Wolzogen

[745] Wolzogen, altadliges Geschlecht, das früher in Tirol und Niederösterreich ansässig war und sich zu Anfang des Dreißigjährigen Krieges in Franken und Brandenburg, Schlesien und Obersachsen niederließ. Die Familie teilte sich seit dem 16. Jahrh. in die Neuhausische und Mißingdorfsche Linie. Jene ward 1607 in den österreichischen, 1702 in den Reichsfreiherrenstand erhoben; die jüngere erlosch um 1700. Der letztern gehörten an der als Sozinianer berühmte Johann Ludwig von W., geb. 1596, gest. 1658 zu Schlichtenheim in Polen, und Ludwig von W., geb. 1632, gest. 1690 als arminianischer Professor der Kirchengeschichte zu Utrecht. Hans Christoph von W., aus der ältern Linie, geb. 1666, Premierminister des Herzogs Christian von Sachsen-Weißenfels, gest. 1734, hatte zwei Söhne, die zwei Linien gründeten, von denen die jüngere Linie, W. und Neuhaus, in mehreren Zweigen noch blüht. Vgl. A. v. Wolzogen, Geschichte des reichsfreiherrlichen v. Wolzogenschen Geschlechts (Leipz. 1859, 2 Bde.). Der jüngern Linie gehörten an:

1) Karoline von, geborne von Lengefeld, Schriftstellerin, geb. 3. Febr. 1763 in Rudolstadt, gest. 11. Jan. 1847 in Jena, genoß eine treffliche Erziehung und wurde bereits in ihrem 16. Jahr an den Rudolstädter Geheimrat v. Beulwitz verheiratet, lebte aber mit ihrem Gatten im Haus ihrer Mutter. Im Spätherbst 1787 kam Schiller nach Rudolstadt und war nun ein regelmäßiger Gast der Familie, der er durch die Verlobung mit der jüngern Schwester, Charlotte, noch näher trat (vgl. »Schiller und Lotte«, Stuttg. 1856 u. ö., worin auch der Briefwechsel Karolines mit Schiller enthalten ist). Im August 1796 verheiratete sich Karoline nach ihrer Scheidung von Beulwitz mit dem weimarischen Oberhofmeister Wilhelm v. W. (geb. 1762, gest. 1809), einem Jugendfreund Schillers von der Karlsschule her. Als Dichterin trat sie zuerst anonym mit dem Roman »Agnes von Lilien« (Berl. 1798, 2 Bde.; neue Ausg., Stuttg. 1881) auf, der damals von manchen für ein Werk Goethes gehalten wurde. Als Wilhelm v W. 1804 zum Geheimrat und Mitglied des Ministeriums ernannt wurde, trat Karoline in nähere Beziehungen zu dem weimarischen Hof; nach dem Tode ihres einzigen Sohnes aus zweiter Ehe (1825) siedelte sie nach Jena über. Hier schrieb sie: »Erzählungen« (Stuttg. 1826–27, 2 Bde.), den Roman »Cordelia« (Leipz. 1840, 2 Bde.) und ihr Hauptwerk, »Schillers Leben, verfaßt aus den Erinnerungen der Familie, seinen eignen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner« (Stuttg. 1830, 2 Bde.; zuletzt 1903), ausgezeichnet durch Treue, Reichhaltigkeit und liebevolle Wärme der Darstellung. Ihr »Literarischer Nachlaß« erschien in Leipzig 1848 bis 1849, 2 Bde. (2 Aufl. 1867).

2) Ludwig Julius Adolf Friedrich, Freiherr von, geb. 4. Febr. 1773 in Meiningen, gest. 4. Juli 1845 in Berlin, Schwager der vorigen, besuchte 1781 die Karlsschule in Stuttgart, trat 1792 als Leutnant in württembergische und 1794 in preußische Dienste, wurde 1802 Erzieher des ältesten Sohnes des Herzogs Eugen von Württemberg, 1805 württembergischer Major, Flügeladjutant und Kammerherr. Obgleich W. 1806 Oberstleutnant und Kommandeur der Garde zu Fuß geworden, trat W. doch 1807 abermals in preußische, nach dem Tilsiter Frieden in russische Dienste. An der Organisation der deutschen Heere 1813 beteiligt und dem Kaiser Alexander nahestehend, wurde er Chef des Generalstabs des 3. Korps beim Zug in die Niederlande. Während des Wiener Kongresses trat W. wieder in preußische Dienste, überwachte die militärische Erziehung der preußischen Prinzen, wurde 1818 preußischer Militärkommissar bei der deutschen Bundesversammlung und trat 1836 als General der Infanterie in den Ruhestand. Die aus seinem Nachlaß von seinem Sohn (s. unten) veröffentlichten »Memoiren« (Leipz. 1851) bieten interessante Aufschlüsse über die Zeitgeschichte.

