen Portal, Velpeau, Malgaigne, Pétrequin, Richet mit Erfolg bearbeitet worden war. Vorzugsweise als Histologen waren oder sind noch tätig: Joh. Müller, Purkinje, Rud. Wagner, Gegenbaur, Kölliker, Gerlach, Max Schultze, Waldeyer, His, Frey, Robin, Ranvier, Beale, Harting. Die pathologische A. fand Berücksichtigung in den ersten Dezennien des vorigen Jahrhunderts vorzugsweise in Frankreich (Cruveilhier, Gendrin, Andral, Lobstein), seit 1840 jedoch in hervorragenderer Weise in Deutschland, wo namentlich Rokitansky in Wien und Virchow in Berlin sie gepflegt haben. Letzterer wandte zuerst die Zellenlehre auf sie an und wurde so der Schöpfer der Zellularpathologie. Von den Männern, die sich um vergleichende A. verdient gemacht haben, sind zu nennen: Cuvier, Et. Geoffroy Saint-Hilaire, Meckel, Bojanus, C. Garus, C. Rathke, R. Wagner, Bronn und vor allen Joh. Müller, H. Milne-Edwards, Leydig, Hyrtl, Siebold, R. Leuckart, O. Schmidt, Harting, Haeckel, Gegenbaur, Claus, H. Ludwig, Huxley, Owen.

[Literatur.] Quain, Elements of anatomy (10. Aufl. Lond. 1890 ff.); Rauber, Lehrbuch der A. des Menschen (Leipz. 1902, 2 Bde.); Henle, Handbuch der systematischen A. des Menschen (Braunschw. 1871, 4 Bde.); Derselbe, Grundriß (4. Aufl., das. 1901); Hyrtl, Lehrbuch der A. des Menschen (20. Aufl., Wien 1889); Gegenbaur, Lehrbuch der A. des Menschen (7. Aufl., Leipz. 1899); F. Merkel, Handbuch der topographischen A. (Braunschw. 1885–99, 2 Bde.); W. Krause, Handbuch der A. des Menschen. Auf Grundlage der neuen Baseler Nomenklatur (Leipz. 1898 ff.); »Handbuch der A. des Menschen« (hrsg. von Bardeleben, Jena 1896 ff., 8 Bde.); Brösike, Lehrbuch der normalen A. des menschlichen Körpers (6. Aufl., Berl. 1899); Cuvier, Leçons d'anatomie comparée (2. Aufl., Par. 1836–46, 9 Bde.); Owen, On the anatomy of Vertebrates (Lond. 1866–68, 3 Bde.); Gegenbaur, Vergleichende A. der Wirbeltiere (Leipz. 1898–1901, 2 Bde.); A. Lang, Lehrbuch der vergleichenden A. der wirbellosen Tiere (2. Aufl., Jena 1900 ff.); Hatschek, Lehrbuch der Zoologie (das. 1888 ff.); Milne-Edwards, Leçons für la physiologie et l'anatomie comparée de l'homme et des animaux (Par. 1857–83, 14 Bde.); Vogt und Yung, Lehrbuch der praktischen vergleichenden A. (Braunschw. 1886–94, 2 Bde.); Huxley, Grundzüge der A. der wirbellosen Tiere (deutsch, Leipz. 1878); Wiedersheim, Lehrbuch der vergleichenden A. der Wirbeltiere (2. Aufl., Jena 1886; »Grundriß«, 5. Aufl. 1902); Martin, Lehrbuch der A. der Haustiere (Stuttg. 1901 ff.); Leisering, Müller und Ellenberger, Handbuch der vergleichenden A. der Haussäugetiere (9. Aufl., Berl. 1900); Süßdorf, Lehrbuch der vergleichenden A. der Haustiere (Stuttg. 1895); Chauveau, Traité d'anatomie comparé des animaux domestiques (4. Aufl., Par. 1889).

Atlanten: Froriep, Atlas anatomicus (7. Aufl. Leipz. 1887); Heitzmann, Deskriptive und topographische A. des Menschen (8. Aufl., Wien 1896); Bardeleben und H. Haeckel, Atlas der topographischen A. des Menschen (2. Aufl., Jena 1901); Henle, Anatomischer Handatlas (Braunschw. 1895); Spalteholz, Handatlas der A. des Menschen (Bd. 1 u. 2 in 3. Aufl., Leipz. 1901; Bd. 3 in 2. Aufl. 1901); Brösike, Anatomischer Atlas (Berl. 1900 ff.); »Atlas der normalen und pathologischen A. in typischen Röntgenbildern« (Hamb. 1900 ff.). – Zeitschriften s. bei »Zoologie«.

A. für Künstler: Harleß, Lehrbuch der plastischen A. (2. Aufl. von Rob. Hartmann, Stuttg. 1876); Roth, Plastisch-anatomischer Atlas zum Studium des Modells und der Antike (3. Aufl., das. 1893); Froriep, A. für Künstler (3. Aufl., Leipz. 1899); Kollmann, Plastische A. des menschlichen Körpers (2. Aufl., das. 1901); Duval, A. artistique (Par. 1881; deutsch, Stuttg. 1890); Brücke, Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt (2. Aufl., Wien 1893); Schider, Plastisch-anatomischer Handatlas (das. 1898); Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers (11. Aufl., Stuttg. 1902); Ellenberger, Baum und Dittrich, Handbuch der A. der Tiere für Künstler (Leipz. 1898–1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1905, S. 486-487.
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