3) Alfred, Freiherr von, Schriftsteller, ältester Sohn des vorigen, geb. 27. Mai 1823 in Frankfurt a. M., gest. 13. Jan. 1883 in San Remo, studierte seit 1841 Rechtswissenschaft in Berlin und Heidelberg, trat 1844 in den Staatsdienst, arbeitete als Regierungsassessor im Ministerium des Innern und wurde 1854 an die Regierung nach Breslau versetzt, wo er 1863 zum Regierungsrat aufrückte. Seit 1868 lebte er als Hoftheaterintendant in Schwerin. W. gab 1851 die »Memoiren« seines Vaters heraus; später veröffentlichte er: »Fr. v. Schillers Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und der Familie von W.« (Stuttg. 1859) und »Aus Schinkels Nachlaß« (Berl. 1862–1864, 4 Bde.). Von seinen eignen Schriften sind zu nennen: »Preußens Staatsverwaltung mit Rücksicht auf seine Verfassung« (Berl. 1854), »Reise nach Spanien« (Leipz. 1857), »Geschichte des reichsfreiherrlich v. Wolzogenschen Geschlechts« (das. 1859, 2 Bde.), »Über Theater und Musik« (Bresl. 1860), »Über die szenische Darstellung von Mozarts ›Don Giovanni‹« (das. 1860), »Wilhelmine Schröder-Devrient« (Leipz. 1863), »Schinkel als Architekt, Maler und Kunstphilosoph« (Berl. 1864), »Rafael Santi« (Leipz. 1865), »Peter v. Cornelius« (Berl. 1867) u. a. Als Dichter versuchte er sich in dem Lustspiel »Nur kein Ridicul« (Berl. 1864), den (gemeinsam mit Ludw. Alb. v. Winterfeld verfaßten) Dramen: »Blanche«, »Sophia Dorothea« und »Fürstin Orsini« (»Dramatische Werke«, Leipz. 1866), einer Bühnenbearbeitung von Kalidasas »Sakuntala« (Schwerin 1869) u. a. Seine Biographie schrieb sein Sohn Haus v. W. (Rostock 1883).

4) Hans von, Schriftsteller, Sohn des vorigen, geb. 13. Nov. 1848 in Potsdam, studierte bis 1871 Philosophie und Philologie, widmete sich dann der[745] literarischen Tätigkeit und ließ sich als Redakteur der von Richard Wagner gegründeten »Bayreuther Blätter« in Bayreuth nieder, deren Herausgabe er noch jetzt besorgt. Er veröffentlichte Übertragungen des »Armen Heinrich« von Hartmann von Aue, des »Beowulf« und der »Edda« und schrieb: »Der Nibelungenmythos in Sage und Literatur« (Berl. 1876), »Über Verrottung und Errettung der deutschen Sprache« (Leipz. 1880, 3. Aufl. 1890) und zahlreiche Aufsätze über deutsche Sprache und Schrift (gesammelt als »Kleine Schriften«, Bd. 1, das. 1886). Für die Wagnersche Kunstrichtung war er auch tätig in den wiederholt ausgelegten »Thematischen Leitfaden« durch die Musik zum »Ring des Nibelungen«, zu »Tristan und Isolde« und zu »Parsifal«, in den »Erläuterungen zu R. Wagners Nibelungendrama« (4. Aufl., Leipz. 1878) und andern Schriften, wie »Poetische Lautsymbolik« (das. 1876, 3. Aufl. 1897), »Die Tragödie in Bayreuth und ihr Satyrspiel« (5. Aufl., das. 1881), »Die Sprache in R. Wagners Dichtungen« (das. 1878, 3. Aufl. 1889), »Richard Wagners Tristan und Isolde« (das. 1880), »Was ist Stil? was will Wagner?« (3. Aufl., das. 1889), »Unsre Zeit und unsre Kunst« (das. 1881), »Die Religion des Mitleidens« (das. 1882), »R. Wagners Heldengestalten erläutert« (u. Aufl., das. 1886), »Rich. Wagner und die Tierwelt« (das. 1890), »Erinnerungen an Richard Wagner« (in Reclams Universal-Bibliothek), »Wagnerianer-Spiegel« (Hannov. 1891), durch zahlreiche Artikel in Zeitschriften, die zum Teil als »Wagneriana« (Leipz. 1888) gesammelt erschienen, durch das »Wagner-Brevier« (Berl. 1904), »Bayreuth« (das. 1904), die Monographie »R. Wagner« in der Sammlung »Die Dichtung« (das. 1905) und »Aus Richard Wagners Geisteswelt« (das. 1908). Er gab auch die Briefe Wagners an seine erste Gattin heraus (»Richard Wagner an Minna Wagner«, Berl. 1908). Von seinen eignen Dichtungen nennen wir die dramatische Sage »Das Veverl vom Walchensee« (Berl. 1902). Er verfaßte ferner Essays in der »Deutschen Bücherei« über E. T. A. Hoffmann und Richard Wagner (Berl. 1906) und F. Raimund (das. 1907), veröffentlichte u. d. T.: »Raabenweisheit« eine Zusammenstellung aus W. Raabes Schriften (das. 1901), ferner »Aus deutscher Welt. Gesammelte Aufsätze über deutsche Art und Kultur« (das. 1905), »Musikalisch-dramatische Parallelen. Beiträge zur Erkenntnis von der Musik als Ausdruck« (Leipz. 1906) und »Von deutscher Kunst« (Berl. 1906). Auch besorgte er deutsche Übertragungen von Schurés Werk »Das musikalische Drama« (3. Aufl., Leipz. 1888), von Euripides' »Bacchantinnen« und von Äschylos' »Tragödien« (bei Reclam).

5) Ernst, Freiherr von, Schriftsteller, Stiefbruder des vorigen, geb. 23. April 1855 in Breslau, wurde bis zum Tode seiner Mutter (1863), einer Engländerin, ganz als Engländer erzogen, studierte 1876 bis 1879 in Straßburg und Leipzig deutsche Literatur, Philosophie und Kunstgeschichte und verlebte hierauf mehrere Jahre in Weimar. 1882 ließ er sich in Berlin, später in München nieder, jetzt hat er seinen Wohnsitz in Darmstadt. W. hat sich besonders als munterer, leichtflüssiger Erzähler, der in maßvoller Weise der modernen realistischen Richtung Rechnung trägt, und auch als Lustspieldichter vorteilhaft bekannt gemacht. Es erschienen von ihm die (teilweise oft ausgelegten) Erzählungen und Romane: »Um 13 Uhr in der Christnacht« (Leipz. 1879), »Immakulata« (das. 1881), »Der Mieter des Herrn Thaddäus« (das. 1886), »Heiteres und Weiteres« (Stuttg. 1886), »Basilla«, ein »Thüringer Roman« (das. 1887), »Die rote Franz« (Berl. 1888), »Er photographiert«, Humoreske (das. 1890), »Erlebtes, Erlauschtes und Erlogenes« (das. 1892), »Die Entgleisten« (das. 1894), »Das gute Krokodil und andre Geschichten« (das. 1893), »Fahnenflucht« (das. 1894), »Ecce Ego. Erst komme ich« (das. 1895), »Die Gloriahose« (das. 1897), »Geschichten von lieben süßen Mädeln« (das. 1897), »Vom Peperl und andern Raritäten« (Münch. 1897), »Das Wunderbare« (Berl. 1898), »Das dritte Geschlecht« (das. 1899, 150. Tausend 1903), »Was Onkel Oskar mit seiner Schwiegermutter in Amerika passierte« (das. 1904), »Seltsame Geschichten« (das. 1906), »Der Topf der Danaiden« (das. 1906), »Der Bibelhase« (Stuttg. 1908); ferner (seit 1888) in »Engelhorns Romanbibliothek«: »Die Kinder der Exzellenz«, »Die tolle Komtesse«, »Die kühle Blonde«, »Blau-Blut« (3 Bde.), »Die Erbschleicherinnen«, »Der Thronfolger«, »Der Kraft-Mayr«, ein humoristischer Musikantenroman, dem Andenken Franz Liszts gewidmet (1897, 2 Bde.; als Lustspiel bearbeitet mit E. Haller, Berl. 1906) und »Die arme Sünderin« (1901, 2 Bde.). Auf dramatischem Gebiete schrieb W. das Festspiel: »Das Gastgeschenk der Phantasie« (1882), die Lustspiele: »Der letzte Zopf« (1884), »Die Kinder der Exzellenz« (mit W. Schumann, 1890), »Das Lumpengesindel«, Tragikomödie (Berl. 1892, 2. Aufl. 1902), »Ein unbeschriebenes Blatt« (1896), »Unjamwewe« (1897), die Schauspiele: »Daniela Weert« (Berl. 1894), »Der Bastard« (1903); die Operntexte: »Feuersnot« (Berl. 1901, 9. Aufl. 1902; in Musik gesetzt von Richard Strauß), »Die bösen Buben von Sevilla« (1903) und »Die Bäder von Lucca« (1903, nach Heine). Seine Gedichte veröffentlichte W. u. d. T.: »Verse aus meinem Leben« (Berl. 1907); mit seiner Gattin Elsa, geborne Seemann (geb. 5. Aug. 1876 in Dresden), verfaßte er das »Eheliche Andichtbüchlein« (das. 1903). Außerdem veröffentlichte W. noch biographisch-kritische Studien: »George Eliot«, »Wilkie Collins« (beide Leipz. 1885), die Flugschrift: »Linksum kehrt schwenkt-Trab. Ein ernstes Mahnwort an die herrschenden Klassen« (1.–4. Aufl., Berl. 1895), »Ansichten und Aussichten. Gesammelte Studien über Musik, Literatur und Theater« (das. 1908) und gab die »Eigene Lebensbeschreibung des schlesischen Ritters Hans von Schweinichen« (Leipz. 1885; 2. Aufl., Berl. 1907) heraus. Ende der 1890er Jahre schuf W. das sogen. Überbrettl (s. d.) und veranstaltete Aufführungen in zahlreichen deutschen Städten; auch setzt er sie noch jetzt als musikalisch-deklamatorische Unterhaltungen fort, wobei ihn seine Gattin durch ihren eindrucksvollen Vortrag von Liedern zur Laute unterstützt.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 745-746.
